Berlin: Bürgerversammlung protestiert gegen Massenlager für Flüchtlinge

 

Am Donnerstagabend strömten etwa 1400 Menschen in die alte Abfertigungshalle des ehemaligen Tempelhofer Flughafens in Berlin. Es war eine der größten Bürgerversammlungen seit langer Zeit. 

Eingeladen hatten der Senat und das zuständige Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg. Sie wollten die Pläne des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) vorstellen, der in den Flughafenhangars und auf dem Flughafenvorplatz eine Massenunterkunft für 7000 Flüchtlinge errichten will. Dafür wollten sie Unterstützung gewinnen.

Allerdings gelang ihnen dies nicht. Wütend und aufgebracht brachten viele Teilnehmer ihren Unmut zum Ausdruck und machten deutlich, dass sie die Senatspläne entschieden ablehnen.

Die Stimmung im Saal stand im krassen Widerspruch zu Medienberichten seit den Kölner Silvester-Vorfällen, die einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung gegen Flüchtlinge suggerieren. Auf Schildern wie „Integration statt Ghetto“, „Müller [der Regierende Bürgermeister] macht Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse“ oder Ähnlichem erklärten sie sich solidarisch mit den Flüchtlingen und forderten, die Schaffung eines Ghettos im Tempelhofer Flughafen zu verhindern.

Kein einziger Redner unterstützte den Senat, viele dagegen zeigten sich entsetzt über die Behandlung von geflüchteten Menschen in den Flughafenhangars und anderen Massenunterkünften. Bereits jetzt leben 2500 Menschen in vier Hangars unter menschenunwürdigen Bedingungen, und dies schon seit letzten Oktober – ohne Duschen, kaum Waschmöglichkeiten, mit außenliegenden Dixietoiletten, unter Bedingungen von Lärm und qualvoller Enge. Zwölf Personen sind in einem Zelt, zehn Personen in einem nach oben offenen Messebaumodul zusammengepfercht, pro Person gibt es nur zwei Quadratmeter Wohnfläche! (Wir berichteten)

Der Senat will nun drei weitere Hangars belegen, sowie auf dem Flughafenvorplatz Traglufthallen und modulare Unterkünfte sowie sogenannte „Integrationseinrichtungen“ errichten, wie Kindergarten, Großküche, Sportplatz und eine Art Schule. Dafür soll das Tempelhof-Gesetz – angeblich „vorübergehend“ bis Ende 2019 – geändert werden. Dieses Gesetz wurde 2014 durch Volksentscheid erstritten. Es verfügt ein Bebauungsverbot des Tempelhofer Flughafenfelds, um es als Erholungsgebiet für die Bevölkerung zu erhalten und den Bau von Luxuswohnungen zu verhindern, die die Mieten in den angrenzenden, ärmeren Wohngegenden noch mehr in die Höhe treiben würden.

Der Senat hatte zur Bürgerversammlung eine ganze Riege von Staatssekretären geschickt – neben dem Staatssekretär für Verkehr und Umwelt, Christian Gaebler (SPD), den Staatssekretär für Bildung Mark Rackles (SPD), den Staatssekretär für Soziales Dirk Gerstle (CDU), sowie den Leiter des im letzten Jahr neugeschaffenen „Koordinierungsstabs für Flüchtlingsmanagement“, Staatssekretär Dieter Glietsch (SPD), der bis 2011 Polizeipräsident von Berlin war. Außerdem saß die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg Monika Schöttler (SPD) auf dem Podium. Im Publikum anwesend waren weitere Bezirksbürgermeister der angrenzenden Bezirke sowie der Leiter der privaten Betreibergesellschaft Tamaja GmbH, Michael Elias.

Sozialsenator Mario Czaja (CDU), der wegen der katastrophalen Zustände am mittlerweile weltweit berüchtigten LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) unter Druck steht, hatte seine angekündigte Beteiligung abgesagt. In der Senatskanzlei gingen Befürchtungen um, es könnte zu Turbulenzen auf der Versammlung kommen. An den Eingängen wurden Sicherheitskontrollen durchgeführt und Wasserflaschen abgenommen.

