Massenstreiks in Belarus: Merkel und Macron wenden sich an Putin

Die Streikbewegung breitet sich weiter in ganz Belarus aus. Die Proteste waren nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 9. August ausgebrochen und verbanden sich mit der zunehmenden Wut über die katastrophale Reaktion von Präsident Alexander Lukaschenko auf die Corona-Pandemie. Am Wochenende fanden die landesweit größten Demonstrationen seit der Auflösung der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991 statt. In der Hauptstadt Minsk demonstrierten etwa 200.000 Menschen für Lukaschenkos Rücktritt und gegen Polizeigewalt und Massenverhaftungen von Demonstranten.

Die zunehmende Mobilisierung der Arbeiterklasse hat die europäische Bourgeoisie aufgeschreckt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron telefonierten am Dienstag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, bevor am Mittwoch eine außerordentliche Sitzung des Europäischen Rats stattfand.

Arbeiter in mehreren staatseigenen Fabriken beteiligten sich am Dienstag an den Streiks, darunter die Kalisalzfabrik Belaruskali in Soligorsk. Als weltweit fünftgrößter Produzent der Chemikalie, die für Düngemittel verwendet wird, ist die Fabrik für einen beträchtlichen Teil der belarussischen Exporteinnahmen verantwortlich. Auch die staatlichen Rundfunksender und das Kupalauski-Theater in Minsk nahmen an den Streiks teil. Nachdem der Regisseur Pawel Latuschko entlassen wurde, weil er seine Unterstützung für die Demonstranten erklärt hatte, reichten die Schauspieler reihenweise ihre Kündigungen ein.

Weitere Streiks fanden seit Montag bei den Minsker Verkehrsbetrieben, in Auto- und Traktorenwerken sowie Krankenhäusern statt. Daneben werden Forderungen nach einem landesweiten Generalstreik laut. Die Arbeiter halten öffentliche Streikversammlungen an ihren Arbeitsstätten ab, u.a. bei Belaruskali und dem Traktorenwerk MSKT in Minsk.

Eine Kundgebung vor dem Regierungsgebäude auf dem Unabhängigkeitsplatz in Minsk am Dienstag, 18. August (AP Photo/Dmitri Lovetsky)

Gewerkschaftsbürokraten in Belarus warnen, der Staat könnte die Kontrolle über die Bewegung verlieren, und fordern Lukaschenkos Rücktritt, um die Proteste zu stoppen. Juri Sacharow, Funktionär der Bergarbeitergewerkschaft, erklärte am Dienstag gegenüber AP: „Die Regierung sollte verstehen, dass sie die Kontrolle verliert. Nur Lukaschenkos Rücktritt und die Bestrafung der Verantwortlichen für den Wahlbetrug und die Misshandlung von Demonstranten kann uns beruhigen.“

Merkel und Macron riefen Putin an, um über die politische Lage in Belarus, Russlands Nachbarstaat mit weniger als zehn Millionen Einwohnern, zu diskutieren. Gegenüber den Medien äußerten sie nur kurz ihre Sorgen über die Lage in Belarus. Sie forderten, die von der Nato unterstützte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja an der Macht zu beteiligen oder die Macht an sie zu übergeben.

Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte: „Die Bundeskanzlerin unterstrich, dass die belarussische Regierung auf Gewalt gegen friedliche Demonstrierende verzichten, politische Gefangene unverzüglich freilassen und in einen nationalen Dialog mit Opposition und Gesellschaft eintreten müsse, um die Krise zu überwinden.“

Aus dem Élysée-Palast hieß es, Macron habe Putin bei der Lösung der Krise zu „Ruhe und Dialog“ geraten. Macron fügte hinzu, die Europäische Union wolle eine „konstruktive Rolle“ spielen, damit „die Gewalt gegen die Bevölkerung sofort aufhört und es schnell eine politische Lösung gibt, die die Forderungen respektiert, die in den letzten Tagen auf friedliche und starke Weise geäußert wurden“.

Der Kreml wiederum erklärte, das Telefonat mit Merkel sei „eine eingehende Aussprache über die Entwicklungen in Belarus“ gewesen. „Die russische Seite betonte, alle äußeren Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten des Landes, die zu einer weiteren Eskalation der Krise führen würden, seien inakzeptabel.“

Maria Kolesnikowa, die seit Tichanowskajas Flucht nach Litauen eine führende Rolle in der Opposition spielt, kündigte die Gründung eines „Koordinationsrats“ an, der die Machtübergabe von Lukaschenko aushandeln soll. Sie betonte außerdem das „Verlangen und die Bereitschaft der Opposition, für alle Seiten vorteilhafte Beziehungen mit all unseren Partnerstaaten aufzubauen, wozu natürlich auch Russland gehört“.

