Krieg und Revolution: 1914-1917

Wir veröffentlichen hier den Vortrag, den Nick Beams, Mitglied der Internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, am 8. April gehalten hat. Dies ist die dritte in einer Reihe von fünf internationalen Online-Vorträgen, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) anlässlich des einhundersten Jahrestages der Russischen Revolution von 1917 veranstaltet hat.

Mein Vortrag zu Krieg und Revolution 1914-1917 dreht sich um einen sehr wichtigen Punkt, den David North bei der Eröffnung dieser Vortragsserie aufbrachte.

Im siebten von seinen zehn Gründen, warum die Russische Revolution studiert werden muss, heißt es:

Die Russische Revolution verdient ein gründliches Studium als entscheidendes Stadium in der Entwicklung der wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie. Mit der historischen Leistung der Bolschewiki von 1917 wurde der innere Zusammenhang zwischen der Philosophie des wissenschaftlichen Materialismus und der revolutionären Praxis sowohl bewiesen als auch auf eine neue Stufe gehoben.

Diese Herangehensweise ist aus drei zusammenhängenden Gründen äußerst wichtig.

Zunächst ist eine materialistische Herangehensweise der Schlüssel, um das Wesen des Ersten Weltkriegs zu verstehen, seine Wurzeln und Ursachen wie auch seine anhaltende Bedeutung für unsere heutige Zeit.

Zweitens können wir hierdurch die objektiven Ursachen der Russischen Revolution ausmachen, die denselben Veränderungen im globalen Kapitalismus entsprangen, die auch den Krieg hervorgebracht hatten.

Drittens können wir somit den wesentlichen Inhalt der revolutionären Strategie begreifen, die vor allem auf Lenin zurückging und die erfolgreiche Machteroberung durch die Arbeiterklasse unter Führung der Bolschewiki im November 1917 zum Ergebnis hatte.

Diese zunächst möglicherweise noch etwas abstrakt erscheinenden Punkte werden hoffentlich klarer, wenn wir uns auf die Spur der Ereignisse selbst begeben und Lenins politischer Analyse folgen.

Krieg und Revolution: 1914-1917

Die objektiven Ursachen des Ersten Weltkriegs

Wenden wir uns zunächst der Frage des Ersten Weltkriegs zu. Mehr als 100 Jahre nach seinem Ausbruch am 4. August 1914 bleibt die Frage nach den Ursachen weiterhin umstritten. Der Grund dafür ist die Bedeutung dieser Analyse für heutige Ereignisse.

Es gibt, grob gesagt, zwei gegensätzliche Positionen – die des Marxismus und verschiedene Formen der bürgerlich-liberalen Geschichtsschreibung.

Die marxistische Analyse lautet im Kern, dass der Krieg das Ergebnis von Konflikten war, die ihre Wurzeln im objektiven und unversöhnlichen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise haben. Dieser Widerspruch ist der zwischen dem globalen Charakter der Wirtschaft und dem Nationalstaatensystem, auf dem das Profitsystem aufbaut.

Alle entgegengesetzten Theorien gehen letztlich davon aus, dass der Krieg aus politischen Fehlern, Fehleinschätzungen und Fehlurteilen verschiedener bürgerlicher Politiker hervorging. Man hätte ihn demnach verhindern können, wenn sich nur klügere Köpfe durchgesetzt hätten.

Mit diesen gegensätzlichen Einschätzungen sind direkt politische Fragen verbunden. Wenn die marxistische Analyse richtig ist, dann folgt daraus unmittelbar, dass Krieg und die Gefahr der Massenvernichtung nur zu beenden sind, indem das kapitalistische System – das auf Profit und Nationalstaaten beruht – durch eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ersetzt wird.

Darum haben bürgerliche Politiker, nachdem sie über vier Kriegsjahre hinweg die größte Zerstörung in der Menschheitsgeschichte organisiert hatten, von Anfang an versucht, sich und das kapitalistische System, das sie vertraten, von jeder Verantwortung freizusprechen. Der Krieg entstand beinah unvermeidlich, folgt man dem damaligen britischen Premierminister Lloyd George. Ihm zufolge war der Krieg etwas, in das die Großmächte „hineinschlitterten oder, besser gesagt, hineinstolperten und -fielen“. „Die Nationen schlitterten über den Rand in den brodelnden Hexenkessel des Krieges, ohne eine Spur von Besorgnis oder Bestürzung.“ [1]

Im Gefolge der kapitalistischen Politiker gaben sich auch bürgerliche Historiker große Mühe, die marxistische Analyse zu widerlegen, dass mit dem Ersten Weltkrieg die Widersprüche des Weltkapitalismus gewaltsam aufgebrochen waren. Laut dem britischen Historiker Niall Ferguson zum Beispiel gibt es kaum Beweise dafür, dass die Unternehmer Krieg wollten, vielmehr hätten sie ihn sogar wegen seiner Folgen gefürchtet. Daher, meint er, kann die marxistische Interpretation von den Ursprüngen des Krieges „gemeinsam mit den politischen Regimes, die sie am eifrigsten hegten und pflegten, auf den Müllhaufen der Geschichte“. [2] Darauf könnte man erwidern, dass Unternehmer auch keine Rezessionen und Wirtschaftskrisen möchten, was sie aber nicht verhindert.

Wenn es aber alles ein Ergebnis von Fehleinschätzungen und Fehlurteilen war, warum ereignete sich dann kaum zwei Jahrzehnte nach dem „Krieg, der alle Kriege beendet“ eine noch größere Katastrophe mit dem Ausbruch der Zweiten Weltkriegs 1939? Und warum befindet sich die Welt heute in einer Situation, die fatal der Lage ähnelt, die beiden Weltkriegen vorausging – zahllose Konfliktherde (in Osteuropa, dem Südchinesischen Meer, in Nahost, um nur einige zu nennen) und wachsende Spannungen zwischen den kapitalistischen Großmächten?

Der Marxismus beruft sich in seiner Analyse auf das Diktum des preußischen Militärwissenschaftlers von Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.

Wie also waren die politischen Beziehungen in der Periode beschaffen, die dem Ersten Weltkrieg vorausging und diesen hervorbrachte?

Das kann nur durch eine wissenschaftliche, d.h. materialistische Analyse erfasst werden, nach der die politischen Beziehungen letztlich Ausdruck der wirtschaftlichen Entwicklung in der kapitalistischen Ökonomie sind.

Natürlich treffen kapitalistische Politiker Entscheidungen, so auch in den Krieg zu ziehen. Es gibt kein ökonomisches Gesetz, nach dem an einem bestimmten Datum ein Krieg ausbrechen muss.

Aber ihre Entscheidungen finden innerhalb des politischen und wirtschaftlichen Rahmens statt, in dem sie sich bewegen und durch den sie die Interessen des kapitalistischen Nationalstaats, den sie führen, wahren wollen. An einem bestimmten Punkt, ob herbeigesehnt oder nicht, stellt sich die Entscheidung zum Krieg für sie als das geringere Übel dar.

Wenn wir die breiteren Zusammenhänge betrachten, so zerfällt die Periode vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in zwei Teile.

Die Französische Revolution 1789-1793 war der Anbruch einer neuen historischen Epoche: Mit ihr begann der Umsturz der überkommenen feudalistischen Regimes, sie machte den Weg frei für die Entwicklung kapitalistischer Nationalstaaten.

In der Zeit von 1789 bis 1871 wurde durch eine Reihe von nationalen Kriegen und Revolutionen der Rahmen für die modernen kapitalistischen Nationalstaaten geschaffen. Die Entwicklung kulminierte in der Gründung des deutschen Nationalstaats durch Bismarck am Ende des deutsch-französischen Kriegs.

Zusammen mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, der mit dem Sieg des industriellen Nordens endete, boten diese Nationalstaaten ein mächtiges Sprungbrett für die Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus. Dieser Prozess leitete wiederum eine neue Epoche ein.

Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und das erste Jahrzehnt im 20. Jahrhundert waren nicht von nationalen Kriegen gegen die Überreste des Absolutismus geprägt, sondern vom Kampf der aufstrebenden kapitalistischen Großmächte um die Kolonien. Afrika war beispielsweise im Jahre 1875 noch kaum kolonialisiert. In den 25 Jahren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Kontinent dann fast vollständig unter Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Belgien aufgeteilt.

Die politische Struktur der Welt wurde von diesen wirtschaftlichen Entwicklungen verändert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Großbritannien die vorherrschende kapitalistische Macht auf der Weltbühne gewesen. Großbritannien war führend in der Warenproduktion und beherrschte die Meere.

Doch neue Rivalen wuchsen heran: In Europa war dies Deutschland, das einen gewaltigen Industrialisierungsprozess durchlebte, im Osten Japan und im Westen waren es die Vereinigten Staaten, die in den Kampf um Kolonien mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 eintraten und nachfolgend die Philippinen unterwarfen.

Jede einzelne unter den kapitalistischen Großmächten suchte, um es mit dem damaligen deutschen Wahlspruch zu sagen, ihren „Platz an der Sonne“. Doch dabei gerieten sie aneinander.

Einmal fragte ein deutscher Diplomat sein britisches Gegenüber, ob die Regierung Ihrer Majestät Einwände gegen die Errichtung deutscher Kolonien habe. Der britische Diplomat erwiderte, dass Whitehall mit dem Aufbau deutscher Kolonien vollkommen einverstanden sei, wenn diese nicht an britische Kolonien angrenzten oder zwischen ihnen lägen. Mit anderen Worten, schloss der deutsche Diplomat: „Nirgendwo.“

Die Spannungen zwischen den kapitalistischen Großmächten verschärften sich. Ein Höhepunkt der innerimperialistischen Rivalitäten war die so genannten Faschoda-Krise 1898, als sich britische und französische Truppen am oberen Nil gegenüberstanden und es beinahe zum Krieg zwischen den Großmächten gekommen wäre.

Ein anderer Streit brach aus, als der deutsche Kaiser seine Unterstützung für die Buren in Südafrika erklärte. Der Balkan wurde unter zum Pulverfass, da nationale Bestrebungen der Herrschaft des Kaisers von Österreich-Ungarn entgegenstanden. An dem Konflikt unmittelbar beteiligt war auch Russland, das seine eigenen Interessen gegenüber dem Westen stärken wollte.

In den Regierungssitzen bemühte man sich, die neue Periode und ihre Folgen einzuschätzen.

Im Jahre 1907 formulierte der Beamte im britischen Außenministerium Eyre Crowe ein längeres Memorandum für den damaligen Außenminister Lord Grey. Crowe sollte einschätzen, ob Deutschland in der gegebenen Situation, in der die deutsche Wirtschaft und der deutsche Einfluss insgesamt stark expandierten, eher friedliche oder kriegerische Absichten habe.

Er kam zu dem Schluss, dass dies letztendlich unerheblich sei, da die Entwicklung selbst und die zunehmenden Interessen Deutschlands weltweit die Interessen des britischen Empire gefährdeten. Daher müsse sich Großbritannien unabhängig von den deutschen Absichten auf einen Krieg vorbereiten. Dieser Krieg brach nur sieben Jahre später aus.

Das unmittelbare Ereignis, das den Ersten Weltkrieg 1914 auslöste – die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand durch einen serbischen Nationalisten im bosnischen Sarajevo am 28. Juni – war eher zufällig. Was darauf folgte, hatte mit Zufall nichts zu tun.

Die Regierung Österreichs fürchtete ein Auseinanderbrechen ihres Landes in Zentral- und Südosteuropa. Wien war entschlossen, die wachsende nationalistische Opposition zu zerschlagen, die vor allem von Serbien ausging, aber – und hier lag eine noch größere Bedrohung – von Russland unterstützt wurde. In Zusammenhang mit der Untersuchung des Mordanschlags wurde eine Reihe von unerfüllbaren Forderungen gegenüber Serbien formuliert, um einen Krieg zu provozieren.

Der Krieg hätte ein lokales Scharmützel bleiben können, wenn nicht die Lage in Österreich mit den wirtschaftlichen und strategischen Interessen aller europäischen Großmächte verbunden gewesen wäre.

In Berlin stellte das Hohenzollern-Regime dem österreichischen Verbündeten einen Blankoscheck aus, alle notwendigen Schritte gegen Serbien zu unternehmen, selbst wenn dies zum Krieg mit Russland führen würde. Nach einer offiziellen Verlautbarung würde es die deutsche Position schwächen, wenn man den Serben erlaubte, mit russischer und französischer Unterstützung die Stabilität der österreichischen Monarchie zu untergraben. Außerdem standen wesentliche wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel.

Rückblickend aus dem Jahre 1917 fasste der deutsche Politiker Gustav Stresemann die Ansicht der mächtigen Industriellenkreise zusammen, für die er sprach: Deutschland habe „gesehen, wie die anderen Welten eroberten, während wir, deren ganze wirtschaftliche und Volkslage darauf hindrängte, größer zu werden, wir, die wir ein wachsendes Volk mit wachsender Weltwirtschaft, wachsendem Welthandel waren, die Welt immer mehr in Interessensphären geteilt sahen, die Welt unter dem Zepter anderer sahen, so dass für uns der Wettbewerb, den wir zum wirtschaftlichen Ausatmen brauchten, sich verengte.” [3]

Doch auch für Frankreich, das im Konflikt mit Deutschland Russland unterstützte, standen vitale Interessen auf dem Spiel. Die Annexion von Elsaß-Lothringen durch Deutschland 1871 führte, wie Marx bereits vorhergesehen hatte, zu einer Allianz zwischen Frankreich und Russland, in der beide Länder gegen Deutschland rüsteten.

Im Konflikt zwischen Deutschland und Russland konnte Frankreich nicht neutral bleiben, denn – wie der französische Präsident Poincaré später erläuterte – das Ausscheiden aus einer Allianz, die über ein Vierteljahrhundert Bestand hatte, „hätte uns in die Isolation geführt und uns der Gnade unserer Rivalen ausgeliefert“. [4]

Auch für Großbritannien ging es um höchstwichtige strategische und wirtschaftliche Interessen. Die britische Politik beruhte auf einem ausgeglichenen Kräfteverhältnis in Europa, damit keine einzelne Macht oder Mächtekonstellation die britische Weltherrschaft in Fragen stellen konnte, die auf dem Empire und vor allem auf der Ausplünderung Indiens fußte.

In einer bemerkenswert offenen Stellungnahme erläuterte der damalige Erste Lord der Admiralität Winston Churchill seine Position während einer Debatte um die Ausgaben für die Marine 1913/1914:

„Wir haben so viele Gebiete, wie wir möchten, und unser Anspruch auf ungehinderten Genuss unserer ausgedehnten und herrlichen Besitzungen, die wir hauptsächlich mit Gewalt erobert und durch Stärke behalten haben, erscheint anderen oft weniger vernünftig als uns.“ [5]

Nach einigen Schwankungen entschied sich Großbritannien dann folgerichtig, Frankreich zu unterstützen und gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen.

Die wahren Kriegsziele wurden selbstverständlich nie erklärt. Wie kann eine Regierung der Bevölkerung erklären, dass sie die Blüte der Jugend in den Tod und die Verstümmelung auf dem Schlachtfeld schickt, um Profitinteressen zu wahren und den Zugang zu Rohstoffen, Kolonien und Märkten zu sichern? Die Großmächte verbargen ihre tatsächlichen Beweggründe unter einem unaufhörlichen Strom von Lügen, der sich aus den Massenmedien ergoss.

In Deutschland wurde der Krieg zur „Verteidigung des Vaterlandes“ geführt, um die deutsche Kultur und Wirtschaft angesichts der russischen Barbarei zu bewahren.

