Mehr als 200.000 Corona-Tote

WHO warnt vor Wiederaufleben der Corona-Pandemie in Europa

Am Freitag warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Aufhebung der Lockdown-Maßnahmen in Europa führe zu einem Wiederaufleben von Covid-19. Der Anstieg der Neuinfektionen geht auf die extreme Klassenungleichheit und die Ausbeutung von Wanderarbeitern in ganz Europa zurück.

Eine Sprecherin des Regionalbüros der WHO für Europa erklärte gegenüber AFP: „Der aktuelle Wiederanstieg der Fälle von Covid-19 in einigen Ländern nach der Lockerung der physischen Distanzierungsmaßnahmen ist zweifellos ein Grund zur Sorge.“

Ihrer Ansicht nach sollten die Regierungen großflächige Lockdowns vorbereiten, um schwere neue Ausbrüche zu verhindern: „Wenn neue Infektionscluster auftreten, müssen sie durch schnelle und gezielte Interventionen unter Kontrolle gebracht werden, u.a. durch schnelle Feststellung der Fälle, Isolation, sorgfältige Kontaktverfolgung und Quarantänen ... Wenn die Situation es erfordert, ist womöglich auch die Wiedereinführung strengerer gezielter Maßnahmen unter vollem Einsatz der Gesellschaften angebracht.“

Am Wochenende überstieg die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 in Europa die 200.000er-Marke, die Zahl der offiziell registrierten Fälle näherte sich drei Millionen. Überall in Osteuropa steigt die Zahl der täglichen Neuinfektionen stark an, u.a. um über 5.000 in Russland und um über 1.000 in der Ukraine und Rumänien. Die Zahl der Todesfälle liegt aber noch deutlich unter den Tausenden, die im Frühjahr täglich gestorben sind. Die Lockdown-Maßnahmen in Westeuropa haben die Auswirkungen der Pandemie eingedämmt. Seit dem 20. Mai gab es in ganz Europa noch etwa 20.000 neue Fälle pro Tag, d. h. weniger als halb so viele wie auf dem Höhepunkt im April.

Die politische Reaktion der Europäische Union (EU) auf die Pandemie bestand im Wesentlichen darin, sie als Vorwand zu benutzen, um den Banken und Konzernen Rettungspakete in Billionenhöhe zukommen zu lassen. Das Ergebnis droht in eine Katastrophe zu führen. Während die Pandemie sich in Osteuropa weiter ausbreitet, führt die vorschnelle Aufhebung der Lockdowns in den ursprünglichen Zentren der Pandemie in Westeuropa zu einem schnellen Wiederanstieg von Neuinfektionen.

Am Samstag erreichte die Zahl der Neuinfektionen in Rumänien den Rekordwert von 1.284 Fällen, die Ukraine kam auf den Beinahe-Rekord von 1.106. Da die rechtsextreme ukrainische Regierung auf Geheiß des IWF die Sozialausgaben kürzt, wandern Millionen von Ukrainern nach Mittel- und Westeuropa aus, um Arbeit zu finden. Viele von ihnen arbeiten als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und sind aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen, wie sie selbst in den reichsten Ländern Europas herrschen, besonders gefährdet.

In Deutschland wurden jüngst auf einem Bauernhof im bayrischen Mamming 174 von 480 ausländischen Erntehelfern positiv auf Covid-19 getestet. Sicherheitskräfte stellten den Hof unter Quarantäne und erklärten, diese werde möglicherweise auch auf das Umland ausgedehnt. Ein Großteil der Infizierten in Mamming sind rumänische Wanderarbeiter. Sie ernten Gurken und verarbeiten diese in großen, geschlossenen Betrieben, was vermutlich zur Ausbreitung des Virus beigetragen hat.

In Spanien protestierten ausländische Landarbeiter in der Region Kastilien-La Mancha, nachdem 400 von ihnen wegen eines Ausbruchs bei Albacete unter Quarantäne gestellt worden waren. Die Arbeiter stammen überwiegend aus Westafrika und leben in Gemeinschaftsunterkünften ohne Privatsphäre oder ordentliche Schlaf- und Wascheinrichtungen. Der Landwirtschaftsbetrieb und die Hotels in der Gegend weigerten sich, ihre Unterbringung zu übernehmen.

Die Hochschule für Sozialarbeit von Kastilien-La Mancha erklärte zu dieser Tragödie: „Die Verwaltung von Albacete hat niemals versucht, durch umfassende Maßnahmen menschenwürdige Bedingungen dort zu schaffen. Sie hat immer weggeschaut, obwohl an vielen Fronten, einschließlich der öffentlichen Gesundheit, Präventivarbeit notwendig war. Hat angesichts der Umstände der Corona-Pandemie wirklich niemand mit so etwas gerechnet?“

Ein Bericht von Euronews, dem Spiegel, Lighthouse Reports und Médiapart mit dem Titel „Unsichtbare Arbeiter: unterbezahlt, ausgebeutet und gefährdet auf Europas Bauernhöfen“ enthüllt die unerträglichen Bedingungen, unter denen viele der 9,7 Millionen Landarbeiter in Europa leben.

