Perspektive

150 Jahre Rosa Luxemburg

Vor 150 Jahren, am 5. März 1871, wurde in der polnischen Kleinstadt Zamość Rosa Luxemburg geboren. Sie zählt, trotz ihres frühen, gewaltsamen Todes im Alter von 48 Jahren, neben Lenin und Trotzki zu den bedeutenden revolutionären Marxisten des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Werk und Arbeit heute, in der tiefsten internationalen Krise des Kapitalismus, wieder brennende Aktualität hat.

Rosa Luxemburg

Luxemburg verband persönlichen Mut, unzerbrechlichen Kampfgeist und Prinzipienfestigkeit mit einem herausragenden Intellekt und außergewöhnlichen theoretischen und rhetorischen Fähigkeiten. Sie war hochgebildet, sprach fließend polnisch, deutsch, russisch und französisch und beherrschte weitere Sprachen. Sie war großer Leidenschaft fähig und besaß eine außerordentlich faszinierende Persönlichkeit, die Arbeiter und Gebildete gleichermaßen in ihren Bann zog.

Sie liebte und kannte die Literatur. Bereits im Alter von sechs Jahren hatte sie für eine Kinderzeitung geschrieben, wenig später russische Gedichte ins Polnische übersetzt und selbst Gedichte geschrieben. Den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz konnte sie seitenweise auswendig zitieren, aber auch deutsche Dichter wie Goethe und Mörike. Aus ihren Briefen spricht immer wieder die Liebe zur Natur. Ursprünglich hatte sie Biologie studiert, dann aber zu Jura und Ökonomie gewechselt. Den Doktortitel erwarb sie mit 26 Jahren mit „summa cum laude“.

Wie alle großen, fortschrittlichen Gestalten der Weltgeschichte wurde Luxemburg von ihren Gegnern entweder verfolgt und verleumdet oder umarmt und verfälscht. Man hat versucht, sie für den Feminismus zu vereinnahmen, als Befürworterin eines nicht-revolutionären Wegs zum Sozialismus darzustellen und als Kronzeugin gegen den Bolschewismus zu missbrauchen. Die deutsche Linkspartei, die in jedem Aspekt ihrer Praxis und jeder Zeile ihres Programms das Gegenteil von Luxemburg verkörpert, hat sogar ihre Parteistiftung nach der großen Revolutionärin benannt.

All diese Bemühungen erweisen sich als Schwindel, sobald man Luxemburgs Biografie studiert und ihre Schriften liest. Sie bekannte sich bedingungslos zur sozialistischen Revolution und verteidigte kompromisslos den Internationalismus. Ihr Kampf gegen den Revisionismus Bernsteins und den Konservativismus der Gewerkschaften, ihre unnachgiebige Opposition gegen den Ersten Weltkrieg und ihre führende Rolle bei der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands sichern ihr einen Platz in der ersten Reihe des revolutionären Marxismus.

Luxemburg war fest davon überzeugt, dass nur der Sturz des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse die großen Probleme der Menschheit lösen kann – Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg –, und dass dies einen Kampf für sozialistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse erfordere. Die herablassende Anbiederung, um die sich linke Intellektuelle manchmal gegenüber Arbeitern bemühen, war ihr vollkommen fremd. Sie betrachtete es als ihre Aufgabe, das Bewusstsein der Arbeiter zu heben, ihren Durst nach Wissen und Erkenntnis zu stillen und ihnen die sozialen und politischen Zusammenhänge sowie die politischen Aufgaben, die sich daraus ergaben, zu erklären. Das machte sie unter Arbeitern ungeheuer populär. Sprach sie auf Wahlkundgebungen der SPD, waren die Säle stets voll.

Clara Zetkin und Rosa Luxemburg auf dem SPD-Kongress in Magdeburg 1910

Den bürgerlichen Feminismus lehnte Luxemburg ab. Für sie war die Emanzipation der Frau untrennbar mit der Befreiung der Arbeiterklasse von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung verbunden. Sie kämpfte nicht, wie die heutigen Feministen und Identitätspolitiker, für die Teilhabe einiger Frauen an bürgerlichen Privilegien, sondern für die Abschaffung aller Privilegien. Als sie 1912 auf dem zweiten internationalen Frauentag für das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für Frauen plädierte, begründete sie dies damit, dass es „den proletarischen Klassenkampf ungeheuer vorwärtstreiben und verschärfen“ würde. „Durch den Kampf um das Frauenwahlrecht,“ so Luxemburg, „wollen wir die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer stürzt.“ [1]

Luxemburg hatte Meinungsverschiedenheiten mit Lenin. Doch diese beruhten, ungeachtet ihrer zeitweiligen Schärfe, auf der „gemeinsamen Grundlage der revolutionären proletarischen Politik“, wie Trotzki bemerkte. [2] Im Kampf gegen die reformistischen Gegner des Marxismus waren sich Lenin und Luxemburg einig.

