Rechtsextreme Massenproteste in der Ukraine:

Selenskyj akzeptiert „Steinmeier-Formel“

Am 1. Oktober unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Dokument, laut dem sich die Ukraine an die „Steinmeier-Formel“ halten und in der Ostukraine Wahlen durchführen werde. Der derzeitige deutsche Bundespräsident und ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat die nach ihm benannte Formel 2016 entwickelt. Zuvor hatte er eine wichtige Rolle bei dem rechtsextremen Putsch in Kiew im Februar 2014 gespielt, der von Deutschland und den USA unterstützt wurde.

Im darauf folgende Bürgerkrieg in der Ostukraine wurden mindestens 13.000 Menschen getötet, bis zu 30.000 weitere verwundet und Millionen Menschen vertrieben.

Die Steinmeier-Formel beinhaltet eine Reihe von Vorschlägen zur Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015. Die Formel ist äußerst vage und unklar, ihre einzige konkrete Vorgabe ist, dass im Donbass Wahlen stattfinden müssen. Das könnte dazu führen, dass die ostukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk, die momentan von pro-russischen Separatisten regiert werden, einen halbautonomen Status erhalten. Steinmeier selbst hat mehrfach betont, dass nahezu alle Aspekte seiner „Formel“ in weiteren Verhandlungen geklärt werden sollen. Laut Umfragen wissen zwei Drittel der Ukrainer nicht, was sie von dieser Formel halten sollen. 23 Prozent lehnen sie ab, nur 18 Prozent unterstützen sie.

Die Bedingungen der Wahl werden vom sogenannten Normandie-Format festgelegt, das aus Deutschland, Frankreich und Russland besteht. Die USA sind darin nicht vertreten.

Am 3. und am 14. Oktober protestierten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz tausende rechtsextreme Nationalisten gegen Selenskyjs Regierung, die bereits maßgeblich an dem Putsch von 2014 und am Bürgerkrieg beteiligt waren. Vertreter der ehemaligen Poroschenko-Regierung schlossen sich den Kundgebungen an. Die Steinmeier-Formel wurde als „Zugeständnis“ an und „Kapitulation“ vor Russland beschimpft.

Der ehemalige Präsident Poroschenko unterstützte offen die Demonstrationen und erklärte: „Wir erklären uns solidarisch mit dem derzeitigen Vorgehen und den Forderungen der Veteranen. Wir werden nicht zulassen, dass der ukrainische Staat ruiniert wird.“

Selenskyj sah sich gezwungen, seine Entscheidung für die Formel in einer 14-stündigen Pressekonferenz zu verteidigen. Er betonte, die Wahl im Donbass werde erst nach einem Abzug der russischen Truppen stattfinden. Russland bestreitet jedoch weiterhin, dass es überhaupt Truppen in der Ukraine stationiert hat.

Der Kreml bezeichnete es als „Schritt in die richtige Richtung“, dass Kiew die Steinmeier-Formel übernimmt. Moskau blieb jedoch auffällig zurückhaltend, was die Verhandlungen betrifft. Die russische Presse berichtete nur sehr begrenzt darüber und es gab kaum offizielle Erklärungen. Nach fünf Jahren Wirtschaftskrieg und militärischer Einkesselung durch die imperialistischen Mächte ist Russlands wirtschaftliche und politische Stellung dramatisch geschwächt, was Selenskyj zweifellos auszunutzen versucht.

Kurz vor Selenskyjs Entscheidung fand ein Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine statt, der von Berlin und Paris eindringlich unterstützt wurde. Die Entscheidung fiel zudem vor dem Hintergrund einer dramatischen Verschärfung der politischen Krise in Washington, in der die CIA und die Demokraten ein Telefonat zwischen Trump und Selenskyj im Juli als Grundlage für eine Amtsenthebungsuntersuchung benutzen.

Die Übernahme der Steinmeier-Formel ist Teil von Kiews Manövern zwischen dem US-Imperialismus auf der einen Seite und Berlin und Paris auf der anderen. Vor allem seit 2014 ist die Ukraine stark von der militärischen Unterstützung der USA abhängig geworden und hat sich zu einem Bollwerk der Aufrüstung Washingtons gegen Russland entwickelt. Gleichzeitig pflegt die Ukraine umfangreiche Wirtschaftsbeziehungen mit der EU und vor allem mit Deutschland. Eine Quelle aus Selenskyjs Umfeld erklärte gegenüber dem Magazin Foreign Policy, der ukrainische Präsident betrachte die Übernahme der Steinmeier-Formel als politisches Zugeständnis an Frankreich und Deutschland.

Die Vertreter des deutschen und des französischen Imperialismus inszenieren sich gerne als „Friedensstifter“ in der Ukraine. In Wirklichkeit ist jedoch nichts Harmloses an ihrer immer stärkeren Einmischung in die Angelegenheiten des Landes.

Berlins Engagement steht in der Tradition der Versuche des deutschen Imperialismus, diese Region zu kontrollieren. Dies wiederum ist Teil seiner Bestrebungen, die Vormachtstellung in Europa zu erlangen. Deutschland hat in beiden Weltkriegen die Ukraine und Osteuropa besetzt. Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nazis zusammen mit ukrainischen faschistischen Kräften bis zu sieben Millionen Menschen in der Ukraine, darunter etwa eine Million Juden.

