„Verlorene Illusionen“: Balzacs großer Roman, neu interpretiert für unsere Zeit

Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: Giannoli und Jacques Fieschi
nach dem Roman von Honoré de Balzac
Filmstart in Deutschland: 20. Oktober 2022

„Verlorene Illusionen“ („Illusions perdues“), unter der Regie von Xavier Giannoli, ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac (1799–1850). Das Buch, das zwischen 1837 und 1843 geschrieben wurde, erschien in drei Teilen. Der Film konzentriert sich fast ausschließlich auf den zweiten (und stärksten) Teil: „Ein großer Mann aus den Provinzen in Paris“ (1839).

Der halbironisch gemeinte Titel bezieht sich auf Lucien Chardon, einen jungen Mann aus einer Provinzstadt im Südwesten Frankreichs, der 1821 nach Paris kommt, um als Dichter Karriere zu machen. Seine höchst ehrgeizigen künstlerischen Ambitionen sind von der Romantik beeinflusst. Sowohl der Roman als auch der Film schildern den schmerzhaften Prozess seiner systematischen Desillusionierung und Korrumpierung.

In den Mittelpunkt des Geschehens stellt Balzac die Niedertracht der Presse und die Bereitschaft der Journalisten, sich von den Meistbietenden anheuern zu lassen. Darüber hinaus und dahinter legt der Autor offen, wie im Kapitalismus selbst die Kunst in eine Ware verwandelt wird.

„Verlorene Illusionen“ ist ein monumentaler Roman, ein Wendepunkt in der modernen Literatur, und Giannoli und Jacques Fieschi, sein Co-Drehbuchautor, haben mit der Interpretation und Dramatisierung des Romans Bemerkenswertes geleistet.

Der Film beginnt, als Lucien (Benjamin Voisin) noch in der Provinz lebt. Er unterhält eine Beziehung zu Louise de Bargeton (Cécile de France), der tonangebenden intellektuell–aristokratischen Persönlichkeit seiner Stadt. Er widmet der eleganten Frau, die einen älteren Schwachkopf zum Ehemann hat, blumige Verse. Luciens Rivale ist der Baron du Châtelet (André Marcon), ein unverbesserlicher Intrigant. Als Madame de Bargeton mit ihrem Mann bricht und mit Lucien im Schlepptau nach Paris zieht, überzeugt Châtelet sie schnell, den Jungen fallen zu lassen.

Vincent Lacoste und Benjamin Voisin in „Verlorene Illusionen“ (2021)

Später, als sich Lucien fast mittellos in der unbarmherzigen französischen Hauptstadt befindet, begegnet er Etienne Lousteau (Vincent Lacoste). Dieser schreibt für verschiedene „frivole“ Publikationen, die im Gegensatz zu den konkurrierenden royalistischen Zeitschriften allgemein eher liberal eingestellt sind. In der Zeit der Restauration nach Napoleons Sturz 1814–1815 wurde der Bourbone Ludwig XVIII. (der Bruder des hingerichteten Ludwig XVI.) auf den französischen Thron gehievt. Dieser Zeit war ein Vierteljahrhundert voller Revolutionen, Kriege und Umwälzungen vorausgegangen.

Bei ihrer ersten Begegnung fragt Lousteau Lucien: „Wissen Sie, wovon ich lebe?“ Der andere schlägt zaghaft vor, dass er wohl die Öffentlichkeit über die Kunst und die Welt aufklären wolle ... Nein, antwortet Lousteau: „Meine Aufgabe ist es, die Aktionäre reich zu machen und nebenbei auch noch Geld zu verdienen.“

Über Lousteau, der einst selbst künstlerische Ambitionen hatte, knüpft Lucien Kontakte zu anderen Journalisten, Redakteuren, Verlegern und Theaterleitern an. Eine von Luciens ersten neuen Bekanntschaften ist der Verleger und Buchhändler Dauriat (Gérard Depardieu). Letzterer lehnt Luciens Vorschlag, seinen Band mit empfindsamen Versen zu veröffentlichen, verächtlich ab. Das sei nicht profitabel. Später kann Lucien den Verleger zwingen, seine Gedichte zu veröffentlichen, indem er ein neues Werk des bekannten Schriftstellers Nathan, eines für Dauriat wichtigen Autoren, verreißt. (Nathan wird vom kanadischen Filmemacher Xavier Dolan sehr bewegend dargestellt.) Kurz darauf schreibt Lucien einen aufrichtigen, lobenden Kommentar über Nathans Werk.

