Der EU-Gipfel von Helsinki

Europa will Weltmacht werden

Das Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs am vergangenen Wochenende in Helsinki hat eines sehr deutlich gemacht: Die führenden Nationen in Europa wollen künftig wieder als starke Akteure in der Weltpolitik mitspielen. Ein unipolares Weltsystem unter der Vorherrschaft der USA wollen sie nicht akzeptieren. Europa soll Weltmacht werden. Wichtige Weichen dazu wurden in der finnischen Hauptstadt gestellt.

Betrachtet man die Erklärungen und Ergebnisse des EU-Gipfels, so springt ins Auge, dass diese multinationale Versammlung als großer Erfolg und wichtiger Schritt vorwärts gefeiert wird, während nur gerade eine Woche zuvor ein anderes multinationales Treffen, das der Welthandelsorganisation (WTO), kläglich gescheitert ist.

Während die europäischen Mächte in Seattle nicht Willens und in der Lage waren, sich den Vorstellungen der USA unterzuordnen, schmieden sie in Europa nun eine Gemeinschaft, die sich in ökonomischer und militärischer Hinsicht gegen die globale Vorherrschaft der USA richtet. Was sich hier widerspiegelt, ist eine zunehmende Polarisierung zwischen den USA und Europa, die für die politischen Entwicklungen des kommenden 21. Jahrhunderts grundlegend sein wird.

Zwei Themen standen im Vordergrund des Gipfeltreffens. Zum einen die Militärstruktur der Europäischen Union, zum anderen die EU-Erweiterung und insbesondere die Aufnahme der Türkei als Beitrittskandidat. Beide Aspekte sind im Grunde genommen nur zwei Seiten der selben Medaille. Die EU-Mitgliedschaft der Türkei steht in engem Zusammenhang mit der Etablierung Europas als maßgeblicher Akteur in einer globalisierten Weltwirtschaft. Den militärischen Fragen kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu.

Der Gipfel beschloss die Aufstellung einer 50.000 bis 60.000 Mann starken europäischen Eingreiftruppe, die in europäischen Krisengebieten zum Einsatz kommen soll. Sie setzt sich aus Teilen der nationalen Streitkräfte zusammen. Es soll vorerst keine ausschließlich europäische Armee geben.

US-Außenminister Cohen hatte die europäischen Regierungen erst kürzlich vor dem Versuch gewarnt, eine eigene Militärmacht außerhalb der Nato-Strukturen aufzubauen. Der Beschluss von Helsinki ist aber weniger eine Grundsatzentscheidung gegen eine europäische Armee, als vielmehr ein vorsichtiger erster Schritt in diese Richtung, bestimmt von konkreten politischen und taktischen Gesichtspunkten. Die Spannungen zwischen der EU und den USA werden also keineswegs geringer werden.

Die Aufstellung einer europäischen Eingreiftruppe signalisiert den Einstieg in eine militärische Gemeinschaft. Die Möglichkeit von den USA unabhängiger "friedensschaffender" und "friedensbewahrender" Einsätze dient als Mittel zur Sicherung von Interessen- und Einflusssphären, wie ihre Anwendung im Kosovo zeigt.

Der Vertreter der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, formulierte in einer Presseerklärung vom 18. Oktober deutlich die Bedeutung einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik als Instrument zur Durchsetzung europäischer Interessen: "Die Zeit drängt. Die Union des 21. Jahrhunderts wird über eine einzige Währung verfügen. Sie sollte auch eine wirksame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreiben. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben diese Notwendigkeit bestätigt... Die Europäische Union ist bereits ein ‚Global player‘ auf der Weltbühne. Europa spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der wichtigsten handelspolitischen Maßnahmen, finanziellen Trends und währungspolitischen Entscheidungen. Es ist nun wirklich an der Zeit, dass Europa als globale Macht eine aktivere und einflussreichere Rolle spielt... Europa muss fähig und willens sein, seine gemeinsamen Interessen zu bestimmen. Europa muss entschlossen sein, diese Interessen weltweit geltend zu machen."

Dass solche strategischen Überlegungen im politischen Establishment hinter den offiziellen Beschlüssen stehen, wird mittlerweile immer deutlicher. Sie sind keine Ausnahme.