Die Londoner Financial Times schrieb, Berlin und Paris würden durch ihre Telefonate mit Moskau dessen „übergroßen Einfluss auf Lukaschenko und die belarussische Wirtschaft eingestehen“. Weiter hieß es, die EU-Mächte wollten, dass Putin einen Deal mit Lukaschenkos und Tichanowskajas Anhängern aushandelt und damit die Bewegung beendet: „Die europäischen Hauptstädte hoffen darauf, dass Putin diesen Einfluss benutzen wird, um eine friedliche Lösung der Krise herbeizuführen.“

Nachdem die New York Times und die Washington Post letzte Woche in Leitartikeln Lukaschenkos Absetzung gefordert hatten, warnte die FT vor offenen Versuchen, einen Regimewechsel durchzusetzen. Sie zitierte Eugene Rumer von der Denkfabrik Carnegie Endowment: „Jeder künftige Regierungschef von Belarus wird gute Beziehungen mit dem Kreml aufrechterhalten und gleichzeitig seine Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten respektieren müssen. Ein anderer Kurs wäre unrealistisch, gefährlich und würde der Meinung der belarussischen Öffentlichkeit widersprechen. Freunde von Belarus müssen das anerkennen.“

Die Behauptungen, man würde Russland respektieren und Polizeigewalt gegen Demonstranten verabscheuen, triefen nur so vor imperialistischer Heuchelei. Merkels Regierung hat 2014 zusammen mit Washington die führende Rolle bei der Organisation eines faschistischen Putsches gegen die pro-russische Regierung in der Ukraine gespielt, der das Land in einen Bürgerkrieg stürzte. Macron hingegen ist berüchtigt für die brutale Polizeiunterdrückung von Protesten im eigenen Land. Allerdings reagieren Merkel und Macron offenbar auf etwas, das sie als neue und gefährliche politische Entwicklung betrachten.

Le Monde warnte: „Die belarussische Bewegung ist anders als die Farbrevolutionen, die den postsowjetischen Raum erschüttert haben. Sie vertritt kein westliches Modell und ist auch nicht gegen Russland gerichtet.“ Die Zeitung fügte hinzu: „Niemand kann vorhersehen, was die kommenden Tage bringen werden. Eine Wahrheit ist jedoch offensichtlich: Dieses kleine Land... macht einen sich beschleunigenden Wandel durch, wie er seit dem Untergang der UdSSR 1991 beispiellos ist. Wir – die Experten, Diplomaten und Journalisten – haben das nicht kommen sehen.“

Die EU-Mächte, überrascht von der Streikbewegung, gehen etwas vorsichtiger vor, weil sie wollen, dass die Opposition und das Putin-Regime die Proteste gemeinsam abwürgen. Zumindest momentan schlagen sie vor, erst die Gefahr von unten zu beseitigen und danach die aggressive Aufrüstung in ganz Osteuropa gegen Russland fortzusetzen, die mit dem Putsch in Kiew begann.

Die Arbeiter in Belarus müssen einen politisch unabhängigen Kampf gegen Lukaschenko und die Opposition um Tichanowskaja organisieren. Lukaschenko, der Belarus seit 1994 regiert, ist ein reaktionärer Machthaber und Anführer der kapitalistischen Kleptokratie, die aus der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion 1991 und der Plünderung des Staatseigentums hervorgegangen ist. Doch die Opposition repräsentiert nur eine andere Fraktion der gleichen Kleptokratie, die zwischen den imperialistischen Nato-Mächten und dem Putin-Regime hin und her manövriert.

Oppositionsführer wie der ehemalige Banker Wiktar Babaryka von der Belgazprombank, die zum staatlichen russischen Gaskonzern Gazprom gehört, oder der Geschäftsmann Waleryi Zepkala, der bis zu seiner Flucht nach Russland im April eng mit Lukaschenko zusammenarbeitete, haben keine grundlegenden Differenzen mit dem Regime. Die EU ist bereit, sie als Machthaber einzusetzen, weil sie den Austeritätskurs und Lukaschenkos mörderische Corona-Politik der „Herdenimmunität“ fortsetzen werden, die die EU-Staaten auch in ihren Ländern umsetzen.

Nils Schmid von der SPD erklärte gegenüber dem Deutschlandfunk, er ziehe einen Regimewechsel in Belarus nach dem Vorbild der Wiedereinführung des Kapitalismus und der Auflösung der Sowjetunion einem Putsch wie in Kiew 2014 vor.

Er erklärte: „Der Unterschied ist, dass die breite Volksbewegung in Belarus uns eher an die Wendezeit 1989/90 in Osteuropa erinnert. Deshalb glaube ich auch, dass das Modell, um einen politischen Übergang zu organisieren, eher in einem Runden Tisch zu liegen hat als in einer Bewegung, wo mit einem Schlag quasi von der Straße heraus die Führung gestürzt wird. Die Machtressourcen von Lukaschenko sind immer noch groß, die Absplitterung von Offiziellen – seien es Bürgermeister, seien es Sicherheitskräfte – ist bisher sehr gering.“

Im Kampf gegen Covid-19, Armutslöhne und Polizeigewalt sind die wichtigsten Verbündeten der Arbeiter in Belarus die Arbeiter im Rest Europas, in Russland und weltweit. Während die EU über Rettungsaktionen für Banken und Konzerne Billionen Euro an die Superreichen umverteilt, ist offenkundig, dass die herrschende Klasse weder die Mittel zur Bekämpfung der Pandemie bereitstellen noch die Verschärfung der Militär- und Polizeigewalt in ganz Europa beenden wird. Die Arbeiter müssen die Kontrolle über die dringend benötigten Ressourcen übernehmen, die sie durch ihre eigene Arbeit erwirtschaften, und einen internationalen Kampf um die Macht und für den Sozialismus führen.

In Belarus und Russland müssen Arbeiter den bankrotten politischen Regimen entgegentreten, die aus der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion hervorgegangen sind, mit den Parteien und Gewerkschaften brechen, die dem Regime oder der von den imperialistischen Mächten unterstützten Opposition nahestehen, und sich dem Kampf der trotzkistischen Bewegung zuwenden, die den marxistischen Internationalismus gegen die nationalistische und konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus in der Sowjetunion verteidigt hat.

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