Rede zum 1. Mai 2022

Die Karte des Klassenkampfes vs. die Kriegskarte

Dies ist die Rede von Eric London zur Online-Maikundgebung, die am 1. Mai 2022 stattfand. London ist Autor für die WSWS und ein führendes Mitglied der Socialist Equality Party (US).

Eric London, führendes Mitglied der SEP (US)

Dies ist eine Karte des Krieges in der Ukraine. Die bestausgebildeten Generäle, außenpolitischen Experten und Geheimdienstanalysten der imperialistischen Mächte haben Jahre damit verbracht, sich über diese Karte zu beugen und Offensiven zu planen — Soldaten zu positionieren, die Reaktion des Feindes durchzuplanen und die öffentliche Meinung mit Lügen vorzubereiten, die die Welt auf den Kopf stellen.

Doch dies ist die Weltkarte des Klassenkampfes. Sie zeigt, dass sich überall auf der Welt eine Massenbewegung von historisch beispiellosem Ausmaß entwickelt. Und diese Bewegung, die auf dieser Karte dargestellt ist, zeigt, dass die Arbeiterklasse den Weltkrieg verhindern und die sozialistische Umgestaltung der Welt durchführen kann.

Jede Stecknadel auf dieser Karte steht für einen Streik, der in den neun Wochen seit Russlands Invasion in der Ukraine stattgefunden hat.

In hellblau sind die Streiks in den Häfen der Welt zu sehen, die jeweils einen kritischen Verkehrsknotenpunkt für den internationalen Seeverkehr darstellen. Violett markiert die Streiks von Eisenbahnarbeitern. Schwarz sind die Streiks auf vielen der verkehrsreichsten Flughäfen der Welt. Jede braune Stecknadel steht für einen Streik der Bus-, Lkw-, Müllabfuhr- oder Lieferfahrer.

Orange kennzeichnet einen Streik von Bekleidungsarbeitern. Dunkelgrüne Nadeln stehen für Streiks von Krankenpflegern. Hellgrün steht für Streiks von Öl- und Gasarbeitern, blau für Streiks von Lehrern und Universitätsangestellten und grau für Streiks von Arbeitern der Lebensmittelproduktion. Gelb schließlich markiert Orte, an denen nationale Streiks oder Massenproteste ausgebrochen sind. Sie entzündeten sich an den rapide steigenden Lebenshaltungskosten und wurden noch erheblich von den angeblich humanitären Sanktionen der USA und der Nato verschärft, die hunderte Millionen Menschen an den Rand des Hungertodes treiben.

Jede dieser Markierungen steht für den ungeheuren Kampfesmut und die Entschlossenheit der Arbeiterklasse.

Ein Beispiel: In der Stadt Nyala im sudanesischen Süd-Darfur verließen im März alle Lehrer die Schule, nachdem die Polizei in ein Klassenzimmer einzudringen versucht hatte, um Schüler zu verhaften, die an den landesweiten Lebensmittelprotesten teilgenommen hatten. Als Lehrer den Weg versperrten, um ihre Schüler zu schützen, wurden sie von der Polizei geschlagen und drei Lehrer öffentlich gedemütigt. Die darauf folgenden Demonstrationen der Arbeiterklasse waren „massiv und beispiellos“, wie das lokale Radio berichtete. Die Lehrer schlossen die Schulen und — da sie einmal dabei waren — auch alle Banken. Der Mut der Lehrer in Nyala löste landesweit eine neue Welle von Streiks und Massenprotesten gegen die Militärdiktatur und die unerträglichen Lebenshaltungskosten aus.

Arbeiter opfern ihr Leben und ihre Freiheiten im Kampf für eine bessere Welt, indem sie sich dem kapitalistischen Staat, seiner Polizei, seinem Militär und seinen Gerichten entgegenstellen. In Sri Lanka wurde Chaminda Lakshan, ein 40-jähriger Ehemann und Vater, bei einer Demonstration gegen den Anstieg der Kraftstoff- und Lebensmittelpreise von der Polizei erschossen. In Peru wurden sechs Arbeiter und Jugendliche bei Protesten getötet, im Sudan über 90.

Tausende streikende Arbeiter wurden in den letzten Wochen ohne jedes Verbrechen verhaftet. So sieht Gerechtigkeit aus der Sicht der kapitalistischen Gerichte aller Länder aus. Im indischen Bundesstaat Maharashtra werden 118 Busfahrer, die an einem Streik von 70.000 Arbeitern teilgenommen haben, wegen „Aufruhrs“ angeklagt, nur weil sie vor dem Haus eines Politikers protestiert haben, der für die Privatisierung von Buslinien verantwortlich ist.

Was sagt uns diese Karte über den Charakter dieser entstehenden Bewegung und die Strategie, die erforderlich ist, um die Forderungen der Arbeiter zu erfüllen?