Ebenfalls am 18. Oktober wurde von einer Gruppe renommierter europäischer Persönlichkeiten ein "Bericht an die Europäische Kommission über die institutionellen Auswirkungen der Erweiterung" veröffentlicht. Darin heißt es: "Eine erweiterte Europäische Union wird daher noch mehr als bisher die Fähigkeit und hoffentlich auch den Willen haben, in einer globalisierten Wirtschaft eine maßgebende Rolle zu spielen. Das muss eines ihrer Hauptziele sein."

Im Hinblick auf die gemeinsame "Sicherheits- und Verteidigungspolitik" - "Konfliktverhütung" und "Krisenbewältigung" - müsse "die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf ein glaubwürdiges militärisches Potential, besitzen". Die Frage der europäischen Verteidigungspolitik sei "von grundlegender Bedeutung für die Zukunft Europas und die Weiterentwicklung der Europäischen Union".

Verfasser der Erklärung, die vom designierten Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi erbeten worden war, sind der ehemalige belgische Premierminister Dehaene, der ehemaliger Vorsitzende von British Petroleum, David Simon, und der ehemalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der in Deutschland die sogenannte Zukunftskommission zur Umstrukturierung der Bundeswehr leitet.

Tacheles spricht auch die österreichische Tageszeitung Der Standard. In einem Kommentar vom Montag heißt es unter der Überschrift "Ordnungsmacht Europa": "Der EU-Gipfel von Helsinki und die gesamte finnische Ratspräsidentschaft markieren... eine Wende. Zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, in dem die Nato die eine mächtige außen- und sicherheitspolitische Klammer war und der Warschauer Pakt die andere, ist die Zeit gekommen, eine neue Ordnung auf dem Alten Kontinent... umzusetzen. Nach der Einführung des Euro verschiebt sich dabei das Hauptaugenmerk nun zwangsläufig auf die Schaffung der politischen wie auch militärischen Union... Die Union kann nicht länger vor der Anforderung davonlaufen, ihren außen- und sicherheitspolitischen Stellenwert zu definieren und sich dafür geeignete Instrumente zu schaffen."

Das zweite dominierende Thema des Gipfels - die Erhebung der Türkei in den Status eines Mitgliedskandidaten - ist gleichfalls Ausdruck wachender transatlantischer Spannungen und handfester geostrategischer Interessen.

Die Bemühungen des EU-Gipfels um eine Aufnahme der Türkei deuten in diese Richtung. Die Erklärung des EU-Kommissars für Erweiterung, des deutschen Sozialdemokraten Günter Verheugen, dass die Türkei keinen Sonderstatus einnehme, sondern regulär Kandidat wie andere auch sei, kann auch dahingehend verstanden werden, dass die Frage der Menschenrechte und des Zypernkonfliktes mit Griechenland einem Beitritt in die EU nicht mehr grundsätzlich im Wege stehen.

Für die führenden europäischen Mächte geht es schließlich um viel. Die Türkei spielt eine wichtige Rolle im Interessenkonflikt Europas mit den USA. Alexander Rahr, ein Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die für die Bundesregierung beratende Funktion hat, äußerte sich zu Beginn des EU-Gipfels im Fernsehsender Phoenix in diesem Sinne.

Rahr erklärte, die USA wollten ihren "Sicherheitsschirm über Europa" inklusive "kaspischer Region ausdehnen". Die Türkei nehme "geostrategisch eine Schlüsselposition" als "Zugang zur kaspischen Region" ein. Diese strategische Bedeutung müsse stärker in die europäischen Überlegungen einfließen, betonte er.

Alexander Rahr ist Leiter der Körber-Arbeitsstelle Russland/GUS, einer gemeinsamen Einrichtung der Körber Stiftung Hamburg und des Forschungsinstituts der DGAP. Seine Fachgebiete bei der DGAP sind u.a. die GUS, Zentralasien, Kaukasus, Außen-, Sicherheits- und wirtschaftliche Aspekte, Nato und EU.

Angesichts dieser Überlegungen wird sehr deutlich, dass es in Europa nicht um viel beschworene Werte und gemeinsame Rechte geht. Die EU soll eine Wirtschaftsmacht werden, die den Interessen ihrer herrschenden Klasse weltweit auch mit militärischen Mitteln Geltung verschaffen kann. Ein Zusammenstoß mit der Hegemonialmacht USA ist dabei unausweichlich.

Siehe auch:
Helsinki summit marks aggressive turn by Europe (demnächst auch in deutscher Übersetzung)
(14. Dezember 1999)
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