Luxemburgs Schrift „Sozialreform oder Revolution“, die 1899 ihren Ruf als führende Stimme des revolutionären Flügels der SPD begründete, zählt zu den glänzendsten Polemiken der marxistischen Literatur. Sie ist eine vernichtende Kritik des Revisionismus von Eduard Bernstein, der die materialistische Grundlage der marxistischen Theorie zurückwies, den Sozialismus von der proletarischen Revolution trennte und in einen ethisch motivierten Liberalismus verwandelte.

Auf Bernsteins berüchtigten Satz, „Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung alles“, erwidert Luxemburg, das sozialistische Endziel sei „das einzige entscheidende Moment“, das „die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung“ verwandle. Bei der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern handle es sich „nicht um diese oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung“. [3]

Bernstein sprach für eine Schicht von Parteifunktionären, Gewerkschaftsbürokraten und Kleinbürgern, die ihr eigenes Schicksal mit dem Erfolg des deutschen Imperialismus verknüpften. Der Wirtschaftsaufschwung der 1890er Jahre, die Verwandlung der SPD in eine legale Massenpartei und das Wachstum der Gewerkschaften hatte diese Schicht anschwellen lassen.

Die russische Revolution von 1905 verschärfte die Gegensätze in der SPD. Die Arbeiterklasse war die führende Kraft der Revolution und brachte zwei Neuerungen hervor: Den politischen Massenstreik und die Sowjets (Arbeiterräte). Luxemburg ging nach Warschau, das damals zum Herrschaftsbereich des Zaren gehörte, und beteiligte sich an der Revolution. Sie wurde schließlich verhaftet und entging nur dank dem intensiven Einsatz der SPD-Führung einer längeren Haftstrafe und dem möglichen Tod.

Als sie nach ihrer Rückkehr den politischen Massenstreik auch in Deutschland propagierte, reagierte die Gewerkschaftsführung mit Entsetzen. „Generalstreik ist Generalunsinn“, lautete ihre Antwort. Der Kölner Gewerkschaftskongress stand 1905 unter der Devise: „Die Gewerkschaften brauchen vor allem Ruhe.“ Luxemburg erhielt auf Gewerkschaftsversammlungen Redeverbot. Deutlicher hätten die Gewerkschaftsführer ihre Feindschaft gegen die sozialistische Revolution nicht zeigen können. Die Massenstreikdebatte stand nun im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen dem opportunistischen und dem revolutionären Flügel der SPD.

August Bebel um 1900

Mit dem Herannahen des Ersten Weltkriegs rückte auch die SPD-Führung um August Bebel (der 1913 starb) und Karl Kautsky zunehmend nach rechts. Als der Krieg begann, hatten die Opportunisten in der SPD die Oberhand gewonnen. Sie standen fest im Lager des deutschen Imperialismus. Am 4. August 1914 stimmte die Reichstagsfraktion der SPD für die Kriegskredite. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht führten die Minderheit, die sich dem chauvinistischen Taumel widersetzte.

Rosa Luxemburgs Kampf gegen den Krieg, den sie größtenteils hinter Kerkermauern verbrachte, zählt zu den heroischsten Perioden ihres Lebens. Sie wurde nicht müde, den Verrat der SPD zu geißeln, die imperialistischen Kriegsverbrechen anzuprangern und die Massen wachzurütteln. Noch am Abend des 4. August 1914 gründete sie die Gruppe Internationale, die Die Internationale herausgab und illegal die Spartakusbriefe verbreitete, weshalb sie auch als Spartakusbund bezeichnet wurde.

Luxemburgs erster Leitartikel in Die Internationale begann mit den Worten: „Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen. Alle Versuche, diese Tatsache zu leugnen, zu verschleiern oder zu beschönigen, haben, gleichviel aus welchen Motiven sie hervorgehen mögen, objektiv nur die Tendenz, jene fatalen Selbsttäuschungen der sozialistischen Parteien, jene inneren Gebrechen der Bewegung, die zum Zusammenbruch geführt hatten, zu verewigen.“ [4]

Karl Liebknecht

Rosa Luxemburgs Kampf gegen den Krieg beruhte auf einem unverbrüchlichen Internationalismus, der ihr ganzes Lebenswerk durchzieht.

