Warum wurde Volkswagen-Chef Diess gefeuert?

Für den Volkswagen-Konzern arbeiten weltweit 670.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Weitere Hunderttausende sind in der Zulieferindustrie beschäftigt. Zählt man die Familienmitglieder hinzu, so ist das Schicksal mehrerer Millionen Menschen direkt von dem Konzern abhängig. Doch er wird mit Methoden regiert, im Vergleich zu denen sich eine mittelalterliche Despotie wie eine lupenreine Demokratie ausnimmt.

Ex-Volkswagen-Chef Herbert Diess (links) und sein Nachfolger Oliver Blume [Photo by Alexandr Migl / Matti Blume via wikimedia / CC BY-NC-SA 4.0]

An der Spitze steht ein allmächtiger Vorstandschef, der jedes Jahr ein zweistelliges Millionengehalt kassiert. Über sein Schicksal wiederum entscheidet eine verschworene Clique im Aufsichtsrat.

Dort verfügen zwei Familienclans, die Porsches und die Piëchs, über die Stimmenmehrheit. Sie verdanken ihre Macht dem Umstand, dass sie Nachkommen von Ferdinand Porsche und dessen Schwiegersohn Anton Piëch sind, die als Günstlinge Adolf Hitlers das Volkswagenwerk für die Nazis aufbauten. Der Grundstein für das Milliardenvermögen der Porsches und Piëchs legten 20.000 Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs im VW-Werk unter unmenschlichen Bedingungen Rüstungsgüter für die Wehrmacht produzierten.

Der zweite Machtfaktor im Aufsichtsrat sind die Gewerkschaft IG Metall und der Betriebsrat. Der 1. Vorsitzende der IG Metall Jörg Hofmann ist stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats und sitzt zusammen mit der Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Daniela Cavallo im Präsidium, in dem alle wichtigen Entscheidungen abgesprochen werden.

In keinem anderen deutschen Unternehmen ist die Zusammenarbeit zwischen Management und Gewerkschaft so ausgefeilt wie bei Volkswagen. IG Metall und Betriebsrat sorgen mit einem Heer vollamtlicher Funktionäre dafür, dass die Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat reibungslos umgesetzt werden und kein Widerstand dagegen aufkommt.

Allein im Werk Wolfsburg gibt es 75 freigestellte, vom Unternehmen bezahlte Betriebsräte, von denen 66 der IG Metall angehören. Ihnen arbeiten 2500 Vertrauensleute zu, die – in den Worten von Business Insider– „Augen und Ohren in jedem Winkel der Fabrikstadt“ haben. Außerdem verfügt der Wolfsburger Betriebsrat über einen eigenen 70-köpfigen Verwaltungsapparat.

Im Aufsichtsrat ist außerdem das Land Niedersachsen vertreten, das über eine gesetzlich verankerte Sperrminorität verfügt. Die SPD-geführte Landesregierung arbeitet eng mit IG Metall und Betriebsrat zusammen. Und schließlich hat das Emirat Katar ein Wort mitzureden, das einen Anteil von rund 17 Prozent an Volkswagen hält.

Am 22. Juli beschloss der Aufsichtsrat der Volkswagen AG einstimmig, den Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess zu feuern, der 2014 von BMW nach Wolfsburg geholt wurde und seit 2018 an der Spitze des Konzerns stand. Obwohl es immer wieder Auseinandersetzungen um Diess gegeben hatte, kam seine Entlassung überraschend. Der Aufsichtsrat hatte seinen Vertrag erst vor einem Jahr bis Oktober 2025 verlängert.

Wie bei Volkswagen üblich, fällt Diess weich. Er soll bis zum Auslaufen seines Vertrags als „Berater“ für den Konzern tätig sein und wird in dieser Zeit voraussichtlich weitere 30 Millionen Euro verdienen.

An Diess‘ Stelle tritt am 1. September Oliver Blume, der Chef der VW-Tochter Porsche. Blume soll Porsche gleichzeitig weiterführen, um den für Herbst geplanten Börsengang über die Bühne zu bringen, und auch danach an der Spitze des Sportwagenherstellers bleiben.

Der Börsengang soll bis zu 100 Milliarden Euro in die Kassen von Volkswagen und der beiden Familienclans spülen. Die Porsches und die Piëchs wollen außerdem durch die Ausgabe stimmberechtigte Stammaktien, die nur sie erwerben können, die direkte Kontrolle über Porsche zurückgewinnen, die sie 2009 in einer bizarren gegenseitigen Übernahmeschlacht zwischen Volkswagen und Porsche verloren hatten.

Über die Gründe für Diess‘ Entlassung schweigt sich der Aufsichtsrat aus. In der offiziellen Pressemitteilung heißt es lediglich, sie erfolge „im gegenseitigen Einvernehmen“, was offensichtlich nicht stimmt.

