Steinmeiers Kriegsrede

Das Wort „Demokratie“ kam in der 22-minütigen Rede, mit der sich Frank-Walter Steinmeier am Sonntag für seine Wiederwahl zum Bundespräsidenten bedankte, insgesamt 23 Mal vor. Steinmeier ritt auf dem Begriff „Demokratie“ herum, weil die Wirklichkeit offensichtlich eine andere ist. Die Präsidentenwahl zeigte eine herrschende Klasse, die angesichts wachsender sozialer und politischer Opposition die Reihen schließt und gegen die Mehrheit der Bevölkerung zusammenrückt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Bild: www.president.gov.ua/CC BY-SA 4.0)

Steinmeiers Wahl durch die Bundesversammlung, die zur Hälfte aus Bundestagsabgeordneten und zur Hälfte aus Ländervertretern besteht, stand von vornherein fest. Sie war vorher von den etablierten Parteien abgekartet worden. Der Sozialdemokrat wurde nicht nur von den Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP, sondern auch von den Oppositionsparteien CDU und CSU unterstützt. Lediglich die AfD, Die Linke und die Freien Wähler hatten eigene, symbolische Kandidaten aufgestellt, die aber nicht die geringste Chance auf Erfolg hatten.

Steinmeiers Rede machte deutlich, welch tiefe Kluft die offizielle Politik von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung trennt. Im Mittelpunkt standen heftige Kriegsdrohungen gegen Russland, für die es keine Unterstützung, geschweige denn einen demokratischen Konsens gibt. Niemand wurde gefragt oder konnte darüber abstimmen, ob er einen Krieg mitten in Europa riskieren will, der nur in einer Katastrophe enden kann.

Steinmeier griff Russland und Präsident Wladimir Putin in einer Schärfe an, die für einen zur Zurückhaltung verpflichteten höchsten Repräsentanten des Staates äußerst ungewöhnlich ist. „Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung!“, behauptete er. „Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen, das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein.“

„Die Menschen dort haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung, auf Selbstbestimmung und Souveränität,“ fuhr Steinmeier fort. „Kein Land der Welt hat das Recht, das zu zerstören – und wer es versucht, dem werden wir entschlossen antworten!“ Dann appellierte er an Präsident Putin persönlich: „Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!“

Auch den Esten, Letten, Litauern, Polen, Slowaken und Rumänen versicherte Steinmeier: „Sie können sich auf uns verlassen.“ Deutschland sei Teil der NATO und der Europäischen Union. „Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu den Verpflichtungen in diesem Bündnis.“

Steinmeier weiß besser als jeder andere deutsche Politiker, dass dies verlogene Kriegspropaganda ist. Als deutscher Außenminister war er im Februar 2014 persönlich in Kiew, als paramilitärische faschistische Milizen den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch verjagten, der sich geweigert hatte, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Und er hatte diesen rechten Putsch vorbereitet und ermöglicht.

Steinmeier arbeitete dabei eng mit zwei rechten nationalistischen Parteien, Vaterland von Julia Timoschenko und UDAR von Vitali Klitschko, sowie mit der faschistischen Swoboda von Oleh Tjahnybok zusammen. Letztere bedient sich neofaschistischer Symbole, hetzt gegen Ausländer, Juden, Ungarn und Polen und unterhält enge Beziehungen zu rechtsextremen Parteien in Europa.

Nachdem es den von den USA und Deutschland unterstützten Maidan-Demonstrationen nicht gelungen war, Janukowitsch zum Rücktritt zu zwingen, wurden paramilitärische faschistische Milizen mobilisiert, um den Konflikt zu verschärfen und das Land an den Rand des Bürgerkriegs zu treiben. Die führende Rolle spielte dabei der neofaschistische Rechte Sektor, dessen maskierte, mit Helmen, Schlagstöcken, Brandbomben und Schusswaffen ausgerüsteten Kämpfer bald das Zentrum von Kiew beherrschten und brutal gegen die Sicherheitskräfte vorgingen.

Unter diesen Umständen bewegte Steinmeier, sekundiert vom polnischen und französischen Außenminister, Janukowitsch zur Unterzeichnung einer Übergangsvereinbarung mit Timoschenko, Klitschko und Tjahnybok. Unmittelbar danach trieb der Rechte Sektor Janukowitsch in die Flucht. Das Ergebnis dieser angeblichen Revolution war keine blühende Demokratie, sondern ein autoritäres und korruptes Regime, das sich auf rivalisierende Oligarchencliquen stützt und faschistische Milizen, wie das Asow-Regiment, unterhält.

Mit dem Regimewechsel in Kiew setzte Steinmeier eine Großmachtpolitik in die Tat um, die er kurz vorher auf der Münchener Sicherheitskonferenz gemeinsam mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Bundespräsident Joachim Gauck vorgestellt hatte. Deutschland müsse „bereit sein, sich außen und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen,“ hatte er dort verkündet. „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“

Seither hat die Nato die Ukraine systematisch zu einem Bollwerk gegen Russland aufgerüstet. In einer aktuellen Studie der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), heißt es dazu: „Die ukrainischen Streitkräfte sind heute weitaus kampfbereiter als 2014.“

Damals hätten „nicht materielle Ausstattungslücken“ die Abwehrbereitschaft der nominell drittstärksten Armee Europas gehemmt, „sondern ihre mangelnde Kampfmoral“. Etwa zwei Drittel der ukrainischen Land- und Seestreitkräfte auf der Krim seien zur russischen Schwarzmeerflotte übergelaufen. Gegen die prorussischen Rebellen im Donbas habe die neue Kiewer Führung nur 6.000 Soldaten aufbieten können.