„Große Ankommenszentren“

Die einleitenden Erläuterungen vom Podium, aufgrund der vielen nach Berlin kommenden Flüchtlinge habe der Senat keine andere Wahl, als den Tempelhofer Flughafen zur Groß-Unterkunft auszubauen, gingen zeitweise in Buhrufen unter und wurden durch zahlreiche Zwischenrufen wie „Lügner“, „Aufhören“, „Komm mal zum Thema“ unterbrochen.

Als Staatsekretär Glietsch erklärte, man müsse „zugegebenermaßen“ die eigenen Mindeststandards nach unten „verschieben“, brach lautes Hohngelächter aus! Glietsch versuchte zu beschwichtigen. Niemand wolle, dass Menschen dort längere Zeit zubringen müssen. Am Ende behauptete er sogar, die Standards seien gar nicht so schlecht, man könne sie nicht als „menschenunwürdig“ bezeichnen. Große Unruhe im Saal!

Staatsekretär Gerstle hantierte mit neuen Wortschöpfungen wie „große Ankommenszentren“. Er bemäntelte damit den Ghetto-Charakter des geplanten Massenlagers – das heißt eines „eigenen Stadtviertels“ für Flüchtlinge, „abgetrennt von der übrigen Bevölkerung“, wie es der Duden mit Blick auf das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den vergangenen Jahrhunderten erläutert.

Staatssekretär Gaebler bemühte die bereits in der Vergangenheit vom Regierenden Bürgermeister vorgebrachte Behauptung, es gehe dem Senat lediglich um Hilfe für „Menschen auf der Flucht“, um Vermeidung von Obdachlosigkeit. Man habe „Respekt vor dem Volksentscheid“ – Hohngelächter! – und wolle daher „nur kurzfristig“ modulare Bauten aufstellen. Das Bebauungsverbot sei damit nicht aufgehoben, behauptete er, aber ein „Behausungsverbot“. Ziel sei es, „Integrations- und Willkommenskonzepte“ zu realisieren.

Als Gaebler erklärte, der Senat habe zu diesem Zweck auch das Recht, Gesetze zu ändern, gab es lautstarke Proteste und Pfiffe, und einige hielten ein Schild hoch: „Demokratie statt Diktatur“.

Besonders lautes Hohngelächter brach aus, als Staatssekretär Rackles seinen Beitrag mit den Worten begann, diese Versammlung sei „gelebte Demokratie“. Auch er fand neue Wortkombinationen, um die Politik des Senats im rosigen Licht erscheinen zu lassen. Der Senat wolle nicht, wie berichtet, eine Flüchtlingsschule auf dem Gelände errichten, sondern eine Einrichtung namens „Fit für die Schule“. Hier würden bis zu 300 Kindern erste Sprachkenntnisse beigebracht. Danach sollten sie in benachbarte Schulen eingegliedert werden. Der Senat sei gegen eine große Ballung von Flüchtlingskindern. „Kernziel“ sei es, so Rackles wörtlich, „die große Menge handhabbar zu machen“.

„Dies erinnert an Konzentrationslager“

In der Aussprache meldeten sich viele Anwohner, ehrenamtliche Flüchtlingshelfer und Unterstützer des Volksentscheids zu Wort. „Tempelhof ist die größte, schlechteste und wahrscheinlich teuerste Flüchtlingsunterkunft in Berlin“, rief Georg Classen vom Flüchtlingsrat unter großem Jubel, und daher fordere er die Schließung. Er schilderte die menschenunwürdige Situation in den Flughafenhangars, in denen die Menschen nicht kurzfristig, sondern schon seit Monaten leben müssen. „Zwei Quadratmeter pro Person, keine Privatsphäre, ohne jede Perspektive“, sagte er. „Die Menschen können nachts nicht schlafen, sie werden krank. … So können Sie nicht mit den Menschen umgehen.“