Bereits als 22-jährige Studentin hatte sie auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale in Zürich eingegriffen, um den „Sozialpatriotismus“ der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) anzugreifen. Die PPS trat für die Widerherstellung des Nationalstaats in Polen ein, das damals unter Russland, Deutschland und Österreich aufgeteilt war. Luxemburg lehnte diese Forderung ab und befürwortete stattdessen einen gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse in Russisch-Polen und Russland zur Niederwerfung des Zarismus. Sie warnte, das Eintreten für die Unabhängigkeit Polens würde nationalistische Tendenzen in der Zweiten Internationale fördern, analoge nationale Fragen in anderen Ländern aufrollen und „die Auflösung des geschlossenen Kampfes aller Proletarier in jedem Staate in eine Reihe fruchtloser nationaler Kämpfe“ sanktionieren. [5]

Ihre Weigerung, das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ ins Programm der russischen Sozialdemokratie aufzunehmen, brachte Luxemburg in Konflikt mit Lenin, der dieses Recht befürwortete. Doch auch hier war der Gegensatz weniger tief, als er später dargestellt wurde. Für Lenin stand der Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus im Vordergrund, für Luxemburg der Kampf gegen den polnischen Nationalismus. Auch für Lenin waren die nationalen Forderungen den Interessen des Klassenkampfs untergeordnet. Er trat nicht aktiv für den nationalen Separatismus ein, sondern beschränkte sich „auf die sozusagen negative Forderung der Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung“. [6]

Ungeachtet der Differenzen mit Lenin erwies sich Luxemburgs Feindschaft gegen den Nationalismus als äußerst weitsichtig. Was Polen betrifft, so befehligte der Führer der PPS, Józef Piłsudski, nach der Oktoberrevolution die Truppen des wiederhergestellten Polen gegen die Rote Armee. Zwischen 1926 und 1935 errichtete er eine autoritäre Diktatur. Heute feiert ihn die nationalistische Rechte Polens als ihren Helden.

Die Kapitulation vor dem Nationalismus war auch der Grund für den Niedergang der Zweiten und der Dritten Internationale, der verheerende Niederlagen der Arbeiterklasse zur Folge hatte. Die Zweite Internationale unterstützte den Ersten Weltkrieg im Namen der „Vaterlandsverteidigung“, die Dritte degenerierte unter der stalinistischen Perspektive vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“.

Die Stalinisten, die Lenins Nationalitätenpolitik mit Füßen traten und zu den schlimmsten Praktiken des großrussischen Chauvinismus zurückkehrten, haben Luxemburg ihren Internationalismus nie verziehen. Unter Stalins Herrschaft hatte der Vorwurf des „Luxemburgismus“ zeitweise ebenso tödliche Folgen wie der des „Trotzkismus“. Und auch nach Stalins Tod warf selbst Georg Lukács der großen Revolutionärin noch vor, sie habe einen „nationalen Nihilismus“ vertreten. [7]

Spätestens in den 1990er Jahren verlor die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen jede fortschrittliche und demokratische Bedeutung. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Herausbildung einer Arbeiterklasse in den entlegensten Teilen der Welt ließen keinen Raum mehr für halbwegs demokratische Nationalstaaten. Der Imperialismus nutzte die Parole der Selbstbestimmung, um bestehende Staaten zu zerschlagen und zu unterwerfen. In diesen Staaten diente sie rivalisierenden bürgerlichen Cliquen dazu, die Arbeiterklasse zu spalten und sich dem Imperialismus anzudienen. Das zeigte die Tragödie Jugoslawiens. Das Land wurde im Namen der nationalen Selbstbestimmung seiner einzelnen Bestandteile in einen mörderischen Bruderkrieg getrieben und in sieben, ökonomisch nicht lebensfähige Staaten aufgeteilt, die von kriminellen bürgerlichen Cliquen regiert werden.

Luxemburg und der Spartakusbund kämpften nicht nur gegen die rechte Führung der SPD, sondern auch gegen das „marxistische Zentrum“ und dessen theoretischen Kopf Karl Kautsky, den Luxemburg als „Theoretiker des Sumpfes“ bezeichnete. Das Zentrum passte sich in Worten der radikalen Stimmung der Arbeiter an, während es in der Praxis jede revolutionäre Konsequenz ablehnte und den Kriegskurs der SPD-Führung unterstützte. Als es 1917 aus der SPD geworfen wurde und notgedrungen eine Unabhängige SPD gründete, verschärfte Luxemburg ihre Kritik.

