Brasilianische Stichwahl im Schatten der „parallelen Stimmauszählung“ des Militärs

Die Stichwahl um das brasilianische Präsidentenamt an diesem Sonntag findet im Schatten einer beispiellosen „parallelen Stimmenauszählung“ und der „Prüfung“ der Wahlautomaten durch das Militär statt. Die Armeeführung unterstützt im Wesentlichen die falschen Behauptungen des faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro über Wahlbetrug, mit denen er seine Ankündigung rechtfertigt, sich zu weigern, eine wahrscheinliche Niederlage einzugestehen.

Chefs der Militärpolizei treffen sich mit dem Wahlgericht zu den brasilianischen Wahlen. (Alejandro Zambrona/Secom/TSE) [Photo: Alejandro Zambrona/Secom/TSE]

Bolsonaro behauptet seit vier Jahren, nur Wahlbetrug zugunsten seines Gegners in den Wahlen von 2018, Fernando Haddad von der Partido dos Trabalhadores (PT), habe seinen Sieg in der ersten Runde verhindert. Seither hat er unablässig das brasilianische Wahlsystem attackiert, weil er mit den Folgen des Hasses rechnet, den er sich durch seine umfassenden Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter im Auftrag des nationalen und ausländischen Kapitals zugezogen hat. Dabei hat er sich die Unterstützung des Militärs gesichert.

In den letzten Tagen vor der Stichwahl – im ersten Wahlgang hatte der ehemalige PT-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva einen Vorsprung von sechs Millionen Stimmen vor Bolsonaro – ist die Lage gefährlicher denn jemals zuvor. Das Militär hüllt sich in Bezug auf seine „Prüfung“ in Schweigen, während Bolsonaro seine Behauptungen wiederholt, er werde das Ergebnis erst akzeptieren, wenn das Militär ihm ebenfalls zustimmt, obwohl es laut Verfassung keine Rolle dabei spielen darf.

Noch beunruhigender war die Reaktion des Verteidigungsministeriums, als es vom Obersten Gerichtshof und vom Rechnungshof aufgefordert wurde, seinen „Bericht“ über die „Prüfung“ zu veröffentlichen. Das Verteidigungsministerium antwortete, es werde bis zum vollständigen Abschluss der Prüfung keine „Teilanalyse“ veröffentlichen, und die Prüfung sei nicht vor dem 5. Januar abgeschlossen, d.h. nach der geplanten Amtseinführung des nächsten Präsidenten am 1. Januar.

Der gesamte Verlauf der geheimen Verhandlungen zwischen all jenen, die Bolsonaro zum „Faschisten“ und zur existenziellen Gefahr für die brasilianische Demokratie erklären – vor allem die Opposition im Kongress unter Führung von Lula und der PT –, hat bisher nur dazu geführt, das Militär zum endgültigen Schiedsrichter der Wahlen zu erheben, unabhängig vom Ergebnis der Stichwahl am Sonntag.

Während Bolsonaro jetzt das Ergebnis des ersten Wahlgangs als zweifelhaft bezeichnet und seine faschistischen Unterstützer auffordert, in der Stichwahl die Wahllokale zu belagern, erklärt das Militär, es werde das Ergebnis – wenn überhaupt – erst nach der Amtsübernahme der nächsten Regierung anerkennen.

Eine solche Äußerung ist angesichts der blutigen Vergangenheit des brasilianischen Militärs und der unlösbaren Krise des Weltkapitalismus, die sich in Brasilien besonders stark manifestiert, eine unheilvolle Drohung. Im Jahr 1964 stürzten brasilianische Generäle mit Unterstützung durch den US-Imperialismus die bürgerlich-nationalistische PT-Regierung von João Goulart und versprachen „saubere Wahlen“ im nächsten Jahr. Dann lösten sie den Kongress auf, schafften politische Parteien und den Habeas Corpus ab, säuberten den Obersten Gerichtshof und töteten, folterten und vertrieben Tausende von Oppositionellen ins Exil. Diese Schreckensherrschaft sollte 21 Jahre lang andauern und als Nährboden für noch blutigere Staatsstreiche in ganz Südamerika dienen, die Hunderttausende von Todesopfern gefordert haben.