Die Streiks und Massenproteste geben einen starken Eindruck vom Charakter der internationalen Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert und ihrem Streben nach Einheit. Diese wachsende Bewegung durchbricht alle künstlichen Barrieren entlang von Herkunft, Religion und ethnischer Zugehörigkeit, die von den herrschenden Klassen benutzt werden, um Arbeiter gegeneinander auszuspielen. In Vietnam forderten Elektronikarbeiter eine Prämie für den Tet-Feiertag, um die steigenden Lebensmittelpreise zu decken, während Textilarbeiter in Bangladesch für eine Prämie zum Ramadan streikten.

Ölarbeiter im Irak und im Iran führten zeitgleiche Streiks durch — getrennt durch einige Meilen Territorium, über das ihre Väter vor nur 35 Jahren von den Regierungen geschickt worden waren, um sich gegenseitig zu töten. Indische Lehrer im Punjab und pakistanische Lehrer im benachbarten Lahore erheben dieselben Streikforderungen, obwohl jede dieser Regierungen Atomraketen auf die Bevölkerungszentren des jeweils anderen Landes gerichtet hat. Singhalesische und tamilische Arbeiter demonstrieren Seite an Seite gegen die Rajapaksa-Regierung in Sri Lanka.

Am wichtigsten ist, dass Streiks in den Zentren des Weltimperialismus zunehmen, insbesondere in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wo die extreme Skrupellosigkeit der Regierungen im Krieg ein verzweifelter Versuch ist, den Klassenkampf auf einen äußeren Feind zu lenken.

Die Streikbewegung zeigt auch die immense Macht, die Arbeiter in den fragilen globalen Versorgungsketten haben.

Bei einem spontanen Streik am vergangenen Freitag in Amsterdam verlangsamten einige Dutzend Gepäckarbeiter auf dem Flughafen Schiphol den internationalen Flugverkehr, nachdem sie sich in der Kantine versammelt, über ihre Arbeitsbedingungen gesprochen und beschlossen hatten, kein Gepäck zu verladen. Innerhalb weniger Minuten nach Beginn dieses spontanen Streiks wurde der Flughafen geschlossen, und in ganz Europa wurden Flüge gestrichen. Die bürgerlichen Medien waren entsetzt. Die niederländischen Zeitungen zeigten sich empört, insbesondere über die Unannehmlichkeiten für Luxusurlauber. Eine melodramatische Schlagzeile lautete: „Opfer des Chaos in Schiphol“ und zitierte einen wohlhabenden Urlauber: „Wir hatten uns auf eine spanische Terrasse gefreut.“ Der Klassenkampf verlangt in der Tat große Opfer.

In vielen Ländern entwickeln sich Streiks und Proteste zu aufständischen Bewegungen. Massive soziale Ungleichheit, Rekordgewinne der Unternehmen, die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen einer Coronavirus-Pandemie, der unnötigerweise 20 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, haben am Pulverfass der globalen Klassenspannungen eine Lunte entzündet, die nicht gelöscht werden kann. In Peru, dem Land mit den meisten Covid-19-Toten pro Kopf, sowie in Sri Lanka und im Sudan sehen sich die Regierungen mit Protesten und Streikbewegungen konfrontiert, die sich zu revolutionären Erhebungen auszuweiten drohen. Im Iran und in Südafrika werden die Streikwellen von Tag zu Tag größer. In fast allen Ländern der Welt warnen Journalisten und NGO-Leiter nervös davor, dass ihr Land der nächste Dominostein sein könnte, der fällt. Angesichts der verheerenden Auswirkungen, die der Krieg im Laufe der Wochen auf die weltweite Versorgung mit Nahrungs- und Düngemitteln haben wird, werden sich ihre Prognosen als richtig erweisen.

Diese globale Bewegung entwickelt sich über die Köpfe der Gewerkschaften hinweg, deren Verankerung im Nationalstaatensystem sie zu einem Hindernis und nicht zu einem Vehikel für die Entfaltung der Kraft dieser internationalen Bewegung macht. In keinem einzigen Fall haben die Gewerkschaften die Arbeiter tatsächlich in den Kampf geführt, sie über Streiks ihrer internationalen Kollegen informiert oder sie in ihrem Streben nach Gleichheit unterstützt.