„Sie trottete stets im Hintertreffen der Ereignisse und der Entwicklung, nie schritt sie an ihrer Spitze,“ schrieb sie über die USPD. „Jede schillernde Zweideutigkeit, die zur Verwirrung der Massen führte: Verständigungsfrieden, Völkerbund, Abrüstung, Wilson-Kultus, alle die Phrasen der bürgerlichen Demagogie, die über die nackten, schroffen Tatsachen der revolutionären Alternative während des Krieges verdunkelnde Schleier breiteten, fanden ihre eifrige Unterstützung. Die ganze Haltung der Partei pendelte hilflos um den Kardinalwiderspruch, dass sie einerseits die bürgerlichen Regierungen als die berufenen Mächte fortgesetzt zum Friedensschluss geneigt zu machen suchte, andererseits der Massenaktion des Proletariats das Wort redete. Ein getreuer Spiegel der widerspruchsvollen Praxis ist die eklektische Theorie: ein Sammelsurium radikaler Formeln mit rettungsloser Preisgabe des sozialistischen Geistes.“ [8]

Luxemburg wurde oft ihre „Spontaneitätstheorie“ zum Vorwurf gemacht: Ihr Vertrauen auf das selbständige Auftreten der Massen gegen die verknöcherten Apparate, ihre Kritik an Lenins Parteikonzept und ihr Zögern, mit der SPD und der USPD auch organisatorisch zu brechen. Leo Trotzki, der vor der Gründung der Vierten Internationale selbst gegen zentristische Strömungen zu kämpfen hatte, die sich fälschlicherweise auf Rosa Luxemburg beriefen, hat dazu bereits 1935 das Wesentliche geschrieben.

Die „schwachen Seiten und Unzulänglichkeiten“ waren „bei Rosa keinesfalls ausschlaggebend“, schrieb er. Dass sie „die Spontaneität der Massenaktionen der ‚siegesgekrönten‘ konservativen Politik der deutschen Sozialdemokratie leidenschaftlich gegenübergestellt hat“, habe „einen durch und durch revolutionären und fortschrittlichen Charakter“. Sie habe „viel früher als Lenin den bremsenden Charakter des verknöcherten Partei- und Gewerkschaftsapparats verstanden und zu bekämpfen begonnen“.

Rosa sei „nie bei der reinen Spontaneitätstheorie stehen“ geblieben, sondern sei bestrebt gewesen, „den revolutionären Flügel des Proletariats im voraus zu erziehen und – soweit möglich – organisatorisch zu erfassen“. In Polen habe sie „eine sehr straffe selbständige Organisation aufgebaut“. „Man könnte höchstens sagen,“ so Trotzki, „dass bei Rosa in ihrer geschichtsphilosophischen Einschätzung der Arbeiterbewegung die vorbereitende Auslese der Avantgarde im Vergleich zu den zu erwartenden Massenaktionen zu kurz gekommen ist, während Lenin – ohne sich mit den künftigen Aktionswundern zu trösten – stets und unermüdlich die fortgeschrittenen Arbeiter … vermittels eines scharf umrissenen Programms zu festen Zellen zusammenschweißte.“ [9]

Als die Bolschewiki im Oktober 1917 in Russland die Macht eroberten, fanden sie Luxemburgs begeisterte Unterstützung. Ihr Text „Zur russischen Revolution“, den sie isoliert im Gefängnis schrieb und der erst drei Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht wurde, wurde oft als grundlegende Kritik an den Bolschewiki interpretiert. Doch das ist falsch. Luxemburg verteidigte die Oktoberrevolution bedingungslos und betonte, dass sich die „Fehler“, die sie kritisierte, aus den unmöglichen Bedingungen ergaben, denen die Bolschewiki infolge des Verrats der Zweiten Internationale und der deutschen Sozialdemokratie gegenüberstanden.

„Die Bolschewiki,“ schrieb sie, „haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. … Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!

Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem ‚Bolschewismus’.“ [10]

Im November 1918 brach auch in Deutschland die Revolution aus. Ausgehend von einem Matrosenaufstand in Kiel breitete sie sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land aus. Der Kaiser dankte ab, und die herrschenden Eliten übertrugen die Regierung an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert, der ein Bündnis mit der Heeresleitung schmiedete, um die revolutionären Arbeiter blutig niederzuschlagen. Auch die USPD beteiligte sich mit drei Ministern an der Regierung Ebert.