Nach dem Putsch im Februar 2014 ließ sich der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zusammen mit dem ukrainischen Neofaschisten Oleg Tjagnybok von der Partei Swoboda fotografieren. Als Bundespräsident hielt er im September eine Rede in Polen zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs 1939, in der er den Holocaust nicht einmal erwähnte.

Wenn Berlin jetzt auf eine Beilegung des Konflikts in der Ostukraine unter eigener Regie drängt, so hängt dies zum einen mit den wirtschaftlichen Interessen der deutschen Bourgeoisie zusammen, deren Geschäfte unter dem anhalten Krieg leiden. Zum anderen hängt es mit dem zunehmenden Konflikt mit dem US-Imperialismus zusammen.

Seit dem Putsch im Februar 2014 hat die deutsche Bourgeoisie ihr Engagement in der ukrainischen Wirtschaft und Politik stark ausgeweitet. Laut der Bundesregierung ist die Zahl der Beschäftigten der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der KfW-Bank (beides Werkzeuge der Bundesregierung) in Kiew seit 2014 um das Siebenfache angestiegen. Im Jahr 2016 gründete Deutschland eine eigene Niederlassung der Auslandshandelskammer, um die Interessen deutscher Unternehmen in Kiew zu repräsentieren.

Etwa 1.000 deutsche Firmen sind mittlerweile in der Ukraine aktiv. Dennoch beklagten sich Wirtschaftsvertreter und Politiker, dass ihr wirtschaftlicher Erfolg nicht so groß war, wie sie unter Poroschenko erwartet hatten. Anfang des Jahres kündigte Volkswagen die Verlegung einer Fabrik von der Ukraine in die Slowakei an, während die ukrainische Autoindustrie nahezu vollständig zusammenbrach.

Der Handelskrieg zwischen der EU und den USA und die Wirtschaftskrise in Europa haben die Bedeutung der osteuropäischen Märkte für Deutschland gesteigert. Der Wert des Handels mit Osteuropa hat vor kurzem den des Handels sowohl mit China als auch den USA übertroffen. Mehrere deutsche Politik-Kommentatoren haben betont, dass Deutschland seine Interessen in der Region verteidigen müsse, um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Handelskriegs und der Brexit-Krise auszugleichen.

Neben diesen wirtschaftlichen Interessen steht die Ukraine auch im Mittelpunkt des wachsenden Konflikts zwischen den imperialistischen Mächten um die Strategie gegenüber Russland. Deutschland hat zwar eine zentrale Rolle bei der Aufrüstung der EU und der Nato gegen Russland gespielt, doch Teile der deutschen Bourgeoisie sind beunruhigt über die Wirtschaftssanktionen, die ihre engen Geschäftsbeziehungen mit Russland beeinträchtigt haben. Vor allem die Sanktionen der USA haben nicht nur russische Unternehmen, sondern auch ihre internationalen und vor allem ihre deutschen Partner getroffen.

Deutschland treibt außerdem den Bau der Pipeline Nord Stream 2 voran, die verstärkt direkte Gaslieferungen von Russland nach Deutschland ermöglichen würde. Die USA, die Ukraine und die meisten osteuropäischen Staaten lehnen das Projekt entschieden ab. Die Trump-Regierung hat den beteiligten Unternehmen mehrfach mit Sanktionen gedroht.

Auch Frankreich, dessen Beziehungen zu den USA sich ebenfalls deutlich verschlechtert haben, hat bei Selenskyjs jüngsten Entscheidungen eine wichtige Rolle gespielt. Die Financial Times schrieb, Macrons Eintreten für den russisch-ukrainischen Gefangenenaustausch im August sei Teil seiner Versuche gewesen „die Beziehungen Europas zu Russland zu stärken, um Moskau zur Zusammenarbeit bei anderen internationalen Krisen zu gewinnen, vor allem bei dem gefährlichen Streit um die nuklearen Ambitionen des Iran“. In dieser Frage sind Frankreich und Deutschland mit den USA aneinandergeraten.

Die Selenskyj-Regierung versucht diese Spaltungen zwischen den imperialistischen Mächten auszunutzen, um die Verhandlungsposition der Ukraine zu verbessern. Obwohl Selenskyj an Deutschland und Frankreich appelliert, über die Ostukraine zu verhandeln, hat er seine Kritik an Merkel und Macron verschärft. In dem Telefonat mit Trump am 25. Juli hatte er Merkel und Macron bereits vorgeworfen, sie würden nicht genug für die Ukraine tun. Letzte Woche fügte er hinzu, er habe mit Merkel und Macron ausführlich über Nord Stream 2 gesprochen, könne ihren Auffassungen zu dem Projekt aber nicht zustimmen.

Daneben treiben Selenskyj auch innenpolitische Erwägungen an. Seine Regierung hat gerade das bisher umfassendste Privatisierungsprogramm seit der Wiedereinführung des Kapitalismus in den 1990er Jahren angekündigt. Deshalb will er freie Hand haben, um diese Eskalation des Kriegs der ukrainischen Oligarchie gegen die Arbeiterklasse umzusetzen. Die geplanten Werksschließungen könnten zur Entlassung von zehntausenden Arbeitern führen, während bereits ein Großteil der Bevölkerung in bitterer Armut lebt.

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