Frankreich erklärte, man verteidige die Ideale der französischen Politik, das Erbe der Französischen Revolution – Freiheit und Gleichheit – gegen die preußische Selbstherrschaft, auch wenn man dies in Allianz mit dem despotischen Zarenregime tat.

Großbritannien erklärte, es trete in den Krieg ein, um die Neutralität des „kleinen Belgiens“ zu verteidigen, die so grausam von den „Hunnen“ verletzt wurde, auch wenn sich die Briten natürlich nicht anders verhalten hätten.

Und als die Vereinigten Staaten im April 1917 in den Krieg eintraten, um ihre eigenen strategischen und finanziellen Interessen zu vertreten, so trugen auch sie zu diesem Berg an Lügen bei, als sie erklärten, man wolle im Krieg „die Welt für die Demokratie sicher machen“.

Der Verrat der Zweiten Internationale

Der Ausbruch des Krieges kam für die marxistische Bewegung nicht überraschend. Tatsächlich hatte Friedrich Engels ihn schon im Jahre 1887 vorhergesagt.

Der einzige Krieg, der dem preußischen Deutschland noch übrig bliebe, schrieb er, wäre ein Weltkrieg, eine Gewalt von bislang ungesehenem Ausmaß.

„Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt”.

Es war unmöglich, vorherzusehen, schreib Engels, „wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat [ist] absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. - Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt.” [6]

Die Zweite Internationale bestand aus sozialdemokratischen Parteien, die sich auf den Marxismus beriefen. Sie hatte die wachsenden Rivalitäten zwischen den Großmächten beschrieben und auf die Kriegsgefahr hingewiesen, die aus dem Kampf um Märkte und Profite erwuchs.

Aber wenn der Kriegsausbruch selbst auch keine Überraschung war, so war die Reaktion der führenden Parteien in der Zweiten Internationale darauf doch ein Schock.

Am 4. August 1914, als deutsche Truppen in Belgien einmarschierten mit dem Ziel, Frankreich zu erobern, stimmten die Parlamentsabgeordneten der deutsche SPD – der führenden Partei in der Zweiten Internationalen – einstimmig für die Kriegskredite. 14 von den 92 Abgeordneten waren dagegen, aber sie unterwarfen sich bei der Abstimmung im Reichstag der Fraktionsdisziplin. Die französischen Sozialisten folgten diesem Beispiel und erklärten ihre Unterstützung für die eigene Nation.

Diese Entscheidungen standen in krassem Gegensatz zu den Resolutionen, die auf den Kongressen der Zweiten Internationale verabschiedet worden waren. 1907 hatte die Internationale auf einem Kongress in Stuttgart erklärt, dass es die Pflicht aller Parteien sei „alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern“.

Die Resolution legte sodann fest:

„Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ [7]

Der Basler Kongress 1912 fand statt, als sich die Kriegswolken bereits auftürmten, und bestätigte dieselbe Resolution nochmals. Man hielt am Wortlaut der Stuttgarter Erklärung fest und bezog sich zudem auf die Pariser Kommune und die Russische Revolution von 1905, um noch deutlicher zu machen, was gemeint war.

Lenins Reaktion auf den Krieg stützte sich auf die Analyse, die in den Jahren vor dem Ausbruch entwickelt worden war: Es handelte sich um einen imperialistischen Krieg um Kolonien und Profite.

Von Beginn an bestand Lenin darauf, dass der Verrat der Zweiten Internationale ihren Tod bedeute. Es war notwendig, politisch, ideologisch und organisatorisch mit ihr zu brechen.

Gegen alle Versuch, die Bedeutung der Ereignisse herunterzuspielen, so Lenin, musste man den Zusammenbruch der Internationale in seinen Ursachen begreifen, damit man einen neuen, festeren sozialistischen Zusammenschluss der Arbeiter aller Länder herbei führen konnte.

Lenins revolutionärer Defätismus

Lenins strategischer Plan für den Aufbau einer neuen Dritten Internationale ist zusammengefasst in der Perspektive, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, die nach Kriegsausbruch formuliert wurde.

„Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung. Das zeigt die Erfahrung der Kommune, das ist im Basler Manifest (1912) vorgesehen, und das ergibt sich aus den ganzen Bedingungen des imperialistischen Krieges zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern.“ [8]

Lenins gesamte Arbeit in der darauffolgenden Periode bis zur und im Zuge der Russischen Revolution, die ihren Höhepunkt in der Eroberung der politischen Macht im Oktober 1917 fand, war dieser Perspektive verpflichtet, und zwar nicht nur, wie man betonen muss, in Bezug auf Russland, sondern mit Blick auf die internationale Ebene.

Das Wesen des Krieges selbst, eines Weltkrieges, der die Arbeiter aller Länder in Tod und Verderben riss, bedeutete, dass die Strategie und Taktik des Proletariats nur auf internationaler Ebene und auf Grundlage einer gemeinsamen Perspektive entwickelt werden konnte. Wie Trotzki später formulierte, läutete im August 1914 die Totenglocke für alle nationalen Programme.

Bevor wir uns mit den verschiedenen Aspekten von Lenins Werk beschäftigen, möchte ich mögliche Missverständnisse ausräumen, was die Parole von der „Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg” bedeutet.

Es handelt sich nicht um einen radikalen Spruch. Lenin war ein konsequenter Gegner jener kleinbürgerlichen Politik, die typisch ist für anarchistische, halbanarchistische und syndikalistische Tendenzen: die lautstarke Verkündung von radikalen Aktionen.

Es bedeutet also nicht, auf die Straße zu gehen und zum Bürgerkrieg aufzurufen. Es bedeutete auch keineswegs den Rückgriff auf Sabotageakte und ähnliche Aktionen – Brücken sprengen, wie Lenin es nannte – um die Krise künstlich zu vertiefen.

Es handelte sich vielmehr um eine politische Linie, um der internationalen Arbeiterklasse durch Propaganda, Bildung und Agitation die historische Bedeutung des Krieges klar zu machen und sie auf die Aufgaben vorzubereiten, denen sie in Kürze gegenüberstehen würde.

Wie weit diese Perspektive von radikaler Phrasendrescherei entfernt war, kann man an einer Resolution ablesen, die Lenin im März 1915 verfasste. Hier formulierte er als „erste Schritte in Richtung auf die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg [...]: 1. unbedingte Ablehnung der Kriegskredite und Austritt aus den bürgerlichen Kabinetten; 2. völliger Bruch mit der Politik des „nationalen Friedens" (bloc national, Burgfrieden); 3. Bildung illegaler Organisationen überall dort, wo Regierung und Bourgeoisie unter Verhängung des Belagerungszustandes die verfassungsmäßigen Freiheiten aufheben; 4. Unterstützung der Verbrüderung der Soldaten der kriegführenden Nationen in den Schützengräben und auf den Kriegsschauplätzen überhaupt; 5. Unterstützung aller revolutionären Massenaktionen des Proletariats überhaupt.” [9]

Lenin erkannte klar, dass solche revolutionären Aktivitäten das Land schwächen, das sich im Krieg befindet, und zu seiner Niederlage beitragen. Doch ein „Proletarier kann nicht seiner Regierung einen Schlag im Interesse der eigenen Klasse versetzen oder seinem Bruder, dem Proletarier des ‚fremden‘, mit ‚uns‘ kriegführenden Landes (in der Tat) die Hand hinstrecken, ohne ‚Hochverrat‘ zu begehen, ohne an der Niederlage mitzuwirken, ohne zum Zerfall der ‚eigenen‘ imperialistischen ‚Groß‘macht beizutragen“. [10]

Das Wesen des Imperialismus

Die Ausarbeitung einer Strategie des revolutionären Defätismus – in Opposition zur Vaterlandsverteidigung, – die den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umwandeln sollte, basierte auf einer wissenschaftlichen Analyse zum Wesen des Imperialismus.

Die Frage des Imperialismus wurde sowohl in den Reihen der marxistischen Bewegung wie auch darüber hinaus in der Vorkriegsperiode intensiv diskutiert.

