Russland: Covid-19-Fälle steigen weiter an, mehr als 750.000 zusätzliche Arbeitslose

Die steigende Zahl von Coronavirus-Infektionen und die sich zuspitzende Wirtschaftskrise lässt die politische Unzufriedenheit mit der Regierung des russischen Präsident Wladimir Putin wachsen. Am Donnerstag verzeichnete das Land mit mehr als 11.000 neuen Fällen den größten Anstieg pro Tag. Die Gesamtzahl der Infizierten stieg damit auf über 177.000. Kürzlich veröffentlichte Zahlen zeigen, dass die Arbeitslosigkeit stark zunimmt, während der Rückhalt für die Regierung in der Bevölkerung einen neuen Tiefstwert erreicht hat.

Drei hohe Regierungsvertreter – der Premierminister, der Kultusminister und der Bauminister – haben sich mit Covid-19 angesteckt. Auch in russisch-orthodoxen Kirchen und Klöstern kam es zu Ausbrüchen, obwohl die Kirchenoberhäupter die Lüge verbreiteten, Geistliche und Gemeindemitglieder seien vor der Krankheit sicher. Am Donnerstag erschoss sich der russische Bergbaumogul Dmitri Bosow, dessen Nettovermögen umgerechnet auf 1,1 Milliarden Dollar geschätzt wurde. Die Motive für seinen Selbstmord sind zwar noch unklar, doch ein enger Partner des Oligarchen behauptete, er habe vor kurzem begonnen, Vermögenswerte zu verkaufen, vermutlich aus Angst vor der Pandemie und ihren Folgen. Zudem liefen mehrere gerichtliche Verfahren gegen seine Geschäftstätigkeiten.

Auf dem Ölfeld Tschajanda in Jakutien, das vom Gazprom-Konzern betrieben wird, wurde laut dem russischem Gesundheitsministerium mehr als ein Drittel der 10.500 Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet. Letzte Woche brachen Proteste aus, bei denen Arbeiter dem Management vorwarfen, sie hätten das Ölfeld in einen Infektions-Hotspot verwandelt, da kranke und gesunde Arbeiter gemeinsam unter Quarantäne gestellt wurden. Das Unternehmen hat sich weder um ausreichend Lebensmittel, noch um Masken, Schutzausrüstung oder medizinische Versorgung gekümmert. Etwa 8.500 Arbeiter wurden aus dem Ölfeld evakuiert, von den restlichen wird verlangt, dass sie die Produktion fortsetzen.

Eine Frau mit Gesichtsmaske vor einem Graffiti in St. Petersburg, das an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erinnert, 4. Mai 2020 (AP Photo/Dmitri Lowetzki)

Der Chef der russischen Atomenergiebehörde Rosatom, Alexei Lichatschow, warnte, die „Atomstädte“ des Landes – Industriezentren, zu denen Außenstehende früher keinen Zutritt hatten – könnten die Gesundheit ihrer Belegschaften nicht gewährleisten. Als „besonders beunruhigend“ bezeichnete er die Lage in Sarow, Elektrostal und Desnogorsk. Dort würden persönliche Schutzausrüstung sowie Beatmungsgeräte fehlen.

In Moskau, dem Epizentrum des Ausbruchs in Russland, gibt es laut Bürgermeister Sergej Sobjanin mehr als 92.000 offiziell gemeldete Fälle, die tatsächliche Zahl dürfte rund 300.000 betragen. Dennoch wird die Stadt am 12. Mai ihre Industrie und die Baubranche wieder in Betrieb nehmen und Tausende zurück an die Arbeit schicken. Gleichzeitig verschärft die Stadtverwaltung unter Sobjanin die allgemeinen Einschränkungen für die Bevölkerung.

Die Infektions- und Todesraten unter dem medizinischen Personal sind in Russland, genau wie in anderen Teilen der Welt, sehr hoch. Diese Woche starb der Chefarzt eines der wichtigsten Moskauer Krankenhäuser an dem Virus. In St. Petersburg, Moskau und anderen Städten wurden ganze Krankenhäuser abgeriegelt, weil sich sowohl das Personal als auch die Patienten mit Covid-19 angesteckt haben. In den letzten zwei Wochen stürzten drei Ärzte, die am Kampf gegen die Pandemie beteiligt waren, aus dem Fenster. Posts in den sozialen Netzwerken zeigen, dass dem Krankenhauspersonal mit Entlassung bedroht wird, wenn sie sich über den Mangel an Schutzausrüstung und anderen grundlegenden Gütern beschweren.

