Perspektive

100 Jahre Oktoberrevolution

Gestern vor einhundert Jahren, am Morgen des 7. Novembers 1917, gab das Militärische Revolutionskomitee des Petrograder Sowjets unter dem Vorsitz Leo Trotzkis eine Proklamation an die Bürger Russlands heraus. Sie lautet:

Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Revolutionären Militärkomitees übergegangen, das an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Petrograder Garnison steht.

Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung – sie ist gesichert.

Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern! (1)

Wladimir Lenin

Am späten Nachmittag desselben Tags erhielt Lenin – den die bürgerliche Provisorische Regierung nur drei Monate zuvor als Landesverräter denunziert hatte – eine donnernde Ovation, als er, aus seinem Versteck kommend, den Saal betrat, in dem sich die Sowjetdelegierten versammelt hatten. Ein Augenzeuge, der amerikanische sozialistische Journalist John Reed, hinterließ eine eindrucksvolle Schilderung dieser Ereignisse, in der er den bolschewistischen Führer als „geliebt und verehrt wie selten ein Führer in der Geschichte“ beschreibt. Lenin, so Reed, war „[e]in Volksführer eigener Art – Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts; nüchtern, kompromisslos und über den Dingen stehend, ohne Effekthascherei – aber mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Worte zu kleiden und konkrete Situationen zu analysieren. Sein Scharfsinn ist verbunden mit der größten Kühnheit des Denkens.“ (2)

Beim Rednerpult angelangt, begann Lenin seine Rede an die Delegierten mit folgenden Worten: „Genossen, die Arbeiter- und Bauernrevolution, von deren Notwendigkeit die Bolschewiki immer gesprochen haben, ist vollbracht.“

Da in Russland noch der alte julianische Kalender galt, ging der Sturz der Provisorischen Regierung als Oktoberrevolution in die Geschichte ein. Doch obwohl der russische Kalender 13 Tage hinter demjenigen in Westeuropa und Amerika zurücklag, katapultierte die bolschewistische Machteroberung Russland, politisch gesprochen, an die Spitze der Weltgeschichte. Der Aufstand der Bolschewiki war der Höhepunkt eines politischen Kampfs, der acht Monate zuvor, im Februar 1917, mit dem Sturz der zaristischen Autokratie begonnen hatte. Mehr als 300 Jahre lang hatten die Romanows in Russland geherrscht.

Frauendemonstration in der Februarrevolution

Mit dem Aufstand von Februar/März 1917 begann zugleich eine lange Auseinandersetzung über die politische Perspektive und historische Bedeutung der Revolution in Russland. Für die bürgerliche Partei der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), die reformistischen Menschewiki und die Bauernpartei der Sozialrevolutionäre war die Revolution in erster Linie eine nationale Frage. Der Sturz des Zarenregimes, so ihre feste Überzeugung, war nichts weiter als eine national-demokratische Revolution. Dementsprechend beschränkten sich die Aufgaben der Revolution darauf, das Zarenregime durch eine Art parlamentarischer Republik nach dem Vorbild Frankreichs oder Großbritanniens zu ersetzen, um die Entwicklung der russischen Wirtschaft auf kapitalistischer Grundlage zu ermöglichen.

In der Praxis lehnte die bürgerliche Kadettenpartei, die einen revolutionären Aufstand fürchtete und die Massen verachtete, alle Veränderungen im sozialen Gefüge ab, die ihren Reichtum zu gefährden drohten. Was die Menschewiki und Sozialrevolutionäre betraf, so schlossen ihre reformistischen Programme jeden spürbaren Einschnitt in das kapitalistische Eigentum aus. Russland, so erklärten sie, sei für eine sozialistische Revolution nicht reif. Eine jahrzehntelange kapitalistische Entwicklung müsse noch ins Land gehen, ehe ein Übergang zum Sozialismus als realistische Möglichkeit in Frage käme.

Im Rahmen dieser Perspektive wiesen sie den politischen Sturz der Kapitalistenklasse und eine Machtübernahme durch die Arbeiterklasse rundheraus zurück. Sie ordneten die Arbeiterklasse der bürgerlichen Herrschaft unter und unterstützten damit die weitere russische Beteiligung am Blutbad des imperialistischen Weltkriegs, der 1914 begonnen hatte.