Dass die brasilianische herrschende Klasse den faschistischen ehemaligen Hauptmann Bolsonaro, der unverhohlen die politischen Hinrichtungen der Diktatur verteidigt, so rasch als Spitzenkandidat und späteren Präsidenten akzeptiert hat, macht deutlich, dass diese Geschichte entgegen den Behauptungen der PT und der Mainstream-Medien nicht „vorbei“ ist. Jetzt kündigt das Militär laut und deutlich an, dass es sich das Recht anmaßt, über die Legitimität von zivilen Behörden zu entscheiden. Daraus könnte sich schnell eine neue Diktatur entwickeln.

Wie die jüngsten Entwicklungen eindeutig zeigen, können diese Gefahren nicht durch eine Stimme für die bürgerliche Opposition gegen Bolsonaro, d.h. für Lula und die PT, abgewandt werden. Das Hauptziel der Opposition, die dem brasilianischen Kapitalismus in zahllosen Treffen mit dem Großkapital und ausländischen Abgesandten die Treue geschworen hat, besteht darin, angesichts der Krise des brasilianischen und internationalen Kapitalismus, die weltweit faschistische Kräfte stärkt, die öffentliche Meinung ruhig zu halten.

Die Opposition will das todgeweihte bürgerlich-demokratische Regime in Brasilien reanimieren, um einen Angriff von unten zu verhindern. Damit ebnet sie dem verstärkten Angriff der Rechten den Weg.

Unter diesen Umständen ignoriert die Opposition völlig, dass sich das Militär weigert, einen Wahlbetrug auszuschließen und damit Bolsonaro eine wichtige Unterstützung für seine faschistischen Forderungen nach einer Annullierung des Wahlergebnisses liefert. Lula erklärte am Montag bei einer öffentlichen Veranstaltung im historischen Katholischen Universitätstheater in São Paulo, an der Dutzende von Intellektuellen und Künstlern teilnahmen, er rechne damit, dass Bolsonaro ihn am Sonntagabend anrufen und seine Niederlage eingestehen werde.

Ähnlich reagierte Lula am Mittwochabend auf die Meldung, Bolsonaro sei plötzlich von der Wahlkampftour in die Hauptstadt Brasília zurückgekehrt, um sich mit der Militärführung zu treffen. Danach kündigte er an, er werde gegen das Oberste Wahlgericht vorgehen, das es Radiosendern erlaubt hatte, seine legalen Werbeplätze zu unterdrücken. Bolsonaros Ankündigung war ein weiterer Schritt in seinem sorgfältig ausgearbeiteten Putschplan, doch Lula tat sie als Zeichen ab, dass der Präsident „psychologisch gebrochen“ sei.

Solche Äußerungen des obersten Anführers der selbsternannten brasilianischen Linken und „antifaschistischen“ Opposition sind politisch kriminell. Angesichts der schon in die Wege geleiteten Putschpläne ist das einzige Argument der PT, sie sollte wieder an die Macht zurückgebracht werden, als bestes Mittel, um den Widerstand der Arbeiterklasse gegen eine erneute Diktatur mit Hilfe ihres verbündeten Gewerkschaftsapparats und pseudolinker Identitätspolitik einzudämmen und zu brechen.

Da das Militär der kommenden Regierung ein Schwert über den Kopf hält, ist zu erwarten, dass die PT nach ihrem eventuellen Wahlsieg weiter nach rechts rücken und die Hinwendung zur religiösen, militaristischen Law-and-Order-Reaktion intensivieren wird, von welcher die Stichwahl geprägt war.

Diese Hinwendung begann mit Lulas frommem Bekenntnis zu den Positionen ultrarechter Abtreibungsgegner und seinen Aufrufen an Milliardäre und Unternehmer, ihre offene Unterstützung für die PT als beste Alternative zur Verbesserung der Beziehungen Brasiliens zum Weltimperialismus zu erklären. Darauf folgten Versprechen an evangelikale Kirchen, die Bolsonaro unterstützen, dass sie in einer neuen PT-Regierung die Sozialpolitik bestimmen werden, wie Lula in einem „Brief an die Evangelikalen“ vom 19. Oktober angekündigt hatte.

Jetzt konzentriert sich die PT voll darauf, sich als letzte Verteidigungslinie des Polizeiapparats zu präsentieren. Als Aufhänger diente ihr eine Auseinandersetzung vom letzten Sonntag zwischen dem Bolsonaro-Anhänger Roberto Jefferson und einer Einheit der Bundespolizei, die ihn vor seinem Haus im Umland von Rio de Janeiro verhaften wollte. Jefferson gab 50 Schuss aus einem Sturmgewehr ab und warf drei Blendgranaten auf die Beamten.