Obwohl die Krankheit ungehemmt weiter wütet, hat die Regierung einen mehrphasigen Plan zur Wiedereröffnung des ganzen Landes vorgestellt, der in einigen Gebieten schon ab nächsten Dienstag umgesetzt werden soll. Er basiert auf demselben Profitstreben, das die herrschende Klasse weltweit antreibt.

Laut einer aktuellen Schätzung der russischen Zentralbank, ist das Bruttoinlandsprodukt durch die sechswöchige Stilllegung der Wirtschaft um 1,5 bis zwei Prozent gesunken.

Die Arbeitslosigkeit ist in Russland auf 1,234 Millionen gestiegen. Alleine in der Zeit von März bis April 2020 stieg sie um 735.000. Arbeits- und Sozialminister Anton Kotjakow erklärte am Donnerstag, die tatsächliche Zahl betrage vermutlich eher 3,7 Millionen. Bis Ende des Jahres wird sie vermutlich auf 5 bis 6 Millionen ansteigen. Nur 1,8 Milliarden Rubel (22,6 Millionen Euro) wurden für die Finanzierung der zusätzlichen Arbeitslosenhilfe bereitgestellt. Die Höhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt umgerechnet zwischen 20 und 110 Euro pro Monat.

Alexandr Safonow, Prorektor der russischen Finanzakademie, erklärte in einem Interview mit dem Onlinemagazin Gaseta.ru, die Prognose von fünf Millionen Arbeitslosen bis Ende 2020 sei noch das „optimistische“ Szenario. Er betonte außerdem, der bevorstehende Einbruch bei den Einkünften werde dramatischer sein als das, was die russische Bevölkerung in den 1990er Jahren bei der Wiedereinführung des Kapitalismus oder während der weltweiten Wirtschaftskrise 2008–2009 durchgemacht hat. Safonow wies zudem darauf hin, dass unmittelbar nach der Auflösung der UdSSR noch einige Zeit lang kostenfreie soziale Dienstleistungen verfügbar waren, wie etwa die Kinderbetreuung. Diese sind seither allerdings privatisiert oder kostenpflichtig. Der Rückgang der Einkommen wird dieses Mal noch verheerendere Folgen haben als zuvor.

Der russische Finanzminister Anton Siluanow erklärte diese Woche, die Regierung könne keine direkten Zahlungen an die Bevölkerung leisten. Andere Regierungsvertreter hatten sich zuvor ähnlich geäußert. Siluanow erklärte, wenn der russische Rubel eine weltweite Reservewährung wäre, könnte der Staat das Geld abwerfen „wie aus einem Hubschrauber“. In der derzeitigen Lage könne man jedoch nur einer begrenzten Zahl von besonders bedürftigen Menschen helfen. Er betonte, die „sozialen Verpflichtungen der Regierung würden natürlich vollständig erfüllt“. Gleichzeitig kündigte er jedoch an, der Zeitrahmen für die Umsetzung einiger „nationaler Projekte“, die dem Kreml als Zeichen für Russlands wirtschaftliche Stärke und Verpflichtung gegenüber dem Wohlergehen der Bevölkerung sehr wichtig sind, werde verlängert.

Der Rückhalt für Putins Regierung schwindet, da die Corona-Pandemie die Fäulnis in allen Bereichen des wirtschaftlichen und politischen Lebens in Russland offenlegt. Die Zustimmungswerte des russischen Präsidenten sind laut dem Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum auf einen historischen Tiefststand von 59 Prozent gesunken. Laut der Umfrage lehnen 33 Prozent der Bevölkerung Putins Regierung ausdrücklich ab. Kremlsprecher Dmitri Peskow wies die Zahlen schnell als unzuverlässig zurück und betonte, Putin genieße weiterhin große Unterstützung. Doch unmittelbar vor dem Lewada-Zentrum hatte auch die offizielle Umfrageagentur WTsIOM Zahlen veröffentlicht, laut denen nur 28 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die Regierung haben.

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