Vor Lenins Rückkehr aus dem Exil im April 1917 hatten die wichtigsten bolschewistischen Führer in Petrograd – Lew Kamenew und Joseph Stalin – die menschewistische Unterordnung des Sowjets (Rats) der Arbeiterklasse unter die Provisorische Regierung akzeptiert. Folgerichtig akzeptierten Kamenew und Stalin auch das menschewistische Argument, dass sich Russlands Beteiligung am imperialistischen Krieg nach dem Sturz des Zaren in einen demokratischen Kampf gegen das autoritäre Deutschland verwandelt habe. Die Arbeiterklasse müsse diesen Kampf unterstützen. Die offen imperialistischen Interessen der russischen Bourgeoisie wurden mit heuchlerischen Phrasen über einen „demokratischen Frieden“ überzuckert.

Lenins Rückkehr nach Russland am 17. April führte zu einer dramatischen Wende in der Orientierung der Bolschewistischen Partei. Im Gegensatz zu allen Verbündeten der Provisorischen Regierung im Petrograder Sowjet und zu einem beträchtlichen Teil der bolschewistischen Führung rief Lenin dazu auf, alle Macht an die Sowjets zu übertragen. Diese revolutionäre Forderung, die nicht nur die Menschewiki verblüffte, sondern auch die meisten Genossen Lenins in der bolschewistischen Führung, gründete auf einem völlig anderen Verständnis der historischen Bedeutung der Russischen Revolution.

Soldatendemonstration im Februar 1917

Seit den ersten Tagen des Kriegs im August 1914 hatte Lenin erklärt, dass der imperialistische Weltkrieg ein neues Stadium der Weltgeschichte bedeutete. Die blutige Schlächterei, die der Krieg entfesselt hatte, war aus den globalen Widersprüchen des kapitalistischen Imperialismus hervorgegangen. Die Widersprüche des imperialistischen Systems, welche die kapitalistischen Regimes durch Krieg zu lösen versuchten, würden mit Notwendigkeit eine revolutionäre Antwort der internationalen Arbeiterklasse hervorrufen.

Diese Auffassung vom weltgeschichtlichen Kontext der Russischen Revolution sollte zur Richtschnur der Politik werden, von der sich die Bolschewistische Partei nach Lenins Rückkehr leiten ließ. Lenin betonte, dass die Russische Revolution der Beginn der sozialistischen Weltrevolution war. Bei der Eröffnung des Siebten Kongresses der Bolschewistischen Partei im April 1917 erklärte er:

Dem russischen Proletariat wurde die große Ehre zuteil, zu beginnen, es darf aber nicht vergessen, dass seine Bewegung und seine Revolution nur ein Teil der internationalen revolutionären proletarischen Bewegung sind, die, wie zum Beispiel in Deutschland, von Tag zu Tag stärker und stärker wird. Nur unter diesem Gesichtswinkel können wir unsere Aufgaben bestimmen. (3)

In den Monaten von April bis Oktober schrieb Lenin zahlreiche Artikel, um das Bewusstsein der Parteimitglieder anzuheben. Zehntausende Arbeiter, welche die bolschewistischen Broschüren, Zeitungen und Handzettel lasen, gewannen eine Vorstellung vom internationalen Charakter der Revolution. Wer heute behauptet, die bolschewistische Revolution sei ein „Putsch“ oder ein im Geheimen ausgeheckter Staatsstreich gewesen, setzt sich einfach darüber hinweg, dass Lenins Aufruf zu einer sozialistischen Revolution in den Fabriken, Kasernen und auf den Straßen aller größeren Städte Russlands gelesen, studiert und diskutiert wurde.

Im September, nur einen Monat vor der Machtergreifung, publizierte die Bolschewistische Partei Lenins Broschüre „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“. In Lenins Darstellung des Programms und der Absichten der bolschewistischen Partei gab es nichts Zweideutiges, geschweige denn Verlogenes. Auf erstaunlich hohem Niveau erläuterte Lenin, dass die Bolschewiki die Verkörperung einer objektiven Notwendigkeit seien.

