Eine Woche nach Beginn der Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan eskalierte das Blutvergießen am Wochenende. Beide Seiten beschossen die Städte der jeweils anderen Seite. Zwischen den beiden Ländern war es bereits 1988, im Vorfeld der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion 1991, zu einem Krieg um die umstrittene Enklave Bergkarabach gekommen, der bis 1994 andauerte. Der erneute Krieg zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken könnte die ganze Region hineinziehen.
Nicht nur Russland und die Türkei, die wichtigsten regionalen Unterstützer von Armenien bzw. Aserbaidschan, könnten in diesen Krieg hineingezogen werden. Er droht außerdem die Spaltungen innerhalb der Nato zu verschärfen. In Frankreich mehren sich die Forderungen nach einer aggressiveren Unterstützung für Armenien. Frankreich führt in Libyen bereits einen Stellvertreterkrieg gegen Kräfte, die von der Türkei unterstützt werden, und es verteidigt die griechischen Seegebietsansprüche gegen die Türkei im Mittelmeer.
Mehrere Städte in Bergkarabach, die seit 1994 von armenischen Truppen besetzt sind, wurden von aserbaidschanischen Truppen mit Artillerie beschossen, um sie zurückzuerobern. Daneben meldeten aserbaidschanische Truppen ebenfalls die Eroberung mehrerer Dörfer.
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew schrieb auf Twitter: „Heute hat die aserbaidschanische Armee das Dorf Talisch in der Region Terter befreit; ferner die Dörfer Mehdili, Tschachyrly, Aschagi Maraljan, Schaibey und Guidschag in der Region Jebrail, und das Dorf Aschagi Abdurrahmanli in der Region Fisuli. Karabach gehört zu Aserbaidschan.“
Am 2. Oktober meldeten armenische Behörden, aserbaidschanische Kräfte hätten eine LORA-Rakete aus israelischer Produktion auf die Straße zwischen Armenien und Bergkarabach abgefeuert.
Am Sonntag bombardierten armenische Streitkräfte Ganja, die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans nach Baku. Sie erklärten, das Risiko ziviler Opfer würde sie nicht abschrecken. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium berichtete, in Ganja seien „durch feindlichen Beschuss Zivilisten verletzt und zivile Infrastruktur sowie antike historische Gebäude beschädigt worden“.
Arajik Harutjunjan, der Regierungschef von Arzach, wie die Region Bergkarabach auf Armenisch heißt, kündigte als Vergeltungsmaßnahmen für Angriffe auf seine Hauptstadt Stepanakert Luftangriffe auf aserbaidschanische Städte an: „Die Terroristen der aserbaidschanischen Armee töten in Stepanakert Zivilisten mit Polonez- und Smertsch-Waffensystemen. Ab jetzt wird die Verteidigungsarmee von Arzach militärische Ziele in aserbaidschanischen Städten angreifen. Wir rufen die aserbaidschanische Bevölkerung auf, diese Städte zu verlassen, um unausweichliche Verluste zu vermeiden.“
Die Zahl der zivilen und militärischen Todesopfer steigt rapide an. Laut offiziellen Berichten wurden am Wochenende in Aserbaidschan 21 Zivilisten getötet, und 13 in Armenien. Die militärische Lage ist weiterhin unklar. Die armenischen Streitkräfte in Bergkarabach meldeten am Sonntag den Tod von 51 Soldaten; die aserbaidschanischen Streitkräfte haben ihre militärischen Verluste nicht gemeldet.
Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan erklärte am Samstag in einer Fernsehansprache: „Bisher gab es bereits beträchtliche Verluste an Soldaten und Zivilisten, große Teile des Kriegsgeräts sind nicht mehr einsatzfähig. Der Gegner war jedoch noch immer nicht in der Lage, seine strategischen Probleme zu lösen.“
Auch in der iranischen Provinz Ost-Aserbaidschan kam es zu Zerstörungen durch armenischen und aserbaidschanischen Mörserbeschuss, u.a. zu einem Stromausfall in Khodafarin. Der Sprecher des iranischen Außenministeriums, Saeed Khatibzadeh, warnte alle Seiten vor Übergriffen auf das Hoheitsgebiet des Irans und forderte eine Verhandlungslösung.
In diesem Krieg kommen die reaktionären Folgen des ethnischen Nationalismus, den die Sowjetbürokratie im Vorfeld der Wiedereinführung des Kapitalismus 1991 propagiert hatte, mit den gefährlichen geopolitischen Spannungen zusammen, die die US-geführten Kriege in der Region in den letzten drei Jahrzehnten ausgelöst haben. Die USA, Frankreich und Russland hatten in der postsowjetischen Zeit Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan und Diskussionen mit der Türkei ausgehandelt. Angesichts der blutigen Stellvertreterkriege in der Region, u.a. in Libyen, Syrien und dem Irak, sind die Beziehungen zwischen diesen Mächten jedoch mittlerweile zusammengebrochen.
Die europäischen Mächte und Russland haben wiederholt, aber vergebens, zur Deeskalation aufgerufen. Am Freitagabend äußerte der italienische Außenminister Luigi Di Maio „Besorgnis angesichts der Zusammenstöße und der Gefahr einer militärischen Eskalation“. Später gab der Pariser Élysée-Palast bekannt, Präsident Emmanuel Macron habe Alijew und Paschinjan telefonisch zu Verhandlungen aufgefordert: „Er bekräftigte die Forderung nach einer Waffenruhe und forderte dazu auf, einen Prozess und eine Methode zu entwickeln, die zur Rückkehr zu Verhandlungen führen wird. [...] Die Arbeit beginnt noch an diesem Abend.“
Doch die dramatische Eskalation der Kämpfe am Wochenende hat jede „Arbeit“ an Verhandlungen, die Paris vorgeschwebt haben mag, zu einem abrupten Ende gebracht.