1902, nach dem Burenkrieg, veröffentlichte der britische Sozialliberale John Hobson seine höchst einflussreiche Studie über den Imperialismus.

Der Begriff Imperialismus war nicht neu. Doch früher wurde er in Hinblick auf die Konsolidierung eines starken Nationalstaats bezogen. Hobson unterschied den „neuen Imperialismus“ vom alten, insofern ersterer die „Theorie und Praxis rivalisierender Imperien“ und die Dominanz des Finanzkapitals über Handelsinteressen beinhalte Dies führte zu einem Wachstum des Finanzparasitismus, bei dem Vermögen nicht mehr vorrangig durch Manufaktur und Handel erwirtschaftet werde, sondern vielmehr durch einen enormen Tribut, der aus den Kolonien und abhängigen Gebieten stamme, sowie den Aufstieg einer Finanzaristokratie, die ihr gewaltiges Vermögen nutze, um die unteren Klassen zu bestechen und dadurch ihre Herrschaft abzusichern.

1910 veröffentlichte der österreichische Marxist Rudolf Hilferding sein Werk Das Finanzkapital, mit dem Marx Analyse erweitern und das enorme Wachstum des Finanzsektors seit Marx’ Tod einbeziehen wollte.

„[D]as Verständnis der gegenwärtigen Wirtschaftstendenzen, damit aber auch jede wissenschaftliche Ökonomie und Politik [ist] ohne Kenntnis der Gesetze und der Funktion des Finanzkapitals unmöglich“, stellte Hilferding fest. [11]

Diese beiden Werke beeinflussten Lenin stark, als er an der theoretischen Grundlage seiner Perspektive arbeitete. Er folgte besonders Hobsons Analyse des Finanzparasitismus und den Schlussfolgerungen, die Hilferding in Bezug auf den Einfluss des Finanzkapitals auf die Politik zog.

Hilferding hatte herausgearbeitet, dass die Dominanz des Finanzkapitals das Ende der liberalen bürgerlichen Politik des 19. Jahrhunderts bedeutete, die auf freiem Wettbewerb und fortschreitender Demokratisierung beruhte. Das Finanzkapital musste eine neue Ideologie durchsetzen, um seine Ziele zu erreichen. „Diese Ideologie ist aber der des Liberalismus völlig entgegengesetzt; das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“.

Während der alte Liberalismus die internationale Machtpolitik ablehnte, verlange das Finanzkapital einen starken „Staat, der überall in der Welt eingreifen kann, um die ganze Welt in Anlagesphären für sein Finanzkapital verwandeln zu können.“ [12]

Dies bestimmte die Politik jeder Großmacht, ob in Form der demokratischen Republik oder des absolutistischen Regimes. Die Politik des Finanzkapitals ist, wie Lenin feststellte, „politische Reaktion auf der ganzen Linie“.

In seinem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, an dem er 1915 fortlaufend gearbeitet hatte, brachte Lenin all die Analysen zusammen, die er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs entwickelt hatte. Anhand detaillierter Daten zeigte er das Wesen der neuen Epoche auf und wies nach, dass der Krieg das Ergebnis der räuberischen Gier des Finanzkapitals nach Märkten, Profiten und Kolonien war.

Wie alle großen marxistischen Werke ist auch Lenins Imperialismus polemisch. Es richtet sich gegen Karl Kautsky, den führenden Theoretiker der SPD in der Vorkriegszeit, der wesentlich zur theoretischen Rechtfertigung des Sozialchauvinismus beigetragen hatte.

Nach Kautsky war der Imperialismus nicht ein bestimmtes Stadium oder eine Phase in der Entwicklung des Kapitalismus sondern vielmehr eine „bevorzugte“ Politik von Teilen der Bourgeoisie, die in dem Streben der Industrienationen bestand, große Teile von Agrarland unter ihre Kontrolle zu bringen.

Diese Definition ging über das zentrale Merkmal des Imperialismus hinweg, das eben nicht in der Rolle des Industrie-, sondern des Finanzkapitals bestand.

Wenn es sich beim Imperialismus darüber hinaus einfach um eine „bevorzugte“ Politik handelte, lagen ihre Wurzeln nicht in einer objektiven Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Daraus folgte wiederum, dass die Politik der Arbeiterbewegung darauf ausgerichtet sein konnte, die Zusammenarbeit mit Teilen der Bourgeoisie zu suchen, die eine andere Politik „bevorzugen“ würden.

Kautskys Definitionen hatten einen zentralen politischen Zweck: Sie dienten als Rechtfertigung dafür, die Perspektive der sozialistischen Revolution abzulehnen.

Lenins Analyse im Imperialismus hatte drei Kernbestandteile:

1. Sie zeigte, dass der Krieg einer objektiven Stufe in der kapitalistischen Entwicklung entsprang, verbunden mit der Entstehung von Monopolen, die sich im Konkurrenzkampf herausbildeten, und dem Aufstieg des räuberischen Finanzkapitals. Es handelte sich nicht um eine „bevorzugte“ Politik.

2. Die Vorherrschaft des Finanzkapitals, der Übergang zum Monopolkapitalismus mit riesigen Unternehmen, Banken und Finanzinstitutionen, die auf Weltebene operierten, hatte nicht nur zum Krieg geführt. Dieselben Entwicklungen hatten einen gewaltigen Wandel in den gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion verursacht, eine ungeheure Vergesellschaftung von Produktion und Arbeit.

Der Imperialismus, der auf der Vorherrschaft des parasitären Finanzkapitals beruht, war nicht nur ein dem Tode geweihter Kapitalismus. Die Wandlungen, die er mit sich gebracht hatte, die Vergesellschaftung der Produktion, bedeuteten den Beginn eines Übergangs zum Sozialismus, der in der kapitalistischen Wirtschaft selbst angelegt war. Dieser Übergang konnte allerdings nur realisiert werden durch den Sieg über den Opportunismus und seine Dominanz über die Arbeiterbewegung.

3. Der Opportunismus war nicht einfach das Ergebnis eines Verrats von einzelnen Parteiführern. Er war verbunden mit objektiven Prozessen in Verbindung mit dem Imperialismus und organisch verwachsen mit den Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse. Der Imperialismus hatte zur Aneignung von Überprofiten aus den Kolonien durch die kapitalistischen Großmächte geführt. Dies versetzte die Bourgeoisie dieser Länder in die Lage, eine privilegierte Schicht von Kleinbürgern, Journalisten, Gewerkschaftsbürokraten, besser gestellten Angestellten, und eine privilegierte Schicht in der Arbeiterklasse zu schaffen, die materielle Vorteile genoss – Brotkrumen von der Tafel des imperialistischen Banketts.

Aus dieser Analyse leitete Lenin weitreichende Schlussfolgerungen ab.

Der Imperialismus hatte zur Verwandlung der offiziellen Führung der Arbeiterklasse in Agenten der Bourgeoisie geführt. Hieraus ergab sich die materielle Notwendigkeit für den Aufbau einer Dritten Internationale.

Wie dieser Kampf zu führen sei, war die Schlüsselfrage.

Der Kampf gegen Opportunismus

Die privilegierten Schichten, die eine soziale Basis für die „Verteidigung des Vaterlandes“ bildeten, waren eine Minderheit. Es war notwendig, den untersten Massen der Bevölkerung zu erklären, warum man mit dem Opportunismus brechen musste. Auf diese Weise würde man sie für die Revolution ausbilden.

Hier richtete sich das Feuer hauptsächlich gegen jene, die eine besonders gefährliche Rolle spielten, indem sie die Opportunisten und Sozialchauvinisten mit dem politischen Deckmantel marxistisch klingender Phrasen versahen. Der führende Vertreter dieses Lagers war Kautsky.

Seit Beginn des Krieges, als er nicht gegen die Zustimmung zu den Kriegskrediten opponierte, hatte Kautsky dem Sozialchauvinismus eine internationalistische Anmutung verpasst.