Ein Großteil der fieberhaften Tätigkeit der Journalisten konzentriert sich auf die Pariser Bühne und den erbitterten Wettbewerb zwischen den Theatern und ihren Darstellern. Alles dreht sich ums Geschäft. Straßenmädchen gibt‘s zu Tausenden, die Prostitution ist in allen Gesellschaftsschichten weit verbreitet. Theaterbesitzer, Dramatiker und Schauspielerinnen bestechen Lousteau und seine Mitarbeiter, um wohlwollende Kritiken zu erhalten. Der Meisterzyniker Singali (Jean-François Stévenin) macht Karriere, indem er gegen Bezahlung die große Schar seiner Claqueure dazu anleitet, ein bestimmtes Stück oder einen bestimmten Künstler zu verhöhnen oder ihnen zu applaudieren.

Geld sei der neue König, erklärt jemand, und ihm wolle niemand den Kopf abschlagen. Trotz seiner Ängste und inneren Konflikte macht Lucien Fortschritte auf diesem neuen Gebiet. Er schreibt schillernde, aber oberflächliche Rezensionen, die Aufmerksamkeit erregen. Er lässt sich mit Coralie (Salomé Dewaels) ein, einer jungen Schauspielerin mit Ambitionen, auch künstlerischer Art. Sie hat bereits einen Beschützer und Liebhaber, den wohlhabenden Camusot (Jean-Marie Frin), aber die jungen Leute finden leicht einen Weg, ihn zu umgehen.

Lucien gewinnt immer mehr an Bedeutung. Aber sein Charakter hat sich jetzt auf fatale Weise verändert. In seinem Wesen tritt die Sucht nach Ruhm und Reichtum hervor, und alles zeigt sich, was schwach und haltlos ist. An jedem entscheidenden Punkt wählt Lucien den Weg des geringsten Widerstands. (Im Roman schreibt Balzac, dass der Weg, sich für die Kunst zu opfern, „voller Klippen und Gefahren“ sei, „voll schmutziger Pfützen“, indes trieb Luciens Charakter ihn dazu, „den kürzesten, anscheinend angenehmsten Weg einzuschlagen, zu dem entscheidenden und schnellen Mittel zu greifen“.) (1)

Lucien, der nun überall gefeiert wird, setzt sich in einer Szene – im Champagnerrausch – eine falsche Krone auf: „Auf Paris! Auf unsere Lieben!“ Er ist ganz oben angelangt, ein König der Literatur. Lucien gelingt es sogar, sich mit seinem grausamen Witz an Châtelet und anderen Feinden zu rächen. Sein Festhalten an Prinzipien, an der Poesie löst sich langsam auf. Auf jeden Fall, so Lousteau zu ihm, „ist das, was wir schreiben, vergessen“. Oder, wie eine Person aus demselben journalistischen Milieu in dem Balzac-Roman „Glanz und Elend der Kurtisanen“ (1838–1847), der Luciens späteres Schicksal darstellt, beiläufig bemerkt: „Gibt es heutzutage noch Meinungen? Es gibt nur noch Interessen.“

Doch Lucien wird von einer Obsession beherrscht, die ihm zum Verhängnis wird: Er will seinen Nachnamen legal in „de Rubempré“, den Mädchennamen seiner Mutter, ändern und so in den Adelsstand aufsteigen. Dazu benötigt er die Unterstützung der höchsten Ebene des französischen Staats, des Königs selbst oder seines Gefolges. Als Lucien die gut vernetzte Louise de Bargeton wiedertrifft, verspricht sie, ihm zu helfen. Um sich bei den Machthabern einzuschmeicheln, gibt Lucien seine alten liberalen Freunde (und Überzeugungen) auf und beginnt, für ein royalistisches Organ zu schreiben. Seine ehemaligen Kollegen schmieden daraufhin einen Plan, um ihn zu vernichten, unter anderem durch die öffentliche Demütigung von Coralie, die auf der Bühne ausgebuht und von den Kritikern „in Stücke gerissen“ wird. Darüber hinaus taucht Luciens Name durch einen Trick in anti-royalistischen Artikeln auf, was ihn auch in jenen Kreisen erledigt. Der Möchtegern-Dichter schreibt nur noch Anzeigen, während Coralie schwer erkrankt. Der Erzähler erklärt: „Eine neue Welt war angebrochen …“