Ulrike Demmer, Sprecherin der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, erklärte am Sonntag, Merkel habe Paschinjan angerufen, um zu betonen, dass alle Parteien ihre Kämpfe sofort einstellen und Verhandlungen aufnehmen müssten.
Die türkische Regierung hat jeden Waffenstillstand abgelehnt und angekündigt, sie werde die Ansprüche Aserbaidschans auf die Region Bergkarabach weiterhin unterstützen. Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte hatte, die Unterstützung der Türkei für Baku sei Teil einer allgemeinen Verteidigung der „Unterdrückten“ im Kaukasus, erklärte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gegenüber der italienischen Tageszeitung La Stampa: „Oberflächliche Forderungen nach einem sofortigen Ende der Kampfhandlungen und ein dauerhafter Waffenstillstand werden diesmal nichts bringen.“
Die geopolitischen Spannungen verschärfen sich dramatisch, vor allem angesichts der zunehmenden US-Kriegsdrohungen gegen den Iran. Laut mehreren Berichten schicken vom CIA unterstützte syrische Islamistenmilizen Truppen durch die Türkei nach Aserbaidschan an die Grenze zum Iran und Russland, was eine erhebliche neue Eskalation der regionalen Spannungen darstellt. Washington ist außerdem verärgert über Chinas zunehmende Handelsbeziehungen in der Region und hat vor kurzem mit dem Iran verbündete Kräfte im Irak bombardiert.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Bezeichnenderweise hat Washington öffentlich nur wenig unternommen, um den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan zu unterbinden. Die USA leisten zwar Militärhilfe in Millionenhöhe an beide Länder, haben jedoch die Militärhilfe für Aserbaidschan letztes Jahr im Rahmen ihrer Kriegspläne gegen den Iran deutlich erhöht. Aserbaidschan erhielt 100 Millionen Dollar, um seine Marinesicherung gegen den Iran auszubauen, während die Militärhilfe für Armenien weiterhin 4,2 Millionen Dollar betrug. Aserbaidschan hat große Mengen an israelischen Drohnen vom Typ SkyStriker gekauft, die laut der Jerusalem Post bei den jüngsten Kämpfen zum Einsatz kamen.
In internationalen Diplomatenkreisen wird darüber spekuliert, dass einige US-Regierungsvertreter glauben, Armenien stehe dem Iran und Russland zu nahe. Der russische Analyst Pawel Felgenhauer erklärte letztes Jahr während einer Diskussion auf Eurasianet.org über die US-Militärhilfe für Aserbaidschan: „Die amerikanisch-iranischen Beziehungen haben sich rapide verschlechtert. Deshalb befindet sich Aserbaidschan im Blickfeld Washingtons, Armenien jedoch nicht. Armenien wird möglicherweise als Verbündeter des Iran gesehen.“
Unter diesen Bedingungen fühlte sich die türkische Regierung offenbar dazu ermutigt, die Forderung nach Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zurückzuweisen und die Warnungen Russlands und der Europäischen Union zu ignorieren.
In Frankreich, das in Libyen und dem Mittelmeer bereits kurz vor offenen Zusammenstößen mit der Türkei steht, mehren sich die Forderungen nach einer aggressiveren Politik. Am Sonntag forderten 173 französische Abgeordnete, die meisten davon aus südfranzösischen Regionen mit großen armenischen Minderheiten, Paris dazu auf, seine „absolut unhaltbare Neutralität aufzugeben“. Sie erklärten, das Ziel der aserbaidschanischen Offensive sei es, „die armenische Bevölkerung aus der Region zu vertreiben.“
Zuvor hatte die rechte französische Tageszeitung Le Figaro ein langes Interview mit Paschinjan veröffentlicht. Der armenische Ministerpräsident erklärt, Aserbaidschan „setzt Drohnen und türkische F-16-Kampfflugzeuge ein, um zivile Gebiete in Bergkarabach zu bombardieren [...] türkische Militärkommandanten sind direkt an dem Konflikt beteiligt.“
Paschinjan warf aserbaidschanischen und türkischen Kräften provokanter Weise vor, sie würden einen Völkermord planen: „Die Situation ist diesmal viel ernster [als bei früheren Grenzzusammenstößen]. Sie ist eher mit den Ereignissen von 1915 vergleichbar, als im ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts mehr als 1,5 Millionen Armenier ermordet wurden.“ Paschinjan meinte damit den Massenmord an Armeniern in der Türkei während des Ersten Weltkriegs. Er fügte hinzu: „Der türkische Staat, der die Vergangenheit weiterhin leugnet, begibt sich erneut auf den Weg des Völkermords.“
Der Kampf gegen Krieg und ethnische Säuberung ist jedoch nicht möglich durch die Unterstützung eines der konkurrierenden bürgerlichen Lager, von denen beide genug Blut an den Händen haben. Der Krieg von 1988–94 forderte mehr als 20.000 Todesopfer und führte zur Vertreibung von mehr als einer Million Menschen, die meisten davon Aserbaidschaner, die nach dem armenischen Sieg aus Bergkarabach geflohen waren. Diese Konflikte zeigen die reaktionäre Rolle des Nationalstaatensystems.
Um weitere Kriege und Massaker zu verhindern, die zu einem verheerenden Konflikt zwischen den Großmächten führen könnten, müssen die Arbeiter in Armenien, Aserbaidschan und der ganzen Welt in einer sozialistischen und antiimperialistischen Bewegung gegen Krieg und das kapitalistische System vereint werden.