Premierministerin Theresa May nutzte am Montagabend ihre Rede auf dem Bankett des Londoner Oberbürgermeisters – eine Zusammenkunft der City of London – für einen Angriff auf den russischen Präsidenten Putin.
Sie nannte Russland eine Bedrohung für die „offenen Volkswirtschaften und freien Gesellschaften“ und beschuldigte die Putin-Regierung, „Informationen als Waffen einzusetzen“ und „Fake-Geschichten“ auszustreuen, um „im Westen Unfrieden zu stiften und unsere Institutionen zu untergraben“.
Eine Quelle aus der Downing Street bestätigte, dass sich May nicht auf „ein spezifisches Ereignis“ bezogen habe, und selber auch keine Beweise vorbrachte, um ihre Behauptungen zu belegen.
Ihre Äußerungen zeigen, wie unbegründete Anschuldigungen russischer „Einmischung“ und „Fake News“ zum beliebten Rettungsanker für krisengeschüttelte Politiker auf der ganzen Welt geworden sind.
Mays Rede im Mansion House, dem Amtssitz des Londoner Oberbürgermeisters, fand am Abend vor der Diskussion des „European Union Withdrawal Bill“ (Gesetz über den Ausstieg aus der Europäischen Union) im Parlament statt. An acht Tagen, ab jetzt bis Weihnachten, wird der Gesetzentwurf, mit dem EU-Verordnungen in britisches Recht übernommen werden sollen, „Zeile für Zeile“ geprüft. Die Debatte darüber wurde mit einem „Guerrilla-Krieg“ verglichen, weil jeder Paragraf heiß umkämpft ist.
Ihre Schimpftirade gegen Russland muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Sie hatte zum Ziel, die Differenzen zu vertuschen, die in der britischen Bourgeoisie über den Brexit ausgetragen werden und einen Sturz von Mays Regierung provozieren könnten. Gleichzeitig sollten die sozialen und politischen Spannungen nach außen, gegen „ausländische“ Mächte, gelenkt werden.
May beschuldigte Moskau nicht, sich in das EU-Referendum von 2016 eingemischt zu haben, das eine knappe Mehrheit für den Austritt erbracht hatte. Das würde ihrer mehrmaligen Behauptung widersprechen, der Brexit sei der „Wille des Volks“ – eine ständig wiederholte Schutzbehauptung, die zeigt, dass die kompromisslosen Austrittsbefürworter innerhalb der Tory-Partei und in ihrem eigenen Kabinett dominieren.
Eine Mehrheit der herrschenden Elite, darunter bedeutende Teile der City of London, ist äußerst besorgt über die Folgen des EU-Austritts für die Interessen des britischen Imperialismus. Diese Schichten, die politisch von den Liberaldemokraten und der Labour Party, speziell von ihrem Blair-Flügel, vertreten werden, spielen mit der Idee der erfundenen Anschuldigung einer russischen Einmischung, um das Ergebnis des Referendums zu kippen.
Dass May trotz des möglichen Schadens für ihre eigenen Interessen ein falsches Spiel mit der antirussischen Propaganda betreibt, zeigt das Ausmaß der Krise, mit der sie konfrontiert ist. Nachdem May innerhalb einer Woche zwei Minister aufgrund von Skandalen verloren hat, verkündete sie am Freitag, sie werde einen Änderungsantrag vorlegen, mit dem das Datum, an dem Großbritannien die EU verlässt, gesetzlich verankert wird – und zwar um 23 Uhr, am 29. März 2019.
Als an diesem Wochenende ein geheimes Schreiben von Umweltminister Michael Gove und Außenminister Boris Johnson, mit der Notiz „nur für Sie persönlich“, durchsickerte, wurde deutlich, dass dieser Schritt in Einklang mit Forderungen der führenden Austrittsbefürworter steht.
Angesichts der Tatsache, dass Gove Johnsons Bewerbung um die Führung der Tory-Partei im letzten Juni öffentlich torpediert hatte, ist die gemeinsame Unterzeichnung dieses Briefs bemerkenswert. Da die Zeit für den Brexit abläuft, haben sie sich zusammengetan, um jeden Rückzug vom EU-Austritt und jede Verwässerung zu bekämpfen.
In ihrem Brief „Der EU-Austritt – die nächsten Schritte“ beschweren sie sich über die „mangelhafte Energie“, die Teile der Regierung für den Brexit an den Tag legen. Er fordert, dass die Übergangsperiode im Juni 2021 abgeschlossen sein muss, und drängt May, sie solle in der britischen Verhandlungsdelegation die größtmögliche Unterstützung dafür sicherstellen, indem sie „in deren Köpfen Klarheit herstellt“ und ihnen hilft, „die Logik zu verinnerlichen“.
Das Ergebnis stärkt die Opposition, die für einen Verbleib in der EU eintritt. Angeführt von Labour und den Liberaldemokraten, wurden 300 Änderungsanträge zu dem Gesetzentwurf vorgelegt, darunter einige von Tory-Rebellen.
Sie greifen auf die „Heinrich der VIII. Klausel“ zurück, die Ministern das Recht verleiht, Gesetze durchzusetzen. Das betrifft auch die Rolle des Europäischen Gerichtshofs während der Übergangszeit und die verfassungsrechtliche Position der staatlichen Verwaltungen nach dem Brexit, speziell der von Schottland und Nordirland, die für einen Verbleib gestimmt haben.
