Chatkontrolle: EU plant Abschaffung des digitalen Briefgeheimnisses

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit arbeitet die EU-Kommission mit Unterstützung von europäischen Regierungen an der Abschaffung des digitalen Briefgeheimnisses. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Kindesmissbrauch soll eine Verordnung beschlossen werden, nach der für Anbieter von Kommunikationsdiensten jeglicher Art eine Pflicht zum Durchsuchen von Kommunikationsinhalten nach Darstellungen von Kindesmissbrauch oder Anbahnungsversuchen von Erwachsenen an Kinder (sogenanntes „Grooming“) angeordnet werden kann.

Protest gegen Chatkontrolle vor der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin im Mai 2022 [Photo by CC0 by Jakob Rieger]

Wie netzpolitik.org berichtet, müssen möglicherweise sogar die Geräte der Nutzer nach Darstellungen von Kindesmissbrauch durchsucht werden, wenn eine solche Anordnung ausgesprochen wird. Bei diesem sogenannten clientseitigen Scannen (client-side scanning, CSS) wird vor dem Absenden einer Nachricht auf dem Gerät des Senders selbst geprüft, ob eine Darstellung von Kindesmissbrauch versendet werden soll. Bei einem vermeintlichen Treffer würde dann automatisch eine Meldung an eine Kontrollstelle versendet, die die Strafverfolgungsbehörden in den Fall einschalten kann.

Clientseitiges Scannen hebelt das Briefgeheimnis aus, das bei Kommunikationsdiensten durch eine Ende-zu-Ende Verschlüsselung gegeben ist, weil die Daten schon vor der Verschlüsselung verdachtsunabhängig durchsucht werden. Ein ähnliches Verfahren hatte Apple auf seinen Geräten gegen den Widerstand von anerkannten IT-Sicherheitsforschern geplant. Letztere gelangten in einer Studie zum Schluss, dass clientseitiges Scannen eine Gefahr für Privatsphäre, IT-Sicherheit, Meinungsfreiheit und die Demokratie als Ganzes ist.

Der derzeitige Entwurf schreibt keine konkreten technischen Maßnahmen vor, die immer verpflichtend anzuwenden sind. Er überlässt deren Anordnung einer neu zu schaffenden Behörde, die bei Europol angesiedelt sein soll und einzelnen Anbietern Anordnungen erteilen darf. Es soll also eine europaweite polizeiliche Überwachungszentrale entstehen, mit weitgehenden Befugnissen zum Eingriff ins Briefgeheimnis.

Bürgerrechtsorganisationen üben vernichtende Kritik am derzeitigen Entwurf: Die Chatkontrolle ist nicht mit europäischen Grundrechten vereinbar, könnte Verschlüsselung ins Leere laufen lassen und damit obsolet machen und stellt die anonyme Nutzung des Internets in Frage. Selbst Kinderschutzorganisationen wie dem Deutschen Kinderschutzbund gehen die Pläne zur Chatkontrolle zu weit.

Unabhängig von der konkreten Umsetzung der Chatkontrolle bedeutet sie einen starken Eingriff in die Menschenrechte. Das Ziel, die Verbreitung von Darstellungen von Kindesmissbrauch einzudämmen, ist dabei wie bei anderen Gesetzesvorhaben nur vorgeschoben. Stattdessen geht es darum, einen Überwachungsapparat mit Zensurmöglichkeiten aufzubauen, der dann beliebig erweitert werden kann.

Die Erweiterung einmal geschaffener Zensurinstrumente ist auf EU-Ebene keine Neuigkeit: Die Uploadfilter, die im Rahmen der EU-Urheberrechtsreform eingeführt wurden, waren ursprünglich auch im Rahmen der TERREG-Richtlinie zur Filterung von terroristischen Inhalten geplant und sind nur am öffentlichen Widerstand gescheitert.

Die Behauptung, die Chatkontrolle werde für den Kampf gegen Kindesmissbrauch benötigt, macht es leichter, Zustimmung zu dieser fatalen Technik zu bekommen, die sonst nicht durchsetzbar wäre.

Ein klares Indiz dafür, dass die Bekämpfung von Kindesmissbrauch nur vorgeschoben ist, sind Fälle aus Deutschland, in denen Ermittler zwar Hersteller und Verteiler von Darstellungen von Kindesmissbrauch ermittelt und verhaftet, aber keine Anstrengungen zur Löschung der Darstellungen selbst unternommen haben, obwohl diese sehr schnell offline genommen werden können.

Systeme zum Suchen nach Darstellungen von Kindesmissbrauch können leicht zweckentfremdet werden. Sie können auch andere Inhalte aufspüren, da es technisch keinen Unterschied macht, ob sie nach Bildern von Kindesmissbrauch oder nach anderem Bildmaterial suchen, das aus politischen Gründen unerwünscht ist.

Selbst wenn es keine Zweckentfremdung gibt, kann nicht überprüft werden, ob die Systeme wirklich nur nach Darstellungen von Kindesmissbrauch suchen und nicht auch legale Inhalte als Treffer erkennen, weil das Quellmaterial für die Filtersysteme nicht öffentlich zugänglich gemacht werden kann.

Eine weitere Gefahr für die Meinungsfreiheit sind Fälle, in denen ein Inhalt fälschlicherweise als Treffer erkannt wird, sogenannte „false positives“. Die Systeme zum Durchsuchen von Inhalten arbeiten nicht perfekt und können manipuliert werden. Ein Beispiel ist hier Apples System „NeuralHash“ zum Erkennen von Fotos, das aus Bildern Prüfsummen berechnet, die dann abgeglichen werden können. Es gibt bereits Software, die ein Bild so verändert, dass es die gleiche Prüfsumme erhält wie ein zweites, komplett anderes Bild.