Benjamin Voisin in „Verlorene Illusionen“ (2021)

Giannoli und Fieschi haben ein faszinierendes und anspruchsvolles Werk geschaffen. Sie haben versucht, Balzacs Roman insgesamt zu erfassen, seine wesentliche Struktur und seinen Kern beizubehalten. Die ursprünglichen Dialoge haben sie umgeschrieben, einzelne Situationen überarbeitet und bestimmte Darstellungen verändert. Auch wenn nicht allzu viele Zitate von Balzac zu finden sind, so ist doch der Kern seiner Geschichte vorhanden. Giannoli spricht von dem Wunsch, den Roman nicht zu „plagiieren“. Er kommentiert: „Kunst lebt von dem, was sie verbrennt. Das Kino ist von Natur aus die Umgestaltung einer Realität oder eines Buches. Wozu ist es sonst gut?“

Das ist den Filmemachern zum großen Teil gelungen. Sie haben die Haltung des Romans gegenüber bestimmten Figuren – zum Beispiel Madame de Bargeton – „abgemildert“. Sie haben auch einen optimistischeren Schluss hinzugefügt. Der Regisseur fand einige von Balzacs Texten „hart und strafend“. Es ist möglich, dass dabei etwas gewonnen wurde, aber vielleicht ist auch etwas verloren gegangen. Balzacs unerbittlicher, heftiger Angriff auf dieses Milieu und seine handelnden Personen kann manchmal anstrengend sein, aber glücklicherweise leugnet diese Interpretation der „Verlorenen Illusionen“ nicht die tiefe Abneigung des Schriftstellers gegen die Falschheit, Heuchelei, Käuflichkeit und allumfassende Korruption, die er um sich herum sah.

Giannoli nannte in einem Interview noch einige andere interessante Beobachtungen:

Das Thema der verlorenen Unschuld, der „Verschwendung“, des Schönen und Wertvollen in einem selbst, berührt mich besonders. Diese heimtückische Art und Weise, wie eine Epoche oder das Milieu Menschen dazu bringen, ihre Ideale, ihre besten „Werte“ zu verleugnen.

Zu der Zeit, als Balzac „Verlorene Illusionen“ schrieb, befand sich Marx in den Straßen von Paris, und [der britische Autor William Makepeace] Thackeray arbeitete an dem Roman „The Luck of Barry Lyndon“ [„Die Memoiren des Junkers Barry Lyndon“], der wenig später in Fortsetzungen erscheinen sollte. Es ließen sich Dutzende weiterer Beispiele von Autoren finden, die verstanden hatten, dass die Welt – wie die Marxisten gerne sagen – in das eiskalte Wasser egoistischer Berechnung eingetreten war. Der Philosoph und Literatursoziologe Georg Lukacs hat Großartiges über diesen bedeutenden Roman geschrieben und die „Kapitalisierung des Geistes“ und das „Zur-Ware-Werden“ der Welt erwähnt.

Wie der Regisseur erklärt, hat Balzac

diesen Moment im Blick, in dem das Sein in das Haben und das Haben in das Erscheinen ausartet – denn er erzählt auch die Geschichte der Umstellung Frankreichs auf den Kapitalismus (...) Die menschlichen, politischen, geistigen und künstlerischen Schäden, die durch dieses Erdbeben verursacht wurden.