Der Krieg ist nicht durch den bösen Willen der kapitalistischen Räuber hervorgerufen worden, obwohl er zweifellos nur in ihrem Interesse geführt wird, nur sie bereichert. Der Krieg ist durch die Entwicklung des Weltkapitals in einem halben Jahrhundert, durch dessen milliardenfache Fäden und Verbindungen hervorgerufen worden. Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demokratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, das Proletariat.

Die russische Revolution vom Februar/März 1917 war der Beginn der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Diese Revolution hat den ersten Schritt zur Beendigung des Krieges getan. Erst der zweite Schritt kann seine Beendigung sicherstellen, nämlich den Übergang der Staatsmacht an das Proletariat. Das wird der Anfang des „Durchbruchs der Front“, der Front der Interessen des Kapitals im Weltmaßstab sein, und erst nachdem das Proletariat diese Front durchbrochen hat, kann es die Menschheit von den Schrecken des Krieges erlösen, ihr das Glück eines dauerhaften Friedens sichern. (4)

Nach den „Julitagen“, als die Provisorische Regierung die Arbeiterklasse brutal unterdrückte, war Lenin gezwungen, sich zu verstecken. Leo Trotzki, der im Mai nach Russland zurückgekehrt war und schon kurz darauf der bolschewistischen Führung beitrat, wurde ins Gefängnis geworfen. Aber im September wurde er als Folge des gescheiterten konterrevolutionären Putschs von General Kornilow wieder freigelassen und zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt. In den darauffolgenden Wochen stieg Trotzki zum wichtigsten Führer der Massen und Sprecher der Revolution auf. Bei der strategischen Planung und Organisation des bolschewistischen Aufstands spielte er die entscheidende Rolle.

Leo Trotzki

Bei der Leitung der bolschewistischen Erhebung zeigte Trotzki ohne Frage geniale Züge. Aber die Rolle, die er in der Oktoberrevolution spielte, war – nicht weniger als die Lenins – von langer Hand vorbereitet, da auch er den Platz der Russischen Revolution in der Weltgeschichte gründlich analysiert hatte. Tatsächlich hatte Trotzki in seiner Theorie der Permanenten Revolution als Erster und schon 1905 erkannt, dass die demokratische Revolution gegen die zaristische Selbstherrschaft in Russland mit Notwendigkeit in eine sozialistische Revolution münden werde, in der die Macht auf die Arbeiterklasse übergehen werde.

Trotzkis Analyse widerlegte die Behauptung, dass die politischen Aufgaben der Arbeiterklasse durch die ökonomische Rückständigkeit Russlands bestimmt seien, das für eine sozialistische Revolution „nicht reif“ sei. „Es ist möglich“, schrieb er 1905, „dass das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land“. (5)

Aber wie sollte die Arbeiterklasse ihre Revolution auf Dauer erhalten? Dazu schrieb Trotzki lange vor den Ereignissen von 1917:

[Der Arbeiterklasse] wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen. Die ungeheure staatlich-politische Macht, die ihr ein zeitweiliger Aufschwung der russischen bürgerlichen Revolution gibt, wird sie in die Waagschale des Klassenkampfes der gesamten kapitalistischen Welt werfen. Mit der Staatsmacht in Händen, mit der Konterrevolution im Rücken und der europäischen Reaktion vor sich, wird sie ihren Mitbrüdern in der ganzen Welt den alten Kampfruf zurufen, diesmal zum letzten Gefecht: Proletarier aller Länder vereinigt euch! (6)

* * * * *

In der grauenhaften Realität des Ersten Weltkriegs, der im Oktober 1917 bereits Millionen Soldaten das Leben gekostet hatte, elektrisierte die Nachricht vom bolschewistischen Aufstand das Bewusstsein der Massen. Die Februarrevolution war noch ein russisches Ereignis. Doch die Oktoberrevolution war ein Ereignis, das die Welt veränderte. Was 1847 noch ein „Gespenst“ gewesen war, hatte nun die reale Gestalt einer revolutionären Regierung angenommen, die durch einen Aufstand der Arbeiterklasse an die Macht gelangt war.

Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg, die im Gefängnis die Nachricht von der Revolution erhielt, berichtete einer Freundin, wie ungeduldig sie auf die Morgenzeitungen wartete, um die Ereignisse in Russland zu verfolgen. Sie bezweifelte, dass die Revolution angesichts der bewaffneten Gegenwehr des Weltimperialismus überleben könne. Doch sie zweifelte nicht an der immensen Bedeutung der revolutionären Ereignisse, und sie äußerte ihre Bewunderung für die Leistung von Lenin und Trotzki, die sie seit Jahren kannte. Die Revolution der Bolschewiki, schrieb sie, „ist eine weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird“. (7)

Viele Jahre später, bei einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag der Oktoberrevolution, erinnerte der führende amerikanische Trotzkist James P. Cannon an die Wirkung von 1917 auf Sozialisten in aller Welt:

Zum ersten Mal erlebten wir in der Form konzentrierter revolutionärer Aktion die wirkliche Bedeutung des Marxismus. Zum ersten Mal lernten wir anhand des Beispiels und der Lehren Lenins und Trotzkis und der Führer der russischen Revolution die wirkliche Bedeutung einer revolutionären Partei kennen. Diejenigen, die sich an diese Zeit erinnern, deren Leben mit der russischen Revolution verschmolz, werden dieses Ereignis als die bedeutendste, inspirierendste und erzieherisch wirksamste Kraft in Erinnerung behalten, die die unterdrückte Klasse der Welt jemals erfahren hat.

Die Oktoberrevolution zählt zu den bedeutendsten und fortschrittlichsten Ereignissen der Weltgeschichte. Sie ist ein Glied in der Kette der welthistorischen Ereignisse – wie die Reformation, die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution – die Meilensteine in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation bilden.

Die globalen Auswirkungen der Oktoberrevolution waren unabsehbar. Sie löste weltweit eine Bewegung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen gegen kapitalistische Ausbeutung und imperialistische Unterdrückung aus. Es gab im 20. Jahrhundert praktisch keinen wichtigen politischen oder sozialen Erfolg der Arbeiterklasse, egal in welchem Land, der nicht zu einem großen Teil auf die Oktoberrevolution zurückging. Die Errichtung des Sowjetstaats war der erste bedeutende Erfolg der Oktoberrevolution. Der Sieg der bolschewistischen Revolution war der praktische Beweis, dass die Arbeiterklasse die Staatsmacht erobern, die Herrschaft der kapitalistischen Klasse beenden und die Gesellschaft auf nicht-kapitalistischer und sozialistischer Grundlage organisieren kann.

Die Gründung der Sowjetunion war das unmittelbare Ergebnis des Aufstandes, doch daran allein lässt sich die volle historische Bedeutung der Oktoberrevolution nicht ermessen. Die Gründung des Sowjetstaats im Oktober 1917 war nur die erste Episode der neuen Epoche, der Epoche der sozialistischen Weltrevolution.

Diese Unterscheidung – zwischen Episode und Epoche – ist wichtig, um das Schicksal der Sowjetunion und der heutigen Welt zu verstehen. Die Auflösung der Sowjetunion 1991 bedeutete das Ende des 1917 gegründeten Staates. Doch sie bedeutete nicht das Ende der Epoche der sozialistischen Weltrevolution. Die Auflösung der Sowjetunion war das Endergebnis davon, dass die internationale sozialistische Perspektive, auf der die Oktoberrevolution beruht hatte, aufgegeben worden war. Dieser Prozess hatte bereits in den frühen 1920er Jahren eingesetzt. Das stalinistische Programm des Sozialismus in einem Land, das Stalin und Bucharin 1924 verkündeten, war ein Wendepunkt in der nationalistischen Entartung der Sowjetunion. Wie Trotzki warnte, trennte der Stalinsche Nationalismus – der bei der schnell wachsenden bürokratischen Elite politische Unterstützung fand – das Schicksal der Sowjetunion vom Kampf für den Weltsozialismus. Die Kommunistische Internationale, 1919 als Instrument der sozialistischen Weltrevolution gegründet, wurde zu einem bloßen Werkzeug der konterrevolutionären Außenpolitik der Sowjetunion degradiert. Die verräterische und desorientierende Politik Stalins führte zu verheerenden Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland, Frankreich, Spanien und in vielen anderen Ländern.