Jefferson war der erste unter den ultrarechten Elementen, die aus der Regierungskoalition mit der PT austraten, nachdem Lula 2002 erstmals gewählt worden war. Auch Bolsonaro gehörte zu diesen Elementen. Jefferson stand damals wie heute an der Spitze der korrupten sozialdemokratischen Partei PTB und warf der PT vor, sie würde monatliche Stipendien als Gegenleistung für Stimmen im brasilianischen Parlament zahlen, u.a. für die Bewilligung der verhassten Rentenreform. Im Jahr 2012 wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er selbst an diesem System beteiligt war, verließ das Gefängnis aber schon nach 15 Monaten. Später lenkte er die PTB in Richtung faschistischer Kräfte, wurde Bolsonaro-Anhänger und sponserte im Juli 2021 den Masseneintritt von Mitgliedern der traditionellen brasilianischen faschistischen Bewegung Integralistas.

Er wurde kurze Zeit später auf Befehl des Obersten Richters Alexandre de Moraes, der heute das Wahlgericht leitet, als Gefahr für den Staat im Rahmen des Fake-News-Untersuchungsausschusses verhaftet. Nachdem er wegen seines schlechten Gesundheitszustands unter Hausarrest gestellt wurde, verstieß er mehrfach gegen die Haftbedingungen, u.a. indem er die Waffensammlung behielt, mit der er die Bundesbeamten hatte vertreiben wollen.

Jefferson verkörperte Bolsonaros Putschstrategie vollkommen. Er beschwerte sich trotz der gerichtlichen Verbote in den sozialen Medien über die Anti-Fake-News-Maßnahmen des Wahlgerichts, das nur wenige Tage zuvor die Löschung von Hunderten von Pro-Bolsonaro-Videos und -Nachrichten aus den sozialen Netzwerken angeordnet und dem rechtsextremen Radiosender Jovem Pan verboten hatte, sie weiterzuverbreiten. Jefferson wusste, dass diese Provokation einen weiteren Haftbefehl nach sich ziehen würde, übertrug aber dennoch Videos, auf denen die Ankunft der Polizei zu sehen war. Später zeigte er Bilder einer Blutlache an der Stelle, an der ein Beamter von Teilen einer Blendgranate getroffen worden war. Als die Verstärkung der Polizei eintraf und ihn endlich verhaften konnte, war sein Haus bereits von Bolsonaro-Anhängern umstellt.

Bolsonaro schickte daraufhin seinen Justizminister Anderson Torres, der Jeffersons Kapitulation per Telefon aus der nahegelegenen Stadt Juiz de Fora aushandelte. Während Bolsonaro Jefferson später als „Gesetzlosen“ verurteilte, der Strafe verdiene, war sein Schutz durch das Justizministerium eine klare Botschaft an die faschistischen Anhänger des Präsidenten, die aufgerufen wurden, am Sonntag die Wahllokale zu besetzen.

Die PT reagierte darauf erwartungsgemäß, indem sie ihre Solidarität mit der Polizei erklärte und auf der Lüge beharrte, Bolsonaro sei die einzige Quelle faschistischer Gewalt im Land. Lula erklärte, das sei „in der brasilianischen Politik noch nie passiert“ – als hätte es die Diktatur, aus deren Widerstand die PT hervorgegangen ist, nie gegeben.

Dies muss eine Warnung für die Arbeiter sein: Sollten Lula und die PT am Sonntag wieder an die Macht kommen, werden ihnen die extreme Rechte und das Militär die Bedingungen ihrer Amtseinführung und ihrer weiteren Regierungsarbeit diktieren. Sie werden die PT-Regierung als Deckmantel benutzen, um nicht nur harte Sparmaßnahmen und weitreichende Angriffe auf demokratische Rechte durchzusetzen, sondern auch, um sich für eine künftige Machtübernahme vorzubereiten.

Ihr Erfolg ist zwar keineswegs unvermeidlich, er kann jedoch nur durch den Aufbau einer neuen Führung in der brasilianischen Arbeiterklasse bekämpft werden. Diese Führung muss auf dem Kampf basieren, der Ursache für Armut, Diktatur und Krieg ein Ende zu bereiten –dem internationalen Kapitalismus. Zu diesem Zweck muss eine brasilianische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufgebaut werden.

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