Im Oktober 1914 schrieb Kautsky: „Alle haben das gleiche Recht oder die gleiche Pflicht, ihr Vaterland zu verteidigen; der wahre Internationalismus besteht in der Anerkennung dieses Rechts für die Sozialdemokraten aller Nationen, darunter auch derjenigen, die mit meiner Nation Krieg führen“. [13]

Mit anderen Worten: Wahrer Internationalismus bestand darin, zu rechtfertigen, dass im Namen der „Verteidigung des Vaterlandes“ deutsche Arbeiter auf französische Arbeiter schießen und umgekehrt.

Andere Versuche, dem Opportunismus eine „internationalistische“ Anmutung zu geben, kamen von jenen, die auf Marx‘ Haltung zu den Kriegen des 19. Jahrhunderts anspielten, die zur Gründung der Nationalstaaten in Europa geführt hatten.

In all diesen Kriegen hatte Marx einen internationalistischen Standpunkt eingenommen und versucht einzuschätzen, auf wessen Seite der Sieg am vorteilhaftesten für die Sache der Demokratie wäre und dadurch der Arbeiterklasse zugutekäme. Die gleiche Methode, hieß es, müsse man nun im gegenwärtigen Krieg anwenden. Es sei notwendig auf Basis einer „internationalistischen“ Einschätzung zu bestimmen, auf wessen Seite der Sieg am vorteilhaftesten für die Sache der Arbeiterklasse und des Sozialismus wäre.

Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Positionen Wasser auf die Mühlen der Sozialchauvinisten waren. Die deutschen Opportunisten behaupteten, dass eine Niederlage des russischen Despotismus vom internationalistischen Standpunkt aus am vorteilhaftesten wäre, während für ihre Gegenspieler in Frankreich eine Niederlage der preußischen Selbstherrschaft vorteilhafter schien, auch hier vom internationalistischen Standpunkt aus betrachtet.

Dieser Versuch, dem Sozialchauvinismus ein internationalistisches Mäntelchen umzuhängen, ging vollständig über die gewaltigen Veränderungen hinweg, die sich seit Marx‘ Schriften zur Kriegsfrage vollzogen hatten.

In den ersten sieben Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren nationale Kriege mit dem Sturz des Absolutismus verbunden und fanden an Orten statt, wo die objektiven Bedingungen für den Sozialismus noch nicht herangereift waren. In der späteren Periode jedoch hatten die herrschenden Klassen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und Russland fast 50 Jahre lang eine Politik des Plünderns von Kolonien und der Unterdrückung anderer Nationen betrieben. Eben diese Politik wurde im Ersten Weltkrieg „mit anderen Mitteln“ fortgesetzt, wie Lenin anknüpfend an Clausewitz‘ Diktum erklärte.

In der gegebenen Situation zu entscheiden, der Sieg welcher Seite am vorteilhaftesten wäre, hätte bedeutet zu entscheiden, ob Indien besser durch Großbritannien oder Deutschland ausgeplündert wird, ob China besser von Japan oder Amerika geteilt wird oder ob Afrika besser die Beute Frankreichs oder Deutschlands wird. [14]

Gegen die Vaterlandsverteidiger

Als er die Perspektive vorstellte, den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln, brachte Lenin noch zwei weitere wichtige Argumente vor.

Die Forderung nach einem Ende des Kriegs unter der Parole „weder Sieg noch Niederlage“ warf zwei entscheidende Fragen auf.

Zunächst bot die Forderung eine politische Deckung für die Vaterlandsverteidiger. Schließlich behaupteten die Unterstützer des Kriegstreibens der „eigenen“ Regierung, dass sie gegen die Niederlage kämpften. So erklärte der Führer des rechten SPD-Flügels Eduard David, die Sozialdemokraten hätten am 4. August „nicht für den Krieg, sondern gegen die Niederlage“ gestimmt. [15]

Wenn jemand nicht für den Sieg, aber gegen die Niederlage ist, impliziert dies Opposition gegen einen revolutionären Kampf, da dieser zur militärischen Niederlage der „eigenen“ Regierung führen kann. Demnach hätte man jede solche Aktion ablehnen müssen.

Zudem warf die Forderung „weder Sieg noch Niederlage“ eine weitere, noch wichtigere Frage auf. Sie gründete sich auf die Vorstellung, dass es eine Rückkehr zum Status quo ante gäbe und überging die Tatsache, dass der Krieg einen qualitativen historischen Wendepunkt markierte.

Eine ganze Ära der relativ friedlichen organischen Entwicklung war durch die Kanonenschläge des August 1914 gesprengt worden. Es gab keinen Weg zurück.

Der Kriegsausbruch war das Ergebnis der Wirtschaftsentwicklung im Zeitraum 1871-1914. Eine neue Epoche war heraufgezogen. Ein Friede, bei dem Grundlagen des bestehenden sozioökonomischen Systems fortbeständen, wäre daher nur eine Brutstätte für neue Kriege. Das gesamte System musste durch eine internationale sozialistische Revolution gestürzt werden.

Die gleiche Frage stellte sich in leicht veränderter Form mit Blick auf die Forderung nach „Frieden“, die immer stärker aufkam, als sich die Lage der Masse verschlechterte und die wahre Natur des Krieges zutage trat. Ende 1914 zogen sich die Schützengräben durch ganz Westeuropa und sollten noch vier Jahre dort bleiben. Offensiven und Gegenoffensiven brachten keine Veränderung, nur ein Massenschlachten, und die Hoffnung auf ein schnelles Ende war schnell verflogen.

Die deutsch-polnische Revolutionärin Rosa Luxemburg schrieb im April 1915 in ihrer Berliner Gefängniszelle, wo sie wegen ihrer Kriegsgegnerschaft einsaß:

„Die Szene hat gründlich gewechselt. Der Marsch in sechs Wochen nach Paris hat sich zu einem Weltdrama ausgewachsen; die Massenschlächterei ist zum ermüdend eintönigen Tagesgeschäft geworden, ohne die Lösung vorwärts oder rückwärts zu bringen. Die bürgerliche Staatskunst sitzt in der Klemme, im eigenen Eisen gefangen; die Geister, die man rief, kann man nicht mehr bannen. Vorbei ist der Rausch. [...] Die Regie ist aus. [...] Die Reservistenzüge werden nicht mehr vom lauten Jubel der nachstürzenden Jungfrauen begleitet, sie grüßen nicht mehr das Volk aus den Wagenfenstern mit freudigem Lächeln [...] Das im August, im September verladene und patriotisch angehauchte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in den Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt.“ [16]

Die Kriegsschrecken häuften sich und Lenin verwies auf die große Bedeutung, die der Friedenswunsch unter der breiten Masse der Bevölkerung in den kriegsführenden Ländern gewann. Es war, betonte er, die Pflicht der Sozialisten „sich an jeder Bewegung und an jeder Demonstration, die auf diesem Boden erwächst, aufs leidenschaftlichste“ zu beteiligen.

Vor allem aber mussten sie klar stellen, dass ein Frieden ohne Unterdrückung, Annexion und Plünderung, der nicht den Keim neuer Kriege in sich trug, nur durch eine revolutionäre Bewegung zu erreichen war.

„Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muss für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein“, schrieb Lenin. [17]

Kautsky stellte sich an die Spitze der Opposition gegen diese Perspektive.

Kautsky und andere rechtfertigten ihre Abkehr von der Basler Resolution von 1912 damit, dass diese von der Entwicklung einer revolutionären Situation ausgegangen sei.

Eine solche Situation war bei Ausbruch des Krieges nicht eingetreten – die Massen waren in der imperialistischen Kriegsbegeisterung befangen – und so waren die Bedingungen, von denen die Resolution ausging, nicht gegeben. Die Aussicht auf eine sozialistische Revolution war somit eine Illusion, eine Chimäre. Der Marxismus als wissenschaftliche Perspektive habe sich nicht auf Selbsttäuschung zu stützen, sondern auf eine objektive Beurteilung der Lage.