Mays Termin für einen Austritt hat dieser Liste nur einen weiteren Streitpunkt hinzugefügt. Der Pro-EU-Abgeordnete der Torys, Dominic Grieve, nannte es „durch und durch dumm“, Großbritanniens Handlungsspielraum in den EU-Verhandlungen weiter einzuschränken. Labour wiederum möchte den „Austrittstag“ auf die Zeit nach einer nicht näher bestimmten Übergangsperiode von mehreren Jahren verlegen, während die Liberaldemokraten ein zweites Referendum befürworten.
Sollte einer der Ergänzungsanträge die Unterstützung von mehr als elf Abgeordneten der Torys bekommen, droht der Regierung eine Niederlage. Dass dies möglich ist, wird noch durch Berichte bestärkt, dass 40 Tory-Abgeordnete die Forderung nach Mays Rücktritt unterstützen. Das heißt, es fehlen nur acht Abgeordnete, um eine Neuwahl der Führung zu erzwingen.
Um einer Tory-Rebellion zuvorzukommen, verkündete der Brexit-Minister David Davis am letzten Montag kurz vor Mays Mansion-House-Rede in letzter Minute ein Zugeständnis: Das Parlament dürfe über die endgültige Einigung zwischen Großbritannien und der EU abstimmen. Aber das ist eine „Alles oder nichts“-Abstimmung, bei der eine Ablehnung bedeuten würde, dass Großbritannien ohne ein Abkommen austräte, also genau das täte, was die Befürworter eines Verbleibs in der EU am meisten fürchten.
Deshalb verschärfte das „Friedensangebot“ von Davis die Spannungen nur weiter. Die Tory-Abgeordnete Anna Soubry beschrieb den Vorschlag als „beleidigend“ und „unsinnig“. Er würde „die schwerwiegenden Probleme“ der Regierung beim Brexit nur verschärfen.
Während sich das britische Parlament über die Frage, ob es über die endgültige Einigung abstimmen darf, in die Haare gerät, gibt es nicht einmal eine Garantie dafür, dass die EU bereit ist, eine Einigung anzubieten. In der letzten Woche hatte der EU-Chefunterhändler Michel Barnier jegliche Fortschritte bei den Verhandlungen über zukünftige Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU ohne eine Einigung über die „Trennungs“-Bedingungen ausgeschlossen.
Der EU-Gipfel am 14./15. Dezember wird darüber entscheiden, ob es einen „echten und ehrlichen“ Fortschritt in Bezug auf die ausstehenden finanziellen Beiträge in Höhe von ca. 60 Milliarden Euro, die Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik und die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien gibt.
Mays Schwäche stärkt nur die Entschlossenheit von Deutschland und Frankreich, keine Zugeständnisse zu machen. Sie sind nicht bereit, einer Premierministerin zu helfen, die in der Hand einer kompromisslosen Anti-EU-Fraktion ist, speziell wenn es sie – und wohl ihre gesamte Regierung – vielleicht nicht mehr lange gibt.
Barnier bestätigte, dass die EU „technische Vorbereitungen“ für ein Scheitern der Verhandlungen trifft, und am Dienstag warnte Manfred Weber (CSU), ein wichtiger Verbündeter von Kanzlerin Merkel und Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament: „Die Uhr tickt.“ Vor den Gesprächen in London am Mittwoch, um die May gebeten hatte, erklärte Weber, es sähe nicht so aus, als ob die EU im Dezember „in die zweite Phase“ der Verhandlungen „eintreten werde“. Er fügte hinzu: „Wir müssen die britische Regierung vorwarnen und von ihr verlangen, Vorschläge auf den Tisch zu legen.“
Teile der EU schüren rücksichtslos die Fraktionskämpfe innerhalb der britischen Politik, in erster Linie in der Frage der irischen Grenze. Die EU hat vorgeschlagen, Nordirland könne nach dem Brexit Teil der Zollunion oder des Binnenmarktes bleiben, um eine „harte Grenze“ zwischen dem Norden und dem Süden zu vermeiden.
Davis hat dies zurückgewiesen und erklärt, das würde nur eine weitere Grenze schaffen, dieses Mal innerhalb Großbritanniens, zwischen Nordirland und dem Festland. Großbritannien werde keine Übereinkunft akzeptieren, die Großbritanniens „verfassungsmäßige und wirtschaftliche Integrität zerstört“, erklärte er.
Dublin verurteilte Großbritannien, weil es versuche, Irlands Zukunft zu bestimmen, und führende EU-Vertreter warfen May vor, sie stelle ihr politisches Überleben über die Interessen des irischen Volks. Mays Regierung wird durch die Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party an der Macht gehalten.
In der Ausgabe des Observer am Sonntag verwies der Brexit-Koordinator des Europäischen Parlaments, Guy Verhofstadt, auf das Abkommen von Belfast von 1998, das die Unruhen in Nordirland beendete, indem Sinn Fein an der Regierung beteiligt wurde. Er erklärte, eine harte Grenze zu vermeiden, sei „entscheidend, um den Frieden und das Karfreitagsabkommen aufrechtzuerhalten, das mit der aktiven Beteiligung der Europäischen Union ausgehandelt wurde ... Ich hoffe, die britische Regierung wird das Richtige für alle Menschen in Nordirland tun. Der Friedensprozess sollte über der Parteipolitik stehen.“