Spanische Polizei unterdrückt Massenproteste nach Urteilen gegen katalanische Nationalisten

Am Montag und Dienstag kam es in ganz Katalonien zu Protesten gegen die harten langjährigen Haftstrafen, zu denen der Oberste Gerichtshof Spaniens zwölf katalanische Nationalisten verurteilt hatte. Das Urteil wurde aufgrund fingierter Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 verhängt.

Nur wenige Minuten nach der Urteilsverkündung am Montagmorgen gingen Tausende Menschen auf die Straße, um die Freilassung der Angeklagten zu fordern. In den Städten überall in der Region besetzten sie öffentliche Plätze und errichteten Straßensperren auf den Autobahnen. In der Regionalhauptstadt Barcelona blockierten sie wichtige Hauptverkehrsstraßen wie die Via Laietana und die Passeig de Gràcia. Laut Angaben der Polizei demonstrierten in Girona 25.000 Menschen, in Tarragona 8.000, in Sabadell 4.000 und weitere Tausende in Dutzenden kleinerer katalanischer Städte.

Abgesehen von den Autobahnen blockierten Demonstranten außerdem die Bahnlinien der staatlichen Eisenbahngesellschaft RENFE und die U-Bahn von Barcelona.

Am frühen Abend kam es während einer Demonstration mit Zehntausenden Teilnehmern, die von der Innenstadt von Barcelona zum Flughafen El Prat zog, zu Zusammenstößen mit der Polizei. Die Demonstranten riefen „macht es wie in Hongkong“ und versuchten, Flughafenterminals zu blockieren und zu besetzen. Am Montag fielen wegen der Verkehrsbehinderungen und der Besetzung der Flughafeneinrichtungen 108 Flüge aus, am Dienstag weitere 20.

Die Polizei hinderte die Demonstranten mit Gewalt daran, das erste Terminal des Flughafens vollständig zu besetzen. Demonstranten behaupteten, die Sicherheitskräfte hätten Gummigeschosse und ätzenden Schaum eingesetzt. Die französische Journalistin Elise Gazengel wurde mehrfach von Polizisten geschlagen und twitterte Bilder ihrer Blutergüsse.

Insgesamt mussten 78 Demonstranten ins Krankenhaus, 38 davon waren am Montagabend noch immer nicht entlassen worden. Drei Personen wurden verhaftet.

Am Dienstagabend ging die spanische Bereitschaftspolizei in Barcelona erneut mit großer Brutalität gegen Protestierende vor. Tausende hatten sich vor der Vertretung der spanischen Zentralregierung versammelt und Parolen wie „Unabhängigkeit“ und „Die Straßen werden immer uns gehören“ gerufen.

Die Urteile sind das illegitime Ergebnis eines Schauprozesses, der Teil der Bestrebungen der herrschenden Klasse ist, die juristischen Grundlagen für einen Polizeistaat in Spanien zu schaffen. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) hat seine prinzipiellen Differenzen gegenüber der prokapitalistischen sezessionistischen und EU-freundlichen Perspektive der nationalistischen katalanischen Parteien erklärt. Allerdings lehnen wir die Haftstrafen ab, zu denen die Angeklagten verurteilt wurden, obwohl der Staat seine Vorwürfe gegen sie nicht beweisen konnte. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die Urteile ist absolut gerechtfertigt.

Die Angeklagten sind die ersten politischen Gefangenen in Westeuropa seit dem Untergang der faschistischen Diktaturen in Portugal (1974) und Spanien (1978). Der abgekartete Prozess gegen sie und ihre Inhaftierung haben weitreichende Folgen für die Arbeiterklasse, die das eigentliche Ziel der polizeistaatlichen Unterdrückung in Spanien und der Welt ist.

Bereits im Juni hatte das Oberste Gericht seinen politisch kriminellen Charakter gezeigt. Damals erklärt es, der Generalissimo Francisco Franco sei zum legitimen spanischen Staatsoberhaupt geworden, als er 1936 den faschistischen Putsch gegen die Republik begann, der den Bürgerkrieg auslöste. Die amtierende Sozialistische Partei Spaniens (PSOE) und die stalinistisch-pablistische Partei Podemos schweigen zu diesem Urteil. Das Urteil gegen die katalanischen Nationalisten allerdings hat ebenfalls den Charakter einer rückwirkenden Legitimierung von Francos faschistischen Unterdrückungsmaßnahmen gegen linke Politik.

