Bundeskanzlerin Angela Merkel traf am Donnerstag in Washington zu Gesprächen mit US-Präsident Joe Biden ein. Im Hintergrund mehren sich die Anzeichen für Spaltungen zwischen den imperialistischen Großmächten. Vor allem die Spannungen zwischen Berlin und Paris, den beiden wichtigsten Mächten der Europäischen Union (EU), verschärfen sich rapide. Deutschland und Frankreich haben in den letzten 150 Jahren drei blutige Kriege gegeneinander geführt.
Die rechte französische Tageszeitung Le Figaro veröffentlichte am Donnerstag einen Artikel mit dem Titel „Unter den europäischen Staaten gibt Washington Berlin den Vorzug vor Paris“. Darin hieß es: „In diplomatischen Kreisen herrschte mehrere Monate lang ein heimliches Kräftemessen zwischen Paris und Berlin um den ersten Platz. Frankreich wusste, dass es unterlegen ist, hoffte aber eine Zeit lang, dass Joe Biden sein erstes bilaterales Treffen mit dem französisch-deutschen Tandem abhalten würde.“
Die Zeitung klagte: „Deutschland gilt als bester Verbündeter der Amerikaner in Europa.“ Über Merkels angekündigten Rückzug nach der Bundestagswahl im September fügte sie hinzu: „Und wenn Joe Biden die Europäer gegen China mobilisieren will, wie er es gesagt hat, ist es unvermeidlich, dass er sich vor allem auf Deutschland stützt, dessen wirtschaftliches Gewicht in der Beziehung zwischen der EU und Beijing viel größer ist. Auch wenn ihr Rücktritt bevorsteht, bleibt die deutsche Bundeskanzlerin wirtschaftlich die Chefin in Europa.“
Die eskalierende internationale Krise, die von der Corona-Pandemie und den militärischen Drohungen der USA gegen China angetrieben wird, verschärft die historisch verwurzelten Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten Europas.
Am deutlichsten wurde diese Tatsache durch die Ausfälle der neofaschistischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen gegenüber Deutschland im Magazin L'Opinion. Sie attackierte die Beziehung zwischen Präsident Emmanuel Macron und Merkel und beschimpfte Deutschland als Nation mit einer Identität, die eine Kooperation mit Frankreich unmöglich mache. Stattdessen, betonte Le Pen, solle Paris ein Militärbündnis mit London schmieden und mit Washington in der Indopazifik-Region gegen China zusammenarbeiten.
Sie fügte hinzu: „Berlin ist nicht der richtige Partner für Paris, wenn es um Fragen der Souveränität geht... Frankreich muss sich ab 2022 anderen Horizonten zuwenden – zuerst Großbritannien, das einen ähnlichen diplomatischen und atomaren Status hat, dann mit den USA, um einen Vertrag über die Herausforderungen im Indopazifik und im Weltraum auszuhandeln, und dann mit seinen vielen Verbündeten im Rest der Welt, um gemeinsame Ideale im Kampf gegen islamistischen Terrorismus zu verteidigen. Und es muss sich seiner eigenen Geschichte und nationalen Identität zuwenden, um endlich die notwendige Energie zu finden, seine Stärke zurückzugewinnen.“
Le Pens knüpfte an die Themen ihrer Präsidentschaftskandidatur von 2017 an – Unterstützung für den Brexit, Ablehnung gegenüber der EU und Forderung nach einem Austritt aus dem Euro –, die sie jedoch zum Ende des Wahlkampfs fallenließ. Allerdings war ihr Tonfall diesmal deutlich aggressiver und militaristischer.
Im Frühjahr hatte Le Pen die Veröffentlichung von Putschdrohungen Tausender Offiziere des aktiven Militärs und der Reserve im neofaschistischen Magazin Valeurs Actuelles begrüßt. Die erste dieser Drohungen wurde am Jahrestag des rechtsextremen Putsches in Algier 1961 veröffentlicht, mit dem die französische Kolonialherrschaft über Algerien erhalten werden sollte (und der scheiterte). Die jüngsten Putschdrohungen genießen die stillschweigende Unterstützung von hohen Offizieren wie dem ehemaligen Generalstabschef Pierre de Villiers, der mittlerweile bei der Boston Consulting Group angestellt ist, wo seine Kampagnen von französischen Konzernen mit Hunderttausenden Euro gesponsert werden.
Und offenbar sprach Le Pen mit ihren Drohungen, ab 2022 einen deutlichen Kurswechsel in der Politik gegenüber Deutschland einzuleiten, für wichtige Teile des französischen Offizierskorps.