Ansonsten wird Diess überschwänglich gelobt. Er habe „eindrucksvoll bewiesen, mit welchem Tempo und mit welcher Konsequenz er tiefgreifende Transformationsprozesse umsetzen kann“. Er habe das Unternehmen „durch extrem schwieriges Fahrwasser gesteuert“, „strategisch grundlegend neu ausgerichtet“, „die klare Ausrichtung auf Elektromobilität auf den Weg gebracht“ und „die Kapitalmarktausrichtung des Konzerns vorangetrieben“.

Blume sei nun „die richtige Person an der Spitze, um die Kundenorientierung sowie die Positionierung der Marken und Produkte weiter zu schärfen“ und „mit dem gesamten Vorstand die Transformation weiter vorantreiben – mit einer Führungskultur, die den Teamgedanken in den Mittelpunkt stellt“.

Neue Welle von Angriffen

In Wirklichkeit gibt es nur eine Erklärung für den abrupten Führungswechsel an der Spitze des größten europäischen Autokonzerns: Volkswagen bereitet eine neue Welle des Arbeitsplatzabbaus, der Lohnsenkungen und der Produktivitätssteigerungen vor – und Diess gilt nicht mehr als der richtige Mann, dies in Zusammenarbeit mit IG Metall und Betriebsrat umzusetzen.

Die gesamte internationale Autoindustrie befindet sich in einem gewaltigen Umbruch, der rücksichtslos auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen wird. Die Umstellung auf Elektroautos, deren Produktion wesentlich weniger Arbeitszeit erfordert, ist dabei nur ein Aspekt. Hinzu kommen der enorme Druck der Finanzmärkte, zweistellige Profitmargen zu erzielen, die Störung der Lieferketten wegen der Corona-Pandemie, der Anstieg der Energiekriese als Folge des Ukrainekriegs und der erbitterte Kampf um globale Märkte.

Volkswagen hatte früh nach China expandiert, wo der Konzern rund 40 Prozent seiner Fahrzeuge verkauft und einen großen Teil seiner Gewinne erzielt. Doch inzwischen geht der Absatz zurück, allein im vergangenen Jahr um 14 Prozent. Der Marktanteil, der früher zwischen 14 und 15 Prozent lag, schrumpfte auf 11 Prozent. Chinesische Hersteller wie SAIC, BYD, Geely und Xpeng treten als Konkurrenten auf und expandieren nach Europa.

Diess‘ Aufstieg an die Spitze des Konzerns war eng mit den Folgen des Dieselskandals verbunden, der Volkswagen beinahe ruinierte. Das Management hatte lange Zeit auf „saubere“ Dieselmotoren gesetzt, um steigende Umweltauflagen zu erfüllen. Als dies technisch scheiterte, bauten Ingenieure eine Betrugssoftware ein, die den Schadstoffausstoß auf Prüfständen künstlich drosselte. Die Entdeckung dieses Betrugs in den USA kostete Volkswagen Milliarden an Strafen und Entschädigungen und brachte das Diesel-Projekt zu einem abrupten Ende.

Diess wurde kurz vor Ausbruch des Skandals von BMW in München zu Volkswagen nach Wolfsburg geholt, weil er als gnadenloser Einsparer bekannt war. Als Einkaufschef von BMW hatte er die Preise der Zulieferer innerhalb von vier Jahren um vier Milliarden Euro gesenkt. „Wer damals mit Autozulieferern sprach, traf auf verzweifelte Menschen. Mittelständler, deren Preise von Diess immer weiter gedrückt wurden,“ berichtet die Süddeutsche Zeitung. „Diess wurde zum gefürchteten Pfennigfuchser. Sie nannten ihn den Knochenbrecher, oder auch den Ausquetscher.“

Das imponierte nicht nur den Anteilseignern von Volkswagen, sondern auch der IG Metall, obwohl ihre eigenen Mitglieder in den Zulieferbetrieben zu den Opfern von Diess‘ rabiaten Einkaufsmethoden gehörten. Diess wurde mit der Leitung der Marke Volkswagen betraut, die anders als die Luxusmarken des Konzerns nur geringe Profitmargen erzielte. Nach dem Dieselskandal galt er dann als geeigneter Mann, um den ganzen Konzern brachial umzukrempeln.

Diess setzte nun ganz auf Elektroautos. Als Vorbild dienten ihm Tesla und dessen rücksichtloser Chef Elon Musk, mit dem er sich wiederholt persönlich traf. In Wolfsburg setzte er den Bau einer völlig neuen Giga-Factory für zwei Milliarden Euro in Gang, in der ab 2026 das Elektro-Modell Trinity vom Band laufen soll. In Salzgitter wurde wenige Tage vor seiner Entlassung der Grundstein zu einer Batteriezellenfabrik gelegt, die Volkswagen von chinesischen Zulieferern unabhängig machen soll. Bundeskanzler Olaf Scholz war persönlich anwesend.

Was Diess schließlich den Job kostete, war – wie es Wirtschafszeitungen formulieren – sein „konfrontativer Führungsstil“ und sein „fehlendes diplomatisches Geschick“. Er stieß nicht nur hochbezahlten VW-Leute vor den Kopf, die er laut Business Insider in größerer Runde attackierte und vorführte, sondern auch Betriebsrat und IG Metall, denen er es zunehmend schwer machte, die bevorstehenden Angriffe geheim und die Belegschaft ruhig zu halten.