Was hat noch Bedeutung in einer Welt, in der alles mit einem Marktwert taxiert wird? Hat die Kunst in einer solchen Welt noch einen Platz?“

Die schauspielerische Leistung in „Verlorene Illusionen“ist hervorragend. Die jüngeren Schauspieler gehen in ihrer Rolle auf, und die erfahreneren Darsteller (Marcon, Depardieu, Stévenin, Louis-Do de Lencquesaing als Finot, Jeanne Balibar als Madame d'Espard) verleihen ihnen eine außergewöhnliche Textur und Farbe. Auf jeden Aspekt der Produktion wurde große Sorgfalt verwendet. Die Filmemacher wollen ganz klar, dass ihr Publikum ergriffen wird und sich engagiert. Das ist für sie und damit auch für uns wichtig.

Der starke und zunehmend unerträgliche Druck und die Widersprüche, die sich in der französischen und globalen Gesellschaft aufbauen, müssen dabei eine Rolle spielen. Künstler wenden sich vergangenen Werken und vergangenen Epochen zu, weil etwas sie in der Gegenwart bedrückt. Giannoli und Fieschi machen das nicht nur zum Vergnügen. Vielmehr ist dies ein ernsthafter Versuch, der ernsthafte Bedingungen widerspiegelt. Abscheu vor den oberen Zehntausend und ihren literarischen und medialen Apologeten ist auch heute stark zu spüren. Mit diesem Film stellen sich seine Macher, ob sie es nun wirklich wollen oder nicht, gegen die breite und oft gut bezahlte Schicht der heutigen „Intellektuellen“, die alles akzeptieren: die Pandemie, die nicht enden wollenden Kriege und das Wiederaufleben des Faschismus.

Balzac schrieb unter der Julimonarchie von Louis Philippe (1830–1848), jenem frühen Stadium der französischen kapitalistischen Entwicklung, in dem nach Marx nicht die gesamte Bourgeoisie herrschte, „sondern eine Fraktion derselben: Bankiers, Börsenkönige, Eisenbahnkönige, Besitzer von Kohlen- und Eisenbergwerken und Waldungen, ein Teil des mit ihnen alliierten Grundeigentums – die sogenannte Finanzaristokratie“. Marx fügte den berühmten Satz hinzu, in diesen Jahren sei „namentlich an den Spitzen der bürgerlichen Gesellschaft die schrankenlose, mit den bürgerlichen Gesetzen selbst jeden Augenblick kollidierende Geltendmachung der ungesunden und liederlichen Gelüste aus[gebrochen], worin der aus dem Spiele entspringende Reichtum naturgemäß seine Befriedigung sucht, wo der Genuss crapuleux [ausschweifend] wird, wo Geld, Schmutz und Blut zusammenfließen.“ (2)

Jeder nachdenkliche Künstler von heute verbindet selbstverständlich Merkmale jener Epoche mit Merkmalen unserer eigenen, die sich in der Endphase des Niedergangs der bürgerlichen Herrschaft befindet.

Balzac, der selbst Royalist war, wandte sich gegen den Aufstieg der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der alten, „vorbildlichen“ aristokratischen Gesellschaft, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierte. Als großer Realist wandte er sich jedoch „gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile“, wie Friedrich Engels es ausdrückte. In seiner gewaltigen „Menschlichen Komödie“ (Dutzende von miteinander verbundenen Romanen und Erzählungen) schilderte der Romancier „die immer zunehmenden Vorstöße der aufsteigenden Bourgeoisie gegen die Adelsgesellschaft“ und gruppierte um dieses zentrale Bild „eine vollständige Geschichte der französischen Gesellschaft, aus der ich, sogar in den ökonomischen Einzelheiten (…) mehr gelernt habe als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen“. (2)

Balzac tat dies als Künstler, nicht als Soziologe. Seine Geschichten, die von einer klaren und stringenten Epochenvorstellung getragen werden, entwickeln sich spontan und mit einem lebendigen und komplexen Eigenleben. Seine Figuren sind individualisiert, und ihre Handlungen sozial und psychologisch überzeugend. Die Protagonisten sind keine bloße „Ausschmückung“ eines gesellschaftlichen Typus, von Gruppierungen oder Tendenzen, sondern es sind echte Menschen. Sie setzen sich mit den zentralen moralischen und sozialen Fragen auseinander, mit denen sie konfrontiert sind. In Balzacs Werk, so Georg Lukacs in seinem Essay über den Roman, drücke sich poetisch „die Gesamtheit der gesellschaftlichen Bestimmungen ungleichmäßig, kompliziert, verworren, widerspruchsvoll in dem Gewirr von persönlichen Leidenschaften und zufälligen Geschehnissen aus“. (4)