Juan, ein Jugendlicher aus Kolumbien, wurde von einem Subunternehmen als Arbeiter auf einem französischen Bauernhof eingestellt. Er schildert, wie er von anderen Arbeitern mit dem Spruch „Willkommen in der Hölle‘ begrüßt wurde. „Und ich dachte, das sei ein Witz. Aber als sie die Tür öffneten und ich das Haus sah – es war eine Katastrophe.“ Die Arbeiter zahlten, so der Bericht, monatlich etwa 200 Euro Miete für eine Unterkunft, in dem sie – unter Verstoß gegen das Arbeitsrecht – zu fünft in einem Raum zusammengepfercht waren und in Etagenbetten schlafen. Es wurden keine Bettlaken oder Kissen zur Verfügung gestellt, und in den Toiletten gab es kein Toilettenpapier.

Solche Berichte verdeutlichen die grenzenlose Klassenarroganz der Finanzaristokratie und ihrer kleinbürgerlichen Komplizen in der Gewerkschaftsbürokratie, die die Sozialpolitik in Europa bestimmen. Während die Europäische Zentralbank 1,25 Billionen Euro druckt, damit die Banken die Superreichen retten können, und sich Regierungsvertreter darüber streiten, wie das Rettungspaket für die Konzerne in Höhe von 750 Milliarden Euro aufgeteilt werden soll, haben sie für die Arbeiter nur Verachtung übrig.

Vertreter der EU haben zugegeben, dass Landarbeiter kaum besser behandelt werden als Sklaven, obwohl sie vom Europäischen Parlament heuchlerisch als „lebenswichtige Arbeitskräfte“ gefeiert werden. Die Folgen sind tödlich. Daniel Freund, ein Europaabgeordneter der deutschen Grünen, erklärte: „Im Moment haben wir diese verrückte Situation, dass wir tatsächlich einen besseren Schutz für Tiere haben als für einige dieser Arbeiter auf unseren Höfen.“

Diese Situation enthüllt die tiefgreifenden Mängel der europäischen Lockdown-Maßnahmen. Sie wurden ab März erst nach einer Welle von spontanen Streiks in Italien und einer wachsenden Streikbewegung in Europa umgesetzt. Allerdings konnten sie die Pandemie nicht vollständig aufhalten. Während der Lockdowns sorgten die Bedingungen auf den Bauernhöfen und anderen Arbeitsstätten dafür, dass sich die Krankheit unter den extrem ausgebeuteten „systemrelevanten“ Beschäftigten, die weiterarbeiten mussten, um einen Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung zu verhindern, weiter ausbreitete.

Jetzt zeigen sich die Auswirkungen der vorschnellen Rücknahme der Lockdown-Maßnahmen. Nachdem die Zahl der täglichen Neuinfektionen in vielen westeuropäischen Staaten nach dem Lockdown im Frühling auf einige Dutzend sank, steigt sie jetzt wieder rapide an. In Deutschland stieg die Zahl am Samstag um 781, in Frankreich um 1.130 und in Spanien um 2.255. Der Tagesspiegel schrieb in einem Artikel mit dem Titel „Die zweite Welle ist da“: „Seit Mitte Mai hatte sich die Zahl der Neuinfektionen stetig verringert. Aktuell nehmen die Fälle wieder deutlich zu – ohne dass es einen Hotspot gibt.“

In Katalonien wurde ein „freiwilliger“ Lockdown für die vier Millionen Einwohner von Barcelona vorgeschlagen. In Frankreich erklärte der Chef des Wissenschaftlichen Rates, Jean-François Delfraissy, es werde dort bald ein ähnliches Niveau erreicht werden.

Er warnte, in Frankreich könnte „sich so etwas wie in Spanien und Katalonien abspielen“, und wies darauf hin, dass in Arbeitervierteln viele Immigranten leben, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. Er betonte seine Sorge um die „gefährdeten Bevölkerungsgruppen und diejenigen, die in prekäre soziale Verhältnisse geraten könnten. Die nördlichen Vororte von Paris sind stärker betroffen als jedes andere Gebiet, und französische Staatsbürger ausländischer Herkunft haben deutlich höhere Sterblichkeitsraten ... Wenn wir zulassen, dass sich die Covid-Infektionen in diesen Bevölkerungsgruppen ausbreiten, wird sich die Krankheit in der Gesamtbevölkerung ausbreiten.“

Dennoch lehnt die EU neue Lockdown-Maßnahmen ab. Sie fordert drastische Sozialkürzungen und einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen, um die Umverteilung von Milliarden Euro an die Superreichen zu finanzieren.

Am Samstag schloss der französische Premierminister Jean Castex großflächige Lockdown-Maßnahmen ab: „Wir wissen jetzt, wozu das führt: Es hält natürlich die Ausbreitung der Pandemie auf, aber vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkt ist es eine Katastrophe.“ Er fügte hinzu, man könne nur über „sehr stark lokalisierte Lockdowns“ reden. Präsident Emmanuel Macron hat bereits erklärt, dass alleine in Frankreich Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren werden und dass es viele Insolvenzen geben wird, um die Rettungsaktionen der EU für die Reichen zu finanzieren.

Im Klartext heißt das: Castex und die europäische Kapitalistenklasse, die hinter ihm steht, lehnen die Eindämmung von Covid-19 ab, weil diese „Katastrophe“ den Zufluss der Profite in ihre Taschen unterbricht. Sie ziehen Tod und Profite dem Schutz von Leben und Gesundheit vor. Sie beweisen damit, dass nur eine Bewegung der Arbeiterklasse für Gleichheit, für die Arbeiterkontrolle über die Produktion und für die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms die Pandemie aufhalten kann.

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