Das Oberste Gericht erklärte die Angeklagten in mehreren Anklagepunkten für schuldig: der Aufwiegelung, der Veruntreuung öffentlicher Gelder und des Ungehorsams. Insgesamt wurden Haftstrafen von mehr als 100 Jahren verhängt:

* Dreizehn Jahre Haft und Entzug des passiven Wahlrechts für den Vorsitzenden der ERC (Republikanische Linke Kataloniens), den ehemaligen stellvertretenden katalanischen Ministerpräsidenten und EU-Abgeordneten Oriol Junqueras, der seinen Sitz im Europaparlament nicht einnehmen durfte.

* Zwölf Jahre Haft und Entzug des passiven Wahlrechts für die ehemaligen Regionalminister Raül Romeva, Jordi Turull und Dolors Bassa, elfeinhalb Jahre für die ehemalige katalanische Parlamentssprecherin Carma Forcadell, zehneinhalb Jahre für die ehemaligen Regionalminister Joaquim Forn und Josep Rull, neun Jahre Haft für Jordi Sánchez und Jordi Cuixart, die Vorsitzenden der katalanischen Nationalversammlung und der Kulturvereinigung Òmnium.

* Eine drakonische Geldstrafe von 200 Euro pro Tag über zehn Monate für die ehemaligen Regionalminister Santi Vila, Meritxell Borrss und Carles Mundó, die ein Jahr und acht Monate für kein Amt kandidieren dürfen.

Der ganze Rahmen des Schauprozesses, den das Oberste Gericht organisiert hatte, war illegitim. Die PSOE-Regierung hatte die vor Kurzem gegründete franquistische Partei Vox eingeladen, den Staat bei der Anklage zu unterstützen. Sie warf den Angeklagten Rebellion vor, d.h. „gewalttätigen öffentlichen Aufstand“ gegen die Staatsgewalt. Tatsächlich hatten sie sich für ein friedliches Referendum eingesetzt und danach zu friedlichen Demonstrationen aufgerufen.

Es gab zwar massive Gewalt, sie wurde jedoch nicht von den Unterstützern des Referendums organisiert, sondern von der rechten PP-Regierung in Madrid. Die PP-Regierung ließ die Polizei vor den Augen von Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die es in sozialen Netzwerken miterlebten, mit brutaler Gewalt gegen friedliche Wähler vorgehen. Insgesamt wurden mehr als 1.000 Menschen verletzt.

Letzten Endes vermied das Gericht es gerade noch, die Angeklagten wegen Rebellion schuldig zu sprechen. In diesem Fall hätten sie jahrzehntelange Haftstrafen erhalten. Stattdessen wurden sie wegen der weniger hart bestraften Aufwiegelung schuldig gesprochen, d.h. „öffentlicher und turbulenter Erhebung mit dem Ziel, gewaltsam oder auf rechtswidrige Weise“ die Durchsetzung der Gesetze oder der staatlichen Autorität zu verhindern. Der Schuldspruch wegen Aufwiegelung hat drakonische Folgen für demokratische Grundrechte, vor allem für das Recht zu streiken oder zu protestieren.

Das Gericht erklärte, die Angeklagten hätten die Wähler dazu ermutigt, sich dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen sie zu widersetzen und seien daher der Aufwiegelung schuldig, weil sie für das Referendum argumentiert, es unterstützt und bei seiner Organisation mitgeholfen haben. Der zweite Vorfall, auf den sich das Gericht berief, war eine Protestveranstaltung, die Jordi Sánchez und Jordi Cuixart am 20. und 21. September organisiert hatten. Diese Veranstaltung richtete sich gegen die Razzien der Guardia Civil in katalanischen Regierungsgebäuden, bei denen Dokumente konfisziert und das Unabhängigkeitsreferendum verhindert werden sollte. Während der Kundgebung wurden zwei Fahrzeuge der Guardia Civil beschädigt, was Sanchez und Cuixart verurteilten, während sie zu friedlichen Protesten aufriefen.