Lukacs macht eine Reihe weiterer Punkte. Er erklärt, dass „Verlorene Illusionen“ den Verfall der Literatur „sehr detailliert“ schildere. „Diesen Prozess des Zur-Ware-Werdens der Literatur gestaltet Balzac in seiner voll entfalteten Totalität: von der Papierproduktion bis zu der Überzeugung, den Gedanken und Empfindungen der Schriftsteller wird alles zur Ware, die gekauft und verkauft werden kann.“

Darüber hinaus weist Lukacs darauf hin, dass Balzac zu einer Zeit schrieb, als die kapitalistische Korruption der Ethik sozusagen noch im Entstehen war, im Stadium der „ursprüngliche[n] Akkumulation in der ganzen düsteren Pracht ihrer Scheußlichkeit. Es ist noch nicht eine routinenhafte Selbstverständlichkeit, dass der Geist zur Ware geworden ist, und er hat noch nicht die routinierte Langeweile der bereits maschinenhaft produzierten Ware.“ Darüber zeigt Balzac durchwegs Empörung, nicht Akzeptanz oder Resignation.

Salomé Dewaels in „Verlorene Illusionen“ (2021)

Diese Wut und Abscheu über das traurige Schicksal und die Degeneration der Jugend in Frankreich nach der Restauration kommt in sehr vielen Passagen in „Verlorene Illusionen“ zum Ausdruck. Ein Beispiel: „‘Es ist schwer′, erwiderte Lucien, der langsam zu sich kam, ‘sich in Paris über irgendetwas Illusionen zu bewahren. Es wird hier alles besteuert – man verkauft alles, man fabriziert alles, selbst den Erfolg′.“

Und: „Seit zwei Stunden war in Luciens Ohren das Geld der Schlüssel zu allem. Im Theater, im Buchhandel und im Journalismus war nicht von Kunst und nicht von Ruhm die Rede. Diese ewigen Hammerschläge des großen Prägestocks, der Münze, die ihm fortwährend auf den Kopf und aufs Herz fielen, zermarterten ihm Sinn und Gemüt.“ Lucien wird geraten: „Wer mit dem Strom schwimmt, gelangt schließlich irgendwohin. Ein Mann von Geist, der in der großen Welt Fuß gefasst hat, macht seinen Weg, wann er will.“

Ein anderer ermahnt ihn: „Wenn ich deine Stirne ansah, dachte ich, du hättest eine Allmacht wie die großen Geister, die alle stark genug gebaut sind, um jedes Ding in seiner zwiefachen Gestalt zu sehen. Junger Freund, in der Literatur hat jede Idee ihre Vorderseite und ihre Rückseite: niemand kann mit Bestimmtheit sagen, welches ihre Vorderseite ist.“

Lucien zieht schließlich aus seinen Erfahrungen den Schluss: „Vielleicht kommt man nur hoch, wenn man erst an den empfindlichsten Stellen des Herzens Schwielen bekommen hat.“ Diese Auffassungen sind in „Verlorene Illusionen“ nicht verstreut oder irgendwie angeheftet, sondern bilden sein Bindegewebe. Und sie haben in unserer Zeit größte Aktualität.

Wegen seiner ehrlichen Herangehensweise und seiner Kunstfertigkeit ist Giannolis Film sehr zu empfehlen.

Anmerkungen

(1) Die Balzac-Zitate wurden aus der Digitalisierung des Romans entnommen:
https://www.projekt-gutenberg.org/balzac/illusion/illusion.html

(2) Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 7, S. 35

(3) Friedrich Engels Brief an Margaret Harness, in:MEW, Bd. 37, S. 42ff

(4) Alle Zitate von Georg Lukács, siehe: Balzac und der französische Realismus, Aufbau-Verlag Berlin 1952, S. 46–65

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