Mitten in den revolutionären Kämpfen in Berlin gründete der Spartakusbund zur Jahreswende 1918/19 die Kommunistische Partei Deutschlands. Rosa Luxemburg schrieb das Parteiprogramm und stellte es den Delegierten vor. Es formulierte unmissverständlich das Ziel, die bürgerliche Klassenherrschaft zu stürzen. Die Alternative laute nicht Reform oder Revolution, betonte das Programm: „Der Weltkrieg hat die Gesellschaft vor die Alternative gestellt: entweder Fortdauer des Kapitalismus, neue Kriege und baldigster Untergang im Chaos und in der Anarchie oder Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung. ... Über den zusammensinkenden Mauern der kapitalistischen Gesellschaft lodern wie ein feuriges Menetekel die Worte des Kommunistischen Manifests: Sozialismus oder Untergang in der Barbarei!“ [11]

Beisetzung von Rosa Luxemburg am 13. Juni 1919 (Bundesarchiv, Bild 146-1976-067-25A / CC-BY-SA 3.0)

Die Regierung Ebert war entschlossen, die sozialistische Revolution zu verhindern. Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit ausdrücklicher Billigung von Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) brutal ermordet. Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die Noske nach Berlin geholt hatte, um revolutionäre Arbeiter niederzuschießen, verschleppten die beiden in ihr Hauptquartier im Hotel Eden, wo sie verhört und misshandelt wurden. Luxemburg wurde anschließend im Treppenhaus mit Gewehrkolben niedergeschlagen, in ein Auto gebracht und dort erschossen. Ihre Leiche wurde in den Landwehrkanal geworfen, wo sie erst Wochen später gefunden wurde. Karl Liebknecht wurde im Tiergarten mit drei Schüssen aus nächster Nähe hingerichtet.

Die Morde hatten die volle Deckung des Staates. Ein Kriegsgericht sprach im Mai 1919 die unmittelbar daran beteiligten Offiziere frei. Waldemar Pabst, der als Chef der Division den Befehl zum Mord gegeben hatte, konnte seine Karriere unter dem Nazi-Regime und in der Bundesrepublik fortsetzen und starb 1970 als wohlhabender Waffenhändler. Bereits damals wurden die Weichen für den späteren Aufstieg der Nazis gestellt. Aus der Soldateska, die Noske mobilisierte und die Justiz schützte, sollten später Hitlers Sturmabteilungen (SA) hervorgehen.

Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts war ein schwerer Schlag für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung. Mit Rosa Luxemburg an der Spitze der KPD wäre vermutlich nicht nur die deutsche, sondern auch die Weltgeschichte anders verlaufen. Vieles spricht dafür, dass die KPD im Oktober 1923 mit einer erfahrenen Führung die Macht erobert hätte. Adolf Hitler, der seinen Aufstieg auch der Lähmung der Arbeiterklasse durch die verheerende „Sozialfaschismus“-Politik der stalinisierten KPD verdankte, wäre der Menschheit möglicherweise erspart geblieben. Stalins Aufstieg selbst wäre in der Kommunistischen Internationale auf heftigen Widerstand gestoßen.

Rosa Luxemburgs Erbe – ihr Internationalismus, ihre Orientierung auf die Arbeiterklasse, ihr revolutionärer Sozialismus – ist von der trotzkistischen Weltbewegung, die heute durch das Internationale Komitee der Vierten Internationale verkörpert wird, verteidigt und entwickelt worden. Es ist eine wichtige Waffe im Kampf für die sozialistische Revolution.

Anmerkungen

1) Rosa Luxemburg, „Frauenwahlrecht und Klassenkampf“, Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1990, S. 165

2) Leo Trotzki, „Hände weg von Rosa Luxemburg“, in: Schriften über Deutschland, Frankfurt am Main 1971, S. 329

3) Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution?“, in: Gesammelte Werke 1.1, Berlin 1990, S. 370

4) Rosa Luxemburg, „Der Wiederaufbau der Internationale“, in: Gesammelte Werke 4, Berlin 1987, S. 20

5) Rosa Luxemburg, „Der Sozialpatriotismus in Polen“, in: Gesammelte Werke 1.1, Berlin 1970, S. 41

6) Wladimir I. Lenin, „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, Werke Band 20, S. 413

7) Georg Lukács, „Die Zerstörung der Vernunft“, Darmstadt und Neuwied 1973, S. 70

8) Rosa Luxemburg, „Parteitag der Unabhängigen SP“, in: Gesammelte Werke 4, Berlin 1987, S. 423-424

9) Leo Trotzki, „Rosa Luxemburg und die IV. Internationale“, in: Schriften über Deutschland, Frankfurt am Main 1971, S. 686-687

10) Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“, Gesammelte Werke 4, S. 365

11) Rosa Luxemburg, „Was will der Spartakusbund“, Gesammelte Werke 4, S. 440-441

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