Fraglos waren große Teile der Bevölkerung von Kriegshysterie ergriffen, als die kriegsführenden Länder die Mobilisierung befahlen. Trotzki fand Gründe dafür in der Massenpsychologie und der anscheinenden Isolation der revolutionären Avantgarde zu Kriegsbeginn.

In Friedenszeiten erreicht der Einfluss der Sozialisten nur die fortschrittlichsten Teile der Arbeiterklasse. Große Teile der Bevölkerung stehen außerhalb der unmittelbaren politischen Kämpfe. Doch mit dem Kriegsausbruch und der beginnenden Mobilisierung werden sie in die Politik hineingezogen.

Sie sind unmittelbar mit Fragen von Leben und Tod konfrontiert, in denen die Regierung und das Militär sich vor ihnen als Beschützer und Verteidiger aufspielen. Diese Gefühle mischen sich mit diffusen Stimmungen des Wandels, der Hoffnung und der Sehnsucht nach einem besseren Leben.

„Hier vollzieht sich das gleiche wie am Beginn einer Revolution“, schrieb Trotzki, „doch mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass die Revolution diese erst erwachten Volkskreise mit der revolutionären Klasse verbindet, der Krieg aber – mit der Regierung und Armee!“

„Wenn dort alle unbefriedigten Bedürfnisse, alle angehäuften Leiden, alle sehnsüchtigen Hoffnungen ihren Ausdruck in revolutionärer Begeisterung finden, so nehmen hier dieselben sozialen Empfindungen zeitweilig die Form patriotischer Trunkenheit an. Weite Kreise der vom Sozialismus berührten Arbeiterschaft werden in denselben Strom hineingezogen.“ [18]

Unter solchen Bedingungen, sagte Trotzki, könne die Partei keinen unmittelbaren revolutionären Kampf führen. Sie könne aber ihrer Kriegsgegnerschaft Ausdruck verleihen, ihr Misstrauen gegenüber der Regierung erklären, gegen die Kriegskredite stimmen und sich auf diesem Weg auf das Umschlagen des Massenbewusstseins vorbereiten, das der Krieg unvermeidlich mit sich bringt.

Wenn dies nicht geschehen war, wenn das Zeichen zur Kriegsmobilisation auch das Zeichen zum Sturz der Internationale geworden war, wenn die nationalen Arbeiterparteien, ohne einen Protest aus ihrer Mitte, sich mit ihren Regierungen und Armeen vereinigten, so musste es dafür tiefe und dabei für die gesamte Internationale gemeinsame Ursachen geben, so Trotzki.

Lenin ging diesen Ursachen auf den Grund und entwickelte dabei die politische Strategie und Taktik, die zur erfolgreichen Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse führte.

Alle Unterstützer der Opportunisten gingen von einem falschen Bild der Situation zu Kriegsbeginn aus.

Lenin zitiert Kautsky vom Oktober 1914 mit den Worten: „Nie ist eine Regierung so stark, nie die Parteien so schwach, wie beim Ausbruch eines Krieges.“

Tatsächlich sei die Lage anders, antwortet Lenin: „Nie ist eine Regierung auf die Zustimmung aller Parteien der herrschenden Klassen und auf die ,friedliche‘ Unterwerfung der unterdrückten Klassen unter diese Herrschaft so sehr angewiesen wie während eines Krieges.“ [19]

Darüber hinaus mögen die Regierungen mächtig erscheinen, stellte er fest, doch der Schein entspreche nicht der Realität, und niemand verknüpfe revolutionäre Aussichten einfach mit dem Ausbruch eines Krieges. Dieser war nur der Beginn eines Prozesses und bereits jetzt – Lenin schrieb dies im Jahre 1915 – zeigten sich Symptome, dass in allen Ländern eine revolutionäre Situation heranreife, da die Unzufriedenheit der Massen wachse und die Regierungen immer größere Opfer forderten.

„Wird diese Situation lange anhalten, und wie weit wird sie sich noch verschärfen? Wird sie zur Revolution führen? Das wissen wir nicht, und niemand kann das wissen. Das wird nur die Erfahrung lehren, die uns zeigt, wie sich die revolutionären Stimmungen entwickeln und wie die fortgeschrittenste Klasse, das Proletariat, zu revolutionären Aktionen übergeht.“ [20]

Darüber hinaus der fehlende revolutionäre Kampf bei Kriegsausbruch auf die Lage zurückzuführen, in der sich die Arbeiterklasse befand. In jedem Land herrschten Zensur und Kriegsrecht, und die Führer der Arbeiterbewegung verkündeten ihre Einheit mit den imperialistischen Regierungen, die eben jene Maßnahmen durchsetzen.

Materialistische Philosophie und revolutionäre Praxis

Unabhängig von der unmittelbaren Situation waren die von Lenin aufgeworfenen Fragen von großer methodologischer Bedeutung. Dies führt uns zu Punkt 7 im Eröffnungsbeitrag von David North, wo dieser auf den „Zusammenhang zwischen der Philosophie des wissenschaftlichen Materialismus und der revolutionären Praxis“ verweist.

Lenin betonte den folgenden Punkt: Die Situation war objektiv revolutionär, insofern die herrschende Klasse nicht länger herrschen konnte und die Massen nicht weiterleben konnten wie bisher. Doch ob diese objektiv revolutionäre Situation tatsächlich zu einer Revolution führen würde, konnte man nicht durch stille Betrachtung herausfinden, sondern nur, indem man eine revolutionäre Praxis entwickelte.

Was die Situation tatsächlich beinhaltete, ob ihr Potenzial zum Tragen gebracht werden konnte, war nur durch das Eingreifen des bewussten, subjektiven Faktors festzustellen – der revolutionären Partei, die die Bewegung der Arbeiterklasse entwickelt, indem sie ihr die objektive Lage erläutert und sie im Kampf mit einem klaren Programm bewaffnet, mit dem Ziel der politischen Machteroberung.

Lenin bestand darauf, dass es notwendig war, die Realität in der Praxis zu verstehen und sich nicht von Erscheinungsformen leiten zu lassen. Er unterstrich damit einen Punkt in den Thesen über Feuerbach, in denen Marx seine entscheidende Entwicklung der materialistischen Philosophie skizzierte.

Kautsky und andere behaupteten, sie befänden sich auf der Grundlage des Materialismus – im Gegensatz zu den Träumereien, die Lenin mit seiner Perspektive von Bürgerkrieg und Revolution zum Sturz der Bourgeoisie verbreitete.

Damit vertraten sie jedoch nicht den Marxschen Materialismus, auf den sie sich zu beziehen glaubten, sondern die alten materialistischen Anschauungen, die Marx gestützt auf die Errungenschaften der deutschen idealistischen Philosophie, vor allem aus Hegels Werk, gerade überwunden hatte: die Betonung der aktiven Seite, d .h. des menschlichen Handelns im historischen Prozess.

In der ersten seiner Thesen über Feuerbach schrieb Marx:

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.“ Daher hatte die materialistische Philosophie zuvor „die Bedeutung der ,revolutionären‘, der ,praktisch-kritischen‘ Tätigkeit“ nicht begriffen. [21]

Im Gegensatz zu Kautsky erklärte Lenin, das kein Sozialist jemals garantiert habe, dass der gegenwärtige und nicht erst der nächste Krieg eine Revolution hervorbringen würde. Der entscheidende Punkt war die Pflicht der Sozialisten, das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse anzuheben, indem sie das Bestehen einer revolutionären Situation enthüllten.

Marxismus versus Sozialchauvinismus

Die entscheidende Frage lautete: Wie war es möglich, dass die prominentesten Führer des internationalen Sozialismus zu Verrätern geworden waren? Die Antwort lag in einer materialistischen Analyse der sozialchauvinistischen Strömung.

In der Periode vor Kriegsbeginn hatte die sozialistische Bewegung über anderthalb Jahrzehnte eine zerfleischende Diskussion über ihre Perspektive geführt.

Würde der Sozialismus als friedliche, allmähliche Entwicklung eintreten, als Summe von Parlamentsreformen und Gewerkschaftsaktivitäten, oder würde es zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems und dem Ausbruch revolutionärer Kämpfe kommen?