1936 entfesselte Stalin den Großen Terror, der in den folgenden vier Jahren zur physischen Vernichtung praktisch aller führenden Vertreter des revolutionären Internationalismus in der Arbeiterklasse und der sozialistischen Intelligenz führte. Trotzki wurde 1940 in Mexiko von einem stalinistischen Agenten ermordet.

* * * * *

Die Auflösung der UdSSR 1991 wurde als großartiger Triumph des Weltkapitalismus gefeiert. Endlich war dem Gespenst des Kommunismus und Sozialismus der Garaus gemacht! Das Ende der Geschichte war gekommen! Solche feierlichen Erklärungen befanden sich natürlich nicht im Einklang mit einer sorgfältigen Untersuchung der Ereignisse in den 74 Jahren seit der Revolution. Die enormen Errungenschaften der Sowjetunion wurden mit keinem Wort erwähnt. Dazu zählten nicht nur ihre entscheidende Rolle beim Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die gewaltigen Fortschritte für die sowjetische Bevölkerung in sozialer und kultureller Hinsicht. Das Bestreben, jede Erinnerung an die Erfolge der Sowjetunion aus dem kollektiven Bewusstsein zu tilgen, ist Teil der Fälschung der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der wichtigste Aspekt dieser Fälschung ist jedoch der Versuch, das Schicksal des Sozialismus auf der Basis eines nationalistischen Narrativs der Oktoberrevolution zu beschreiben. In dieser Darstellung ist die Machteroberung der Bolschewiki ein vom normalen Gang der Geschichte abweichendes, illegitimes und sogar verbrecherisches Ereignis in der Geschichte Russlands. Sie setzt voraus, dass die ursprüngliche Konzeption der Bolschewiki vom Oktober entweder ins Lächerliche gezogen oder ignoriert, und jede bleibende geschichtliche und politische Bedeutung der Oktoberrevolution in Abrede gestellt wird.

Einheit der Rote Garden, Vulkan-Fabrik in Petrograd während der Revolution

Dieses reaktionäre Narrativ, mit dem der Oktoberrevolution jede Legitimität, Bedeutung und Ehre abgesprochen werden soll, hängt allerdings an einer einzigen Kleinigkeit – dass der Weltkapitalismus die Widersprüche und Krisen in den Griff bekommen hat, die im zwanzigsten Jahrhundert zu Krieg und Revolution geführt haben.

Genau an diesem Punkt scheitern die Bestrebungen, die Oktoberrevolution und mit ihr alle seitherigen und künftigen Versuche zur Verwirklichung des Sozialismus zu diskreditieren. Das Vierteljahrhundert, das seit der Auflösung der Sowjetunion vergangen ist, zeichnet sich durch eine anhaltende und zunehmende soziale, politische und ökonomische Krise aus. Wir leben in einer Zeit nicht endender Kriege. Seit der ersten US-Invasion des Irak haben deutlich mehr als eine Million Menschen durch amerikanische Bomben und Raketen ihr Leben verloren. Mit der Zuspitzung geopolitischer Konflikte erscheint der Ausbruch eines dritten Weltkriegs immer unvermeidlicher.

Die Wirtschaftskrise von 2008 legte die Anfälligkeit des kapitalistischen Weltsystems bloß. Die sozialen Spannungen nehmen zu angesichts eines Niveaus der Ungleichheit, wie es bisher kein Jahrhundert kannte. Die herrschenden Eliten wenden sich immer stärker autoritären Herrschaftsformen zu, weil die traditionellen Institutionen der bürgerlichen Demokratie dem wachsenden Druck sozialer Konflikte nicht standhalten können. Die Trump-Regierung ist nur ein besonders abstoßendes Beispiel für den allgemeinen Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie. Immer offener tritt die Rolle des Militärs, der Polizei und der Geheimdienste als maßgebliche Kräfte im kapitalistischen Staat zutage.

Zum einhundertsten Jahrestag sind unzählige Artikel und Bücher erschienen, um die Oktoberrevolution in Verruf zu bringen. Doch die Beschwörungen der „Bedeutungslosigkeit“ des Oktobers werden durch den hysterischen Ton vieler Verurteilungen Lügen gestraft. Man behandelt die Oktoberrevolution nicht als historisches Ereignis, sondern als bleibende und gefährliche Bedrohung.