„Mittlerweile sind Kiews Streitkräfte auf gut 250.000 aktive Soldaten und über 900.000 Reservisten angewachsen,“ stellt die SWP fest. „Die Nato hilft, die Führungsfähigkeit zu verbessern; die USA stellten Aufklärungsergebnisse, Artillerieradargeräte und – wie auch Großbritannien – Panzerabwehrraketensysteme bereit. Von der Türkei erhielt Kiew Bayraktar-TB2-Kampfdrohnen. … Kanada, Großbritannien, Polen, Litauen und die USA haben 470 Ausbilder in der west-ukrainischen Region Lemberg stationiert.“

Unter diesen Voraussetzungen haben die USA und ihre NATO-Verbündeten begonnen, einen Krieg mit Russland anzuzetteln, wobei ihnen die Behauptung einer bevorstehenden Invasion in der Ukraine als Vorwand dient. Steinmeiers Rede dient dazu, Washington und der Nato die uneingeschränkte Unterstützung Deutschlands dabei zu versichern, an der immer wieder Zweifel geäußert worden waren.

Die parteiübergreifende Unterstützung, die Steinmeier genießt – auch die Linke, die AfD und die Freien Wähler haben ihm nach seiner Wahl herzlich gratuliert – kommt daher, dass er in den letzten 25 Jahren wie kaum ein anderer Politiker die internationalen Interessen des deutschen Imperialismus verteidigt und alle Angriffe auf soziale Errungenschaften unterstützt hat.

1975 im Alter von 19 Jahren der SPD beigetreten, leitete er ab 1993 das Büro des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Als Schröder zum Bundeskanzler gewählt wurde, zog Steinmeier mit ihm nach Berlin und leitete von 1999 bis 2005 das Kanzleramt.

In dieser Funktion war Steinmeier der eigentliche Architekt der Agenda 2010, der umfassendsten sozialen Konterrevolution seit Gründung der Bundesrepublik, die einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen hat. Auch die Reform des Renten- und Gesundheitssystems, die Altersbezüge und Gesundheitsversorgung dramatisch reduziert hat, fand unter seiner Federführung statt.

Als Kanzleramtschef war Steinmeier außerdem für die Geheimdienste verantwortlich. Unter seiner Verantwortung unterzeichnete der Bundesnachrichtendienst (BND) eine Vereinbarung über den intensiven Datenaustausch mit dem US-Geheimdienst NSA, der 2013 vom Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt wurde. Steinmeier war auch dafür verantwortlich, dass der BND den USA wichtige Informationen für den Irakkrieg lieferte, obwohl Deutschland den Krieg offiziell ablehnte.

Es war auch Steinmeier, der in Zusammenarbeit mit Hans-Georg Maaßen, damals Referatsleiter im Innenministerium und später Präsident des Verfassungsschutzes, dafür sorgte, dass der in Bremen aufgewachsene Murat Kurnaz nicht nach Deutschland zurückkehren durfte und fünf Jahre lang unschuldig im Gefangenenlager Guantánamo saß.

Nach dem vorzeitigen Ende der Regierung Schröder wurde Steinmeier Außenminister in der ersten Regierung Angela Merkels. 2009 trat er als Kanzlerkandidat der SPD zur Bundestagswahl an und musste nach der Niederlage für vier Jahre in die Opposition. 2013 bis 2017 war er erneut Außenminister unter Merkel.

2017 wurde Steinmeier als Nachfolger Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten gewählt. Schon damals unterstützten ihn neben den Regierungsparteien der Großen Koalition auch die FDP und die Grünen. Das Amt, das vorwiegend Repräsentationsaufgaben erfüllt, nahm angesichts des Niedergangs der politischen Parteien immer größere politische Bedeutung an.

2017 war es Steinmeier, der die SPD und die CDU/CSU dazu bewegte, nach einer Wahlniederlage und monatelangen ergebnislosen Verhandlungen die verhasste Große Koalition fortzuführen. Das Ergebnis war, dass die AfD als offizielle Oppositionsführerin eine enorme Medienpräsenz erhielt und systematisch gestärkt wurde.

In seiner Rede vom Sonntag gebärdete sich Steinmeier als präsidiale Figur, die über den Parteien steht und die Nation zusammenhält. „Das Amt des Bundespräsidenten ist ein überparteiliches, und ich verspreche Ihnen: So werde ich es weiterführen,“ erklärte er. Er sprach über die „tiefen Wunden“, die die Pandemie in der Gesellschaft geschlagen habe, und die es jetzt „zu heilen“ gelte, verlor aber kein Wort über die Corona-Politik der Regierung und ihre Opfer – die 120.000 Menschen, die bisher allein in Deutschland an Covid-19 gestorben sind, und deren Angehörigen.

Steinmeiers Rede erinnerte etwas an Kaiser Wilhelm, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche. Vier Jahre später wurde Deutschland von der Novemberrevolution, der größten Revolution ihrer Geschichte, erschüttert.