Le Pen erklärte, Macrons Versuch, ein enges Bündnis mit Deutschland zu schmieden, basiere ausschließlich auf Illusionen: „Die erste war die Annahme, Deutschland könne sich von den USA abkoppeln und Europa als militärische Einheit aufbauen.“ Die zweite war die Annahme, bei der Aufrüstung sei eine französisch-deutsche Zusammenarbeit möglich, was laut Le Pen von Berlin „verraten“ wurde: „Paris und Berlin stehen bei keinem der wichtigsten Waffensysteme (Kampfflugzeuge, Kampfpanzer, Seeaufklärer) auf einer Stufe.“
Die dritte Illusion ist laut Le Pen „die Hoffnung, dass sich Deutschland jemals ändern kann. Politisch ist die schon Identität Deutschlands an sich ein Hindernis für jede Form von Zusammenarbeit.“
Solche haarsträubenden Äußerungen sind eine Warnung für die europäische und internationale Arbeiterklasse. Falls Le Pen es nächstes Jahr in die Stichwahl gegen den verhassten Macron schafft, stehen ihre Chancen recht gut. Unabhängig davon spiegeln ihre Aussagen die Überzeugung breiter Teile der herrschenden Elite Europas wider, dass sich die EU nicht mehr zusammenhalten lässt. Fünf Jahre nachdem Großbritannien für den Brexit gestimmt hat, beschleunigt sich der Zerfall des kapitalistischen Europas.
Zur Begründung, weshalb Frankreich nicht mit Deutschland zusammenarbeiten könne, führte Le Pen zwei Argumente an. Das erste war eine knappe Zusammenfassung der unlösbaren historisch verwurzelten Konflikte zwischen den europäischen kapitalistischen Mächten. Dazu zählte sie Berlins Angst vor einem feindlichen Bündnis zwischen Paris und Moskau, wie es vor dem Ausbruch beider Weltkriege bestand, und die Rivalität um Frankreichs großes ehemaliges Kolonialreich in Afrika. Le Pen wies darauf hin, dass Berlin sich deshalb auf den Aufbau schwerer Panzertruppen, Frankreich hingegen mehr auf die Ausbildung von Spezialkräften für seine Kriege in Afrika konzentriere.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Sie schrieb: „Berlin wird immer die Politik seiner Geografie übernehmen: das Zentrum Europas gegen Russland zu vereinen, das als Verbündeter oder Gegner immer in seinen Berechnungen auftaucht... Militärisch bringen seine atlantischen Vorstellungen es dazu, sich zu veralteten Konzeptionen zu bekennen: nach Osten ausgerichtet, mit schweren Panzertruppen, mit begrenzter Anpassungsfähigkeit. Doch das französische Militär ist aggressiver, reaktiver und einfallsreicher und basiert auf Autonomie und damit dem Einsatz vielseitiger Waffensysteme.“
Das zweite Argument formulierte sie als Beschwerde gegen Berlins Vorbehalte in Bezug auf das Atomarsenal des französischen Imperialismus und seine neokolonialen Kriege in Afrika. In Wirklichkeit war es jedoch gegen die deutsche Arbeiterklasse gerichtet. Le Pen erklärte, im Gegensatz zur herrschenden Elite Deutschlands gebe es in der deutschen Bevölkerung starken Widerstand gegen die Entwicklung von Atomwaffen, die Nato und Krieg. Die Wurzeln dieses Widerstands liegen in den schrecklichen Erfahrungen der Nazi-Herrschaft.
Sie schrieb: „Berlin bleibt grundlegend anti-nuklear (außer seinen Eliten, wenn die Atomwaffen unter der Kontrolle der USA stehen), neutralistisch (akzeptiert aber paradoxerweise das Diktat der Nato) und pazifistisch (bei Militäreinsätzen und Waffenexporten).“
Le Pen forderte zwar ein Bündnis mit Großbritannien und die Zusammenarbeit mit den USA gegen China, ging aber nicht auf die Implikationen ihrer Argumente ein. Doch wenn sie und ihre Anhänger „jede Form der Zusammenarbeit“ zwischen Frankreich und Deutschland für unmöglich halten, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass sich Frankreich auf Krieg vorbereiten muss.
Die eskalierende wirtschaftliche, soziale und politische Krise, die die Corona-Pandemie und der Kriegskurs der USA gegen China ausgelöst haben, lassen alle ungelösten Probleme des europäischen Kapitalismus im 20. Jahrhundert wieder aufleben und bergen die Gefahr einer Katastrophe.
Le Pen spricht mit ihren antideutschen Ausbrüchen genauso wenig für die französischen Arbeiter wie Macron mit seiner Forderung nach dem Aufbau einer EU-Armee, die gegen China, Russland oder Amerika kämpfen kann. Allerdings unterstreichen ihre Tiraden, wie dringend notwendig es ist, eine internationale sozialistische Antikriegsbewegung in der Arbeiterklasse aufzubauen. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass die spontane Solidarität der europäischen Arbeiter nicht ausreicht, um den kapitalistischen Kriegskurs aufzuhalten.
Die europäische Arbeiterklasse kann nur durch einen bewussten revolutionären Kampf vereint werden, um die Europäische Union zu stürzen und an ihrer Stelle die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa aufzubauen.