Die Furcht hinter der Verurteilung der Oktoberrevolution kam in einem kürzlich erschienenen Buch eines führenden akademischen Spezialisten für Geschichtsfälschung, Professor Sean McMeekin, deutlich zum Vorschein. Er schreibt:

Mit dem Leninismus verhält es sich leider wie mit den Atombomben, die ebenfalls dem ideologischen Zeitalter entsprangen, das 1917 begann: Einmal erfunden, ist er nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die soziale Ungleichheit wird uns immer begleiten und damit auch die wohlmeinenden Bestrebungen von Sozialisten, sie abzuschaffen … Wenn uns die letzten hundert Jahre eins gelehrt haben, dann dies: dass wir uns besser wappnen und bewaffneten Propheten, die eine perfekte Gesellschaft versprechen, Widerstand entgegensetzen sollten. (8)

In einem Essay, der in der New York Times im Oktober erschien, warnt der Kolumnist Bret Stephens:

Man kann absehen, wohin es führt, wenn der Kapitalismus und die Finanzindustrie kriminalisiert werden … Auch ein Jahrhundert später ist der Bazillus [des Sozialismus] noch nicht besiegt, und wir sind noch immer nicht immun dagegen.

Die Beunruhigung, die man aus solchen Aussagen heraushört, ist nicht unbegründet. Aus einer kürzlich veröffentlichten Umfrage geht hervor, dass die Mehrheit der seit 1990 in Amerika geborenen jungen Menschen lieber in einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft als in einem kapitalistischen Staat leben würde.

* * * * *

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale begeht den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution, indem es das ganze Jahr über intensiv ihre Ursprünge studiert und über ihre Bedeutung aufklärt. Diese wichtige historische Arbeit leistet es als die einzige politische Tendenz auf der Welt, die das Programm des internationalen Sozialismus verkörpert, auf das sich die Oktoberrevolution stützte. Historisch wurzelt die Verteidigung dieses Programms im Kampf Leo Trotzkis – zunächst als Führer der Linken Opposition und später als Gründer der Vierten Internationale – gegen den nationalistischen Verrat und die Pervertierung des Programms und der Prinzipien der Oktoberrevolution durch die stalinistische Bürokratie. In diesem Kampf hat Trotzki alle Errungenschaften der Sowjetunion, die ein Ergebnis der Oktoberrevolution waren, verteidigt, sich dabei aber niemals an die reaktionäre Politik des bürokratischen Regimes angepasst oder gar vor ihr kapituliert.

Aus diesem Grund ist die Vierte Internationale der moderne Ausdruck des Programms der sozialistischen Weltrevolution. In der gegenwärtigen Periode der unlösbaren kapitalistischen Krise erlangt dieses Programm erneut größte Bedeutung. Die Oktoberrevolution lebt nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart fort.

Wir rufen Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt auf, sich dem Kampf für den Weltsozialismus anzuschließen.

Es lebe das Beispiel der Oktoberrevolution!
Baut das Internationale Komitee der Vierten Internationale auf!
Vorwärts zur sozialistischen Weltrevolution!

Anmerkungen:

(1) Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Essen 2012, S. 403

(2) John Reed, „Zehn Tage die die Welt erschütterten“, Berlin 1983, S. 180

(3) Wladimir I. Lenin, „Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR(B). Eröffnungsrede“, in: Lenin Werke, Bd. 24, S. 215

(4) Wladimir I. Lenin, „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, in: Lenin Werke, Bd. 24, S. 51–52

(5) Leo Trotzki, „Ergebnisse und Perspektiven“, in: Die Permanente Revolution, Essen 1993, S. 224

(6) Leo Trotzki, „Ergebnisse und Perspektiven“, in: Die Permanente Revolution, Essen 1993, S. 275

(7) Rosa Luxemburg an Luise Kautsky, 24. November 1917, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S. 329

(8) Sean McMeekin, „The Russian Revolution. A New History“, New York 2017, S. 351–352, zitiert nach: IKVI, Warum die Russische Revolution studieren, Essen 2017, S. 260

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