Die türkische Regierung berichtet, dass in den ersten beiden Monaten dieses Jahres 106 spontane Streiks stattgefunden haben, was mehr ist als die Gesamtzahl der spontanen Streiks in den letzten fünf Jahren. In Vietnam hat die Zahl der spontanen Streiks nach Angaben der Regierung in den ersten drei Monaten des Jahres um 40 Prozent zugenommen. Eine starke Streikbewegung entwickelt sich in Brasilien, wo die Gewerkschaften armselige kleine Flugblätter drucken, um Arbeitern zu erklären, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Streik sei. In den USA erklärte der Chef der Stahlarbeitergewerkschaft gegenüber der Biden-Regierung, sie würden dafür sorgen, dass die Löhne unter der Inflation bleiben, um die Kriegsanstrengungen der USA gegen Russland zu unterstützen.

Dies ist die entstehende Bewegung einer internationalen Arbeiterklasse, die im Kapitalismus noch nie eine so mächtige Position eingenommen hat.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Globalisierung der Weltwirtschaft eine Arbeiterklasse hervorgebracht, die aus Milliarden und Abermilliarden Menschen besteht, die durch den Produktions- und Arbeitsprozess miteinander verbunden sind und in riesigen Städten zusammenleben, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Im globalen Süden hat eine noch nie dagewesene Migration vom Land in die Städte stattgefunden, sowohl im Norden als auch im Süden.

Im Jahr 2008 lebte zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Mehrheit der Bevölkerung in städtischen Gebieten. Und ebenfalls zum ersten Mal können Arbeiter durch das Internet und die sozialen Medien mit einer buchstäblich unbegrenzten Anzahl von Arbeitskollegen kommunizieren, und zwar von ihrer Handfläche aus. Die globalisierte Weltwirtschaft ist mit einer sozialistischen Gesellschaft schwanger, die bereit ist, geboren zu werden, doch sie wird durch das Nationalstaatensystem und das Privateigentum an den Produktionsmitteln behindert und von den kapitalistischen Parteien und den nationalistischen Gewerkschaften zurückgehalten.

Der Arabische Frühling 2011 und die weltweiten Proteste der Jahre 2018 und 2019 zeigen, dass spontane Wut allein nicht in der Lage ist, die brennenden sozialen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen Arbeiter auf der ganzen Welt konfrontiert sind — ganz gleich, wie mutig sie sind und wie viel sie zu opfern bereit sind. Appelle an die herrschende Klasse, ihr Verhalten zu ändern, werden sie nicht dazu bringen, nach den Regeln zu spielen — im Gegenteil, solche Appelle verstärken nur den Selbsterhaltungstrieb der Bourgeoisie. Die Kapitalistenklasse verfügt über eine jahrhundertelange Erfahrung darin, die Arbeiterklasse zu beschwichtigen, zu bedrohen, zu spalten, zu täuschen, ihr Versprechungen zu machen und sie zu terrorisieren, um ihren Widerstand zu brechen.

Aktionskomitees sind die Organisationsform, die notwendig ist, um den Bedürfnissen dieser wachsenden Bewegung gerecht zu werden. Sie sind das historisch notwendige Organ des internationalen Kampfes der Arbeiterklasse für die Welt des 21. Jahrhunderts.

Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ist eine internationale Organisation der Arbeiterklasse, die vom Internationalen Komitee auf der Maikundgebung vor einem Jahr gegründet wurde, um die Entwicklung von Komitees der Arbeiter weltweit zu vereinigen und zu unterstützen und für sie eine Führung zu errichten. Das Ziel der IWA-RFC ist es, die verschiedenen Teile der Arbeiterklasse — all ihre heterogenen Schichten und Berufsfelder — zu einer vereinten Bewegung zu schmieden. Sie strebt danach, ihr zur Entfaltung ihrer enormen sozialen Kraft zu verhelfen, ihr organisches Streben nach Unabhängigkeit und Einheit zu fördern, Arbeiter mit den historischen Lehren des Klassenkampfes vertraut zu machen und sie von den Fesseln des nationalen Gewerkschaftertums zu befreien, damit sie ihre Hände über Branchen- und Landesgrenzen hinweg zu ihren Kolleginnen und Kollegen in einem globalen Kampf ausstrecken können, um der Finanzaristokratie und den imperialistischen Kriegstreibern die Macht zu entreißen.

Wir orientieren uns an dem Beispiel, das Lenin und Trotzki in der Russischen Revolution von 1917 gesetzt haben. Die Revolution beendete den Ersten Weltkrieg und markierte die erste Etappe im Kampf für die Revolution im Weltmaßstab. Wie die Bolschewiki im Jahr 1917 wissen wir, dass Arbeiter diese Kämpfe nicht als bewusste Sozialisten beginnen. Doch indem wir Seite an Seite mit ihnen kämpfen und uns als beste Kämpfer erweisen, wird sich das Internationale Komitee mit seinen Kadern auf der ganzen Welt vor der Arbeiterklasse als würdig erweisen, diese Führung zu stellen. Gemeinsam werden wir die Arbeiterklasse für den Sozialismus gewinnen und den Lauf der Geschichte verändern.

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