Auch ein junger Libanese, der schon länger in Berlin lebt, mischte sich in die Diskussion: „Meine Eltern sind aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet. Wir hatten Riesenglück, dass es damals noch keine Lager gab“, sagte er. „Als wir in ein Flüchtlingsheim kamen, waren wir mehrere Familien und hatten Kontakt zu Deutschen, ich habe mit deutschen Kindern gespielt. Wie soll das in der Tempelhofer Unterkunft gehen? Wie sollen Kinder hier Deutsch sprechen, wenn es keine Deutschen um sie herum gibt? Wie denn, sie werden noch nicht einmal aus diesem Flughafen hier herauskommen!“

Eine ehrenamtliche Helferin, die unter anderem Deutschkurse in den Hangars unterstützt, sagte aufgewühlt ans Podium gerichtet: „Sie haben hier den Ehrenamtlichen gedankt. Ich muss sagen, ich brauche Ihren Dank nicht! Wissen Sie eigentlich, wie das ist in den Hangars? Bei diesem Lärmpegel! Ich bin nach eineinhalb Stunden Deutschunterricht jedes Mal völlig erledigt. Was sollen da die Flüchtlinge sagen, die hier 24 Stunden leben müssen, die keine Duschen haben, keine Möglichkeit sich Essen zuzubereiten, keine Möglichkeit zur Ruhe zu kommen und keine Möglichkeit, mit der schon länger hier lebenden Bevölkerung in Kontakt zu kommen.“

Andere Sprecher verwiesen auf die vielen Leerstände in Berlin, auf Gebäude und Wohnungen, die eine bessere Unterbringung für die Menschen ermöglichen würden, aber von Investoren und Wohnungsgesellschaften zu Spekulationszwecken leer gezogen werden.

Ein älterer Mann berichtete von dem drohenden Abriss von Häusern in seiner Nachbarschaft, die der Wohnungsgenossenschaft WBV Neukölln gehören. „Heute kosten diese Wohnungen 4,23 Euro/qm, nach Abriss und Neubau sollen sie 8,50 Euro/qm kosten. Stellen Sie sich das vor: Hier sollen 8000 Flüchtlinge in Hallen leben! Aber die Wohnungsgenossenschaft will Wohnungen abreißen, die bewohnbar sind. Die haben Strom, die haben warmes Wasser, die haben Heizungen. Das sind geeignete Wohnungen für Familien mit kleinen Kindern. Wir fordern seit Monaten, dass diese Wohnungen mit Flüchtlingen belegt werden.“

Er fügte hinzu, dass die Behörden es abgelehnt hätten, mit der Wohnungsgenossenschaft über eine Belegung zu verhandeln. „Keine Zugriffsmöglichkeiten“, habe der Baustadtrat von Neukölln gesagt. Später antwortete die Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey (38 Jahre, SPD) auf diesen Beitrag mit der entlarvenden Aussage: „Nur wenn es die Eigentümer wollen, können wir mit ihnen darüber verhandeln. Eigentum hat in Deutschland Schutz. Das ist Privateigentum.“ Nur in den vorderen Reihen, die für hochbezahlte Angehörige der Senatskanzlei und der verschiedenen kommunalen Bezirksämter reserviert waren, gab es hierzu einigen Beifall.

Die Gefühle im Saal brachte eine ältere Anwohnerin aus Tempelhof auf den Punkt. Nachdem sie ihren Unmut über die Senatspolitik zur Ausdruck gebracht hatte, rief sie: „Ich finde die Politik inzwischen nur noch zum Kotzen.“

Schließlich bemerkte ein weiterer Anwohner des Tempelhofer Felds kurz und bestimmt: „Mir ist nicht Angst vor 7000 oder auch 10.000 Flüchtlingen. Sondern mir ist Angst vor diesem Senat, der innerhalb einer Legislaturperiode ein durch Volksentscheid entstandenes Gesetz erst beschließt und dieses dann wieder zurücknimmt und damit gegen die Verfassung verstößt (…) Ich stelle fest, die Bundesrepublik Deutschland führt wieder Kriege, und da haben wir jetzt, wie Sie sagen, eine Zusammenballung von Menschen hier. Ja, dann sagen Sie doch gleich, wir bauen wieder Konzentrationslager.“

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