Bei der Darstellung von Kindesmissbrauch kann dies bedeuten, dass harmlose, legale Bilder vom System als Treffer erkannt und weitergemeldet werden. Dies ist besonders fatal, da bei Darstellungen von Kindesmissbrauch allein schon ein Verdacht ausreichen kann, um den Ruf und das Leben von Beschuldigten zu zerstören. Zudem könnten Geheimdienste mit entsprechenden Befugnissen Bildmaterial auf den Computern von Zielen platzieren oder harmloses Bildmaterial so manipulieren, dass beim Versand eine Meldung ausgelöst wird.

Die Pflicht zur Kommunikationsüberwachung würde auch die zahlreichen quelloffenen und dezentralen Apps betreffen. Diese können zwar nicht ohne weiteres verwanzt werden, doch könnte die EU sie entweder verbieten oder durch Netzsperren blockieren. Wer solche Software vertreibt, könnte mit hohen Geldbußen belegt werden.

Der Plan zur Chatkontrolle zeigt die Heuchelei der herrschenden Klasse: Sie benutzt Kindesmissbrauch als Vorwand, um eine Überwachungs- und Zensurinfrastruktur aufzubauen, und missbraucht damit Missbrauchsopfer erneut.

Angesichts enormer sozialer Ungleichheit und steigender Lebensmittel- und Energiepreise aufgrund des Ukraine-Krieges wird die Chatkontrolle als Instrument in Stellung gebracht, um zu erwartenden Widerstand und Proteste mit undemokratischen Maßnahmen zu unterdrücken.

Es ist absehbar, dass nach Einführung der Chatkontrolle die Systeme erweitert werden, um auch Darstellungen von Polizeigewalt, Demonstrationen oder nicht genehmigten Protesten, sowie antikapitalistisches Gedankengut oder auch schlicht satirische Inhalte zu erkennen und automatisch zu melden.

Zudem zeigen die Pläne auch den wahren Charakter der EU: Diese Institution, deren Ziel laut offizieller Propaganda die Einigung des europäischen Kontinents unter dem Banner von Freiheit und Demokratie ist, entwickelt die Überwachungsmethoden einer Diktatur. Die EU ist ein kapitalistischer Staatenbund, der den Mitgliedsstaaten hilft, antidemokratische Maßnahmen durchzusetzen.

Auch in Deutschland fordern Innenminister Zugang zu verschlüsselter Kommunikation, was den Plänen zur Chatkontrolle sehr nahekommt. In Großbritannien, das aus der EU ausgetreten ist, wird derzeit mit der „Online Safety Bill“ ein ähnliches Zensur- und Überwachungsgesetz vorangetrieben, das ebenfalls die verschlüsselte Kommunikation bedroht. Zudem will die Regierung die Datenschutz-Grundverordnung abschaffen.

Jedes Vertrauen in die Ampel-Koalition, die in ihrem Koalitionsvertrag vollmundige Versprechen zur grundrechtskonformen Digitalisierung Deutschlands gemacht hat, wäre vollkommen verfehlt.

Die Grünen, die sich noch im Bundestagswahlkampf gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete ausgesprochen hatten, haben sich innerhalb von nur einem halben Jahr in die aggressivsten Befürworter der Lieferung schwerer Waffen in ein Kriegsgebiet, die Ukraine, verwandelt. Ebenso aggressiv werden die Grünen und die SPD demokratische Rechte unterdrücken, wenn es zu massenhaftem Widerstand gegen die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ihrer Kriegspolitik kommt.

Daher hätte es keinerlei Bedeutung, wenn Deutschland, wie dies Vertreter der FDP und der SPD andeuten, die Chatkontrolle in der EU ablehnt oder sich bei der Abstimmung enthält. Seine Vertreter würden vermutlich davon ausgehen, dass sie überstimmt werden, und ähnliche Maßnahmen weiterverfolgen, denn die Notwendigkeit einer Zensur ergibt sich aus ihrer eigenen Politik.

Auch die sogenannten Akteure der Zivilgesellschaft müssen kritisch gesehen werden. Sie mobilisieren keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Chatkontrolle, sondern üben sich in konstruktiver Zusammenarbeit mit der EU-Kommission. Obwohl sich die zuständige EU-Kommissarin weigert, sich mit ihnen zu treffen, bleiben sie der EU, wie die Untertanen einem König, treu und legitimieren so ihr Handeln.

Typisch ist das Verhalten der Organisation „Digitale Gesellschaft“, die mit anderen Organisationen eine Liste mit „Prinzipien für den Kampf gegen Kindesmissbrauch“ formuliert hat. Als die EU kürzlich das Digitale-Dienste-Gesetz (Digital Services Act) beschloss, wandte sie sich nicht konsequent gegen die darin enthaltenen Möglichkeiten, in Krisenzeiten die Meinungsfreiheit einzuschränken, sondern bemängelte lediglich, dass das EU-Parlament nicht ausreichend eingebunden worden sei.

Die Verteidigung der Meinungsfreiheit und anderer demokratischer Rechte erfordert wie der Kampf gegen Krieg und soziale Ungleichheit eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse, die für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft eintritt, in der die gesellschaftlichen Bedürfnisse Vorrang vor den Profitinteressen der Reichen haben.

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