Diese Urteile begründen eine falsche Rechtsprechung, mit dem der spanische Staat jeden wegen Aufwiegelung für schuldig sprechen und bis zu 15 Jahre ins Gefängnis sperren kann, der zu Protesten aufruft – egal wie friedlich sie sind. Die Regierung muss nur die Polizei diese Proteste angreifen lassen und dann behaupten, die Demonstranten hätten sich mit Gewalt dem Angriff widersetzt. Dann können sie die Organisatoren wegen „Aufwiegelung“ verurteilen, weil sie angeblich zu gewaltsamem Widerstand gegen den Staat aufgerufen haben.

Die Bevölkerung, die legale und verfassungsrechtlich geschützte Maßnahmen wie Streiks oder Proteste gegen Zwangsräumungen oder Polizeirazzien gegen Migranten ergreift, befindet sich jetzt in großer Gefahr.

Der Schuldspruch wegen Veruntreuung von Steuergeldern ist genauso falsch. Die Staatsanwaltschaft konnte keine Beweise dafür liefern, dass die katalanische Regierung nach dem 6. September 2017, an dem das Regionalparlament das entsprechende Gesetz für das Referendum verabschiedet hatte (das später vom Verfassungsgericht kassiert wurde), noch Geld für das Referendum ausgegeben hat. Dennoch wurden mehrere Angeklagte deshalb schuldig gesprochen.

Dass die EU und die europäischen Großmächte das Oberste Gericht einstimmig unterstützen, ist als Warnung zu verstehen: In den herrschenden Klassen Europas gibt es keinen Rückhalt für demokratische Rechte. Die Bourgeoisie strebt in allen Ländern die Einführung eines Polizeistaats an und entwickelt juristische Grundlagen, wie sie auch die Nazis in den 1930ern vorgelegt haben. Die Sprecherin der EU-Kommission Mina Andreewa erklärte, das Urteil „ist und bleibt eine interne Angelegenheit Spaniens, die im Rahmen der dortigen verfassungsmäßigen Ordnung gelöst werden muss“.

Berlin schloss sich der Position der EU an, berief sich auf die juristisch-verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen in Spanien und forderte die Bevölkerung dazu auf, das Urteil zu akzeptieren. Das französische Außenministerium äußerte „Vertrauen in die Fähigkeit der spanischen Behörden, die Spannungen zu überwinden, die in Katalonien entstanden sind. ... Frankreich unterstützt die territoriale und verfassungsmäßige Einheit Spaniens.“

Die korrupten und reaktionären Organisationen, die von den spanischen Kapitalisten jahrzehntelang als „Linke“ dargestellt wurden, machten allesamt ihre Unterstützung für das Urteil deutlich. Der amtierende Ministerpräsident und PSOE-Chef Pedro Sánchez, der Tausende Polizisten und Einheiten der Guardia Civil gegen die Proteste eingesetzt hat, verteidigte das Urteil mit den Worten: „Niemand steht über dem Gesetz. In einer Demokratie wie Spanien wird niemand wegen seiner Ansichten oder seiner Politik vor Gericht gestellt, sondern nur wegen kriminellen Verhaltens, so wie es das Gesetz vorsieht.“

Podemos-Chef Pablo Iglesias übte zwar geringfügige Kritik an dem Urteil, betonte aber: „Alle werden das Gesetz respektieren und das Urteil akzeptieren müssen.“ Er kam zu dem selbstzufriedenen Schluss: „Für uns ist es Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und erneut Brücken zwischen der gespaltenen katalanischen Gesellschaft und ... der spanischen Gesellschaft zu bauen.“

Der katalanische Regionalpräsident Quim Torra forderte eine Amnestie für alle zwölf Beschuldigten. Der katalanisch-nationalistische Funktionär erklärte, er wolle sich mit dem spanischen König Philipp VI. und Ministerpräsident Sánchez treffen, den Personen, die das gewaltsame Vorgehen gegen die katalanischen Nationalisten koordinieren. Er weigerte sich jedoch, zu zivilem Ungehorsam aufzurufen. Sein Regional-Innenminister Miquel Buch ist verantwortlich für das Vorgehen der katalanischen Regionalpolizei gegen Demonstranten.

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