1898 hatte der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein eine fundamentale Revision der Grundperspektive seiner Partei vorgeschlagen. Er fasste sie in den Worten zusammen, die Bewegung sei alles und das endgültige Ziel nichts. Betrachtet man die offiziellen Beschlüsse der SPD, so wurde die revisionistische Tendenz zurückgedrängt. Doch die Praxis, auf die sich der Revisionismus begründete – Klassenkollaboration und die Einbindung in die Strukturen der bürgerlichen Herrschaft – gewann weiter an Stärke.

Die Frage kam nach der Russischen Revolution von 1905 erneut auf. War die Revolution mit ihren Massengeneralstreiks und der Bildung von Sowjets oder Arbeiterräten, über die Fred Williams in seinem Beitrag so lebendig berichtet, der Vorbote der europäischen Revolution, zeigten sich darin bereits die Formen, die sie annehmen würde, wie Rosa Luxemburg meinte? Oder war sie vielmehr, wie ihre Gegner, vor allem die Gewerkschaften meinten, Ausdruck der russischen Rückständigkeit und damit für das moderne Westeuropa ohne Belang?

Der Verrat der Zweiten Internationale rückte diese Fragen in einen klaren Fokus. Die Hintergründe waren das Anwachsen und die Entwicklung der opportunistischen Strömung, die zu voller Blüte und Reife gelangte und in die direkte Unterstützung für die eigene Bourgeoisie im Krieg überging.

Lenins Analyse der materiellen Wurzeln dieser Strömung hatte weitreichende politische Konsequenzen. Es wurde klar, dass die neue Dritte Internationale nicht auf den Überresten der alten Zweiten Internationale aufsetzen konnte, auch konnte sie nicht an die Theorie und Praxis der Zweiten Internationale anknüpfen.

Die Zweite Internationale hatte in der Periode der allmählichen Entwicklung eine wichtige vorbereitende Arbeit geleistet, erklärte Lenin. Doch die Dritte Internationale hatte neue Aufgaben: den direkten revolutionären Kampf gegen kapitalistische Regierungen und einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie zu führen, die Eroberung der politischen Macht und den Triumph des Sozialismus.

Notwendig hierfür war eine vollständige politische, ideologische und organisatorische Trennung vom Opportunismus, der in der Zeit der Zweiten Internationale als legitime Tendenz innerhalb des sozialistischen Lagers betrachtet worden war.

In Russland war die politische und organisatorische Trennung mit der Spaltung von den Menschwiki vollzogen worden. Für Lenin rückte die internationale Bedeutung nun in den Fokus.

Die Trennung zwischen den Bolschewiki und Menschewiki begann auf dem Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im Jahre 1903. Sie entwickelte sich aus einer Formulierung zum Wesen der Parteimitgliedschaft. Ihre volle Bedeutung war nicht von Anfang an klar.

Nach dem Ausbruch der Revolution 1905 wurde deutlich, dass die gegensätzlichen Positionen auf unterschiedliche Klasseninteressen zurückgingen. Die Politik der Bolschewiki basierte auf Feindseligkeit und Opposition gegenüber der liberalen Bourgeoisie. Die der Menschewiki war eine Anpassung an die liberale Bourgeoisie, am deutlichsten ausgedrückt durch Plechanows Erklärung, dass die Moskauer Arbeiter bei den Dezemberaufständen nicht zu den Waffen hätten greifen dürfen.

Die Aufgabe in Russland war ihrer festen Überzeugung nach eine bürgerlich-demokratische Revolution, die Beendigung der absolutistischen Herrschaft und die Machtübernahme durch ein bürgerliches Regime. Die Handlungen der Arbeiter in Moskau würden die liberale Bourgeoisie nur davon abhalten, die ihr zugewiesene historische Rolle zu erfüllen. Es war daher notwendig, mit der bürgerlichen Partei, den Kadetten, „taktvoll“ umzugehen, wie Plechanow sagte.

Die Auseinandersetzungen setzten sich nach 1905 fort. Innerhalb der Internationale wurden sie als eine Schrulle der Russen betrachtet. „Die schon wieder“, war die allgemeine Reaktion.

Der Verrat der Zweiten Internationale schuf die Notwendigkeit, mit dem Opportunismus und seinen Verteidigern vollständig organisatorisch zu brechen. Lenin wurde hierdurch die internationale Bedeutung der Spaltung von den Menschewiki klar.

„In Russland ist die völlige Trennung der revolutionär-sozialdemokratischen proletarischen Elemente von den kleinbürgerlich-opportunistischen durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung vorbereitet“, schrieb Lenin.

„Den übelsten Dienst erweisen der Arbeiterbewegung diejenigen, die von dieser Geschichte nichts wissen wollen und sich durch ihre Deklamationen gegen die ,Fraktionsmacherei‘ selbst der Möglichkeit berauben, den wirklichen Entstehungsprozess der proletarischen Partei in Russland zu begreifen, die sich in langjährigem Kampf gegen die verschiedensten Arten des Opportunismus herausgebildet hat.“

Der Kampf in Russland hatte internationale Bedeutung, weil er letztlich auf die gleichen Prozesse zurückging, die zum Wachstum und Sieg des Opportunismus in der Zweiten Internationale sowie ihrem Verrat im Jahre 1914 geführt hatten. Die „europäische“ Entwicklung, in der das Kleinbürgertum von den Großmachtprivilegien seiner „eigenen“ Nation profitierte, nahm in Russland die Gestalt des Menschewismus an, so Lenins Einschätzung.

Doch in Russland hatte ein politischer wie organisatorischer Bruch von diesen Kräften stattgefunden. Dies war die internationalistische, durchgängig revolutionäre Taktik, die nun ausgeweitet werden musste. [22]

Die Zimmerwalder Konferenz

Dieser Kampf begann auf der sozialistischen Antikriegskonferenz, die 5.-8. September 1915 in dem kleinen Schweizer Ort Zimmerwald stattfand. Die Konferenz wurde geheim gehalten. Das Hotel war im Namen einer ornithologischen Gesellschaft gebucht. Allerdings versammelten sich dort keine Vogelkundler, sondern einige der größten Denker ihrer Zeit, insbesondere Lenin und Trotzki.

Die Zimmerwalder Konferenz wurde von dem Schweizer Sozialisten Robert Grimm organisiert. Seine Perspektive und die seiner Unterstützer, die insgesamt die Mehrheit der nur 43 Delegierten ausmachten, war von Lenins Ansichten weit entfernt.

Grimms Ziel bestand nicht darin, eine revolutionäre Bewegung gegen den Krieg aufzubauen sondern den Schadfleck des Verrats vom 4. August von der Zweiten Internationale zu tilgen und den Vorkriegszustand mit der allgemeinen Forderung nach Frieden wiederherzustellen.

Es gab auf der Konferenz eine größere linke Fraktion, die allerdings in der Minderheit war, und innerhalb dieser eine noch kleinere Fraktion von nur fünf Personen, die sich um Lenin gruppierte.

Lenin machte sich keine Illusionen, was die Konferenz bringen würde. Er betrachtete sie als Schritt nach vorn, um die wahren marxistischen Kräfte international zu sammeln, auch wenn es nur eine kleine Zahl war.

Der Schweizer linke Sozialist Fritz Platten erinnert sich, dass Lenin während der Konferenz der aufmerksamste Zuhörer war, der nicht oft und niemals lange das Wort ergriff. Aber wenn er sprach, hatten seine Beiträge „eine ätzende Wirkung“. Es war Lenins Perspektive – er war der einzige, der in die Konferenz einen Resolutionsentwurf einbrachte –, die in vielen Diskussionen den Ton bestimmte.

Lenins Stärke bestand laut Platten darin, „dass er die historischen Entwicklungsgesetze mit unglaublicher Klarheit erkannte“. [23]

Seine Konzentration auf diese Gesetze bestimmte Lenins Haltung gegenüber allen Versuchen, die Zweite Internationale wiederzubeleben, indem man das Schandmal des 4. August beseitigte.

Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale war nicht einfach das Ergebnis eines Verrats ihres Führungspersonals. Er bedeutete das Ende einer ganzen historischen Epoche relativ friedlicher Entwicklung. Eine neue Ära von Kriegen und Revolutionen zog herauf. Eine neue Internationale war aufzubauen, um den neuen Aufgaben gerecht zu werden.

Die Forderung nach Frieden stand im Vordergrund. Doch dies beinhaltete sämtliche Fragen: Wie konnte es Frieden geben ohne den Sturz des kapitalistischen Systems, dessen historische Entwicklung hin zum Imperialismus den Krieg hervorgerufen hatte? Und diese Aufgabe konnte nicht gelöst werden ohne eine vollständige Trennung von all jenen, die inzwischen innerhalb der Arbeiterbewegung die Interessen des Imperialismus vertraten. Sie mussten unnachgiebig bekämpft werden.

Am Abend des 7. Septembers fasste der französische Delegierte Alphonse Merrheim die Fragen zusammen. Die Mehrheit wollte Friedensaktionen durch das Proletariat, nicht enge Formeln, sagte er. Merrheim war nicht gegen die Revolution, doch er sagte: „Eine revolutionäre Bewegung kann nur durch das Streben nach Frieden entstehen. Du, Genosse Lenin, bist nicht von Friedensbestrebungen motiviert sondern vom Wunsch nach dem Aufbau einer neuen Internationale. Das trennt uns.“ [24]

Das Ergebnis der Zimmerwalder Konferenz war die Herausgabe eines Manifests gegen den imperialistischen Krieg, das Trotzki entworfen hatte und von allen unterzeichnet wurde. Es beinhaltete weitaus nicht all das, was Lenin oder auch Trotzki gewollt hatten. Aber es war ein Fortschritt, wie Lenin sagte, denn „das angenommene Manifest bedeutet faktisch einen Schritt vorwärts zum ideologischen und praktischen Bruch mit dem Opportunismus und Sozialchauvinismus“. [25]

In den nächsten Monaten wurde Zimmerwald mit der sich ausbreitenden Opposition gegen den Krieg identifiziert, da das Manifest gegen den Imperialismus inmitten der Massenschlächterei und großen Entbehrungen das Bewusstsein größerer Teile der internationalen Arbeiterklasse erreichte.

Die Grundlagen einer neuen Internationale

Doch die tieferen Probleme, um die sich die Konferenz gedreht hatte, waren ungelöst.

Sie wurden in einer Resolution angesprochen, die Rosa Luxemburg im März 1916 zu den Grundlagen einer neuen Internationale herausgab. Eine solche Internationale konnte nur als Ergebnis eines revolutionären Kampfes der Massen entstehen, schrieb sie, dessen erster Schritt eine Massenaktion zur Erzwingung von Frieden wäre.

„Die Existenz und Wirksamkeit der Internationale ist nicht eine Frage der Organisation, nicht eine Frage der Verständigung zwischen einem kleinen Kreise von Personen, die als Vertreter der oppositionell gesinnten Schichten der Arbeiterschaft auftreten, sie ist eine Frage der Massenbewegung des zum Sozialismus zurückkehrenden Proletariats aller Länder.“ [26]

Hier gab es einen grundlegenden Unterschied zu den Auffassungen Lenins.

Er zweifelte nicht daran, dass der Krieg revolutionäre Massenkämpfe auslösen würde. Doch die entscheidende Frage lautete, ob bei Beginn dieser Kämpfe eine revolutionäre Führung existierte, die alle wesentlichen Elemente des notwendigen Programms ausgearbeitet hat und die vor allem all jenen Tendenzen unversöhnlich entgegentritt, die den Krieg unterstützt haben und die Revolution zu verhindern versuchen würden –in erster Linie eben jede Tendenzen, die aus der Arbeiterbewegung selbst hervorgegangen waren.

Nur auf der Basis solcher Vorbereitungen könnte der Ausbruch der Revolution – Ergebnis derselben Bedingungen, die zum Krieg geführt hatten – zur erfolgreichen Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse führen.

Diese Perspektive erwies sich im Laufe des Jahres 1917 als richtig. Nur anderthalb Jahre nach der Zimmerwalder Konferenz brach die Februarrevolution aus, auf die acht Monate später die Oktoberrevolution folgte.

In seinem Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter schrieb Lenin, als er 1917 die Rückreise nach Russland antrat:

„Als unsere Partei im November 1914 die Losung aufstellte: ‚Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg‘, in den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, für den Sozialismus, da wurde diese Losung von den Sozialpatrioten mit Feindseligkeit und boshaften Spötteleien und von den Sozialdemokraten des ‚Zentrums‘ mit ungläubig skeptischem, charakterlos abwartendem Schweigen aufgenommen. […] Jetzt, nach dem März 1917, sieht nur ein Blinder nicht, dass diese Losung richtig ist. Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg fängt an, Tatsache zu werden. Es lebe die beginnende proletarische Revolution in Europa!“ [27]

Anmerkungen:

1. Zitiert nach Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhof, Deutsche Legenden: Vom „Dolchstoß“ und anderen Mythen der Geschichte, Berlin 2013

2. Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Stuttgart, 1999. S. 69

3. Rede Stresemann vom 19.01.1917, in: Fritz Fischer: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911-1914, Düsseldorf 1978, S. 649

4. Zitiert nach David Stevenson, Armaments and the Coming of War (Oxford: Clarendon Press, 1996), p. 391 [aus dem Englischen übertragen]

5. Zitiert nach Paul Kennedy, The Rise of Anglo-German Antagonism (London: The Ashfield Press, 1987), p. 467 [aus dem Englischen übertragen]

6. Friedrich Engels: Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807] (1888), in: MEW, Band 21, S. 350-351

7. Internationaler Sozialisten-Kongreß Stuttgart 1907, vom 18. bis 24. August, Berlin 1907, S.66

8. Wladimir Lenin: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (1. November 1914), in: Lenin Werke, Band 21, S. 20

9. Wladimir Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR (29. März 1915), in: Lenin Werke, Band 21, S. 150

10. Wladimir Lenin: Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg (26. Juli 1915), in: Lenin Werke, Band 21, S. 278

11. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital (1909), Berlin 1947, S. 1

12. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital (1909), Berlin 1947, S. 502f

13. Zitiert nach Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 213

14. Vgl. Wladimir Lenin: „Die Sophismen der Sozialchauvinisten“ (1. Mai 1915), in: Werke, Band 21, S. 177

15. Wladimir Lenin: „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg“ (26. Juli 1915), in: Werke, Band 21, S. 276: „Die ,Bedeutung unserer Abstimmung‘ (vom 4. August)“

16. Rosa Luxemburg: „Die Krise der Sozialdemokratie“ [„Junius“-Broschüre] (1916), in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 51-52

17. Wladimir Lenin: „Die Grundsätze des Sozialismus und der Krieg“ 1914/1915 (1915), in: Werke, Band 21, S. 276

18. Leo Trotzki: „Der Krieg und die Internationale“ (1914), in: Leo Trotzki: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 433

19. Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 208

20. Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 209

21. Karl Marx: „Thesen über Feuerbach“ (1845), in: MEW, Band 3, S. 5

22. Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 254

23. Zitiert nach Catherine Merriedale, Lenins Zug Die Reise in die Revolution, 2017

24. Zitiert nach R. Craig Nation, War on War (Chicago: Haymarket Books, 2009), S. 89 [aus dem Englischen übertragen]

25. Wladimir Lenin: „Ein erster Schritt“ (11. Oktober 1915), in: Werke, Band 21, S. 390

26. Rosa Luxemburg: „Reichskonferenz der Gruppe „Internationale“ am 19. März 1916 in Berlin“, in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 168-169

27. Wladimir Lenin: „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“, 26. März (8. April) 1917, in: Werke, Band 23, S. 387

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