So kündigte er im Herbst letzten Jahres auf einer Aufsichtsratssitzung den Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen bei der Kernmarke VW an. Jeder vierte Arbeitsplatz sei überflüssig, sagte er, was umgehend an die Medien durchsickerte. Bereits zuvor hatte es Spannungen zwischen Diess und dem Betriebsrat gegeben, was diesen allerdings im vergangenen Sommer nicht daran hinderte, für die Verlängerung von Diess‘ Vertrag bis 2025 zu stimmen.

Diess‘ Schicksal war schließlich besiegelt, als ihn die Eigentümerfamilien fallen ließen. Nach übereinstimmenden Zeitungsberichten gaben sie den Ausschlag für die Kündigung seines Vertrags. Neben seinem konfrontativen Stil lasteten sie Diess auch Verzögerungen und massive Kostensteigerungen in der Software-Sparte Cariad an, für die er persönlich Verantwortung trug. Cariad entwickelt die Software für alle Marken des Volkswagenkonzerns. Sowohl Porsche wie Audi mussten wegen der Verzögerungen neue Modelle verschieben.

Oliver Blume

Mit Oliver Blume platzieren die Eigentümerfamilien einen engen Vertrauensmann an der Spitze von Volkswagen. Der 54-Jährige hat seine gesamte berufliche Laufbahn innerhalb des Konzerns absolviert – bei Audi, Seat, VW und Porsche. Er soll die von Diess begonnene „Transformation“ mit ihren verheerenden Folgen für Arbeitsplätze und Löhne fortsetzen, aber nicht „mit der Brechstange“, sondern in „Teamarbeit“ – d.h. in enger Abstimmung mit den Eigentümerfamilien, der IG Metall und dem Betriebsrat.

„Die Hoffnung: Der ausgleichende Blume kann die Mission von Herbert Diess weiterführen, den alten, verkrusteten VW-Tanker auf Software und Elektromobilität zu trimmen. Aber ohne dabei ständig Leute vor den Kopf zu stoßen,“ kommentiert die Süddeutsche Zeitung.

Blume verfügt auch über einen kurzen Draht zur Bundesregierung. Wie die Satiresendung „Die Anstalt“ aufdeckte, brüstete sich der Porsche-Chef auf einer Betriebsversammlung, FDP-Chef Christan Lindner, inzwischen Finanzminister, habe ihn während der Koalitionsverhandlungen „fast stündlich auf dem Laufenden gehalten“.

Vor allem können Blume und sein „Transformations“-Programm auf die uneingeschränkte Unterstützung von IG Metall und Betriebsrat zählen. „Die heute getroffenen Entscheidungen erlauben es, das Tempo hochzuhalten und den herausgearbeiteten Vorsprung zu nutzen“, kommentierte IGM-Chef Hofmann den Wechsel an der Spitze des Konzerns. Betriebsratschefin Cavallo schrieb, alle Kolleginnen und Kollegen müssten bei der Transformation von Produkten und Geschäftsmodellen „mitgenommen werden“. Die heutigen Entscheidungen seien eine Anzahlung darauf.

Nur drei Tage nach dem Führungswechsel bei Volkswagen erklärte der Produktionsvorstand von Audi, Gerd Walker, mit brutaler Offenheit, was auf die Belegschaft zukommt. „Wir wollen die Fabrikkosten halbieren, den Speed verdoppeln,“ sagte er während einer Betriebsbesichtigung durch Journalisten. Die Beschäftigungssicherung für die deutschen Audi-Werke bis 2029 gelte zwar weiter, die Halbierung der Fertigungskosten solle durch die Verdoppelung der Zahl der produzierten Fahrzeuge erreicht werden.

Auf die Belegschaft des Volkswagen-Konzerns und seiner Töchter kommen enorme Angriffe zu. Der Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen bei VW, die Halbierung der Fertigungskosten bei Audi, die Stilllegung der spanischen Marke Seat – all diese Vorschläge stehen im Raum und werden von Blume in enger Zusammenarbeit mit Betriebsrat und Gewerkschaften weiterverfolgt.

Der Kampf dagegen erfordert den Bruch mit der IG Metall und ihrem Betriebsrat und den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees, die den Widerstand organisieren und Kontakt zu Arbeitern in anderen Werken und Ländern aufnehmen. Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre internationalen Schwesterparteien haben die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees) ins Leben gerufen, um eine solche Offensive einzuleiten und zu entwickeln.

Sie ist untrennbar mit dem Kampf für in sozialistisches Programm verbunden. Dass eine Clique von Milliardären, die ihr Vermögen den Verbrechen der Nazis verdanken, und hochbezahlten Gewerkschaftsbürokraten über das Schicksal von hunderttausenden Arbeitern entscheiden, unterstreicht die Absurdität eines Gesellschaftssystems, dass alle sozialen Bedürfnisse der Bereicherung und den Profitinteressen einer kleinen Minderheit unterordnet.

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