Perspektive

Der Urteilsentwurf des Obersten Gerichtshofs zur Abtreibung: Die Speerspitze eines massiven Angriffs auf demokratische Rechte

Der Urteilsentwurf des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Dobbs v. Jackson Women's Health Organization hebt nicht nur das Recht auf Abtreibung auf. Er stellt einen Versuch dar, den rechtlichen Überbau des Landes radikal zu verändern, indem er die Bevölkerung des demokratischen Schutzes beraubt, der im Zuge der Amerikanischen Revolution und des Bürgerkriegs errungen wurde.

Das Rechtsgutachten würde das Grundsatzurteil Roe v. Wade von 1973 auf die denkbar reaktionärste Weise umstoßen. Es wird ein neuer Test eingeführt, bei dem erstens verfassungsmäßige Rechte, die zuvor durch eindeutige rechtliche Präzedenzfälle bestätigt wurden, ohne Vorwarnung abgeschafft werden können. Zweitens würden Rechte, die nicht wörtlich in der Verfassung aufgeführt sind, als nicht einklagbar gelten, sofern sie 1791 nicht allgemein anerkannt waren, also zu einer Zeit, als in den USA drei Millionen Menschen lebten, die Pferde für den Transport und Kerzen für die Beleuchtung verwendeten.

Schutzzaun vor dem Obersten Gerichtshof der USA am Donnerstag, 5. Mai 2022, in Washington. (AP Photo/Alex Brandon) [AP Photo/(AP Photo/Alex Brandon)]

Die Dobbs-Entscheidung kommt einem Wink mit dem Zaunpfahl gleich, den die republikanische Mehrheit der Richter am Supreme Court an ihre rechtsextremen Partnern richtet und diese dazu ermutigt, eine Reihe anderer Grundrechte anzugreifen. Die Entscheidung legt nahe, dass der neue Rechtstest auf alle „Grundrechte, die in der Verfassung an keiner Stelle erwähnt sind“, angewandt werden könnte, und stellt alle „nicht aufgezählten Rechte“ in Frage, indem er sie als „vermeintliche Rechte“ („putative rights“) bezeichnet, d. h. als Rechte, von denen zwar angenommen wird, dass sie existieren, die aber möglicherweise in Wirklichkeit nicht existieren.

Die Entscheidung kritisiert das Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2015 über die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Sie lehnt das in der Verfassung verankerte Recht auf Privatsphäre mit der Begründung ab, dass dieses Recht im Verfassungstext „ebenfalls nicht erwähnt wird“, wodurch der Weg für ein massives Eindringen des Staates in das Privatleben von Individuen geebnet wird. Schließlich war Homosexualität 1791 in der Gesellschaft nicht akzeptiert, ebenso wenig wie die Ehe zwischen Personen verschiedener Hautfarben.

Die Rechten orientieren sich bei der Entwicklung ihrer heutigen politischen Strategie an den dunkelsten Zeiten der amerikanischen Geschichte. Neben dem Gespenst einer „Sittenpolizei“, die Razzien in Schwulenbars und Privathäusern durchführt, planen die Republikaner eine Neuauflage der „Rassentrennung“, diesmal mit Einwanderern als den Opfern.

Am Tag nach Bekanntwerden der Entscheidung kündigte der texanische Gouverneur Greg Abbott an, dass er den Kindern von Einwanderern ohne Papiere den Besuch öffentlicher Schulen verbieten werde – die moderne Wiederbelebung des Versprechens des berüchtigten ehemaligen Gouverneurs von Alabama George Wallace, „vor den Schultüren zu stehen“. Das Gesetz würde Geldstrafen oder strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen, wenn Kinder mit Migrationshintergrund auf dem Schulgelände erwischt würden (und vielleicht auch, wenn sie Trinkbrunnen benutzen, die „nur für Staatsbürger“ bestimmt sind). Abbott erklärte, die US-Bundesstaaten sollten ihre eigenen Einwanderungsbeschränkungen erlassen und rechtliche Schritte einleiten, um eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012 zu kippen, mit der der Bundesstaat Arizona daran gehindert wurde, Einwanderern ohne Papiere ihre verfassungsmäßigen Rechte abzuerkennen und sie allein deshalb zu inhaftieren, weil sie keine Papiere besitzen.

Polizeibehörden bereiten sich auch darauf vor, zu argumentieren, dass es kein verfassungsmäßiges Recht auf Miranda-Warnungen (Belehrung über Rechte bei Festnahmen) oder andere Schutzmaßnahmen für Festgenommene und Strafverteidiger gibt, was noch brutaleren Wellen von Polizeigewalt Tür und Tor öffnen würde. Der faschistische Polizistenverband Constitutional Sheriffs and Peace Officers Association (CSPOA) erklärte am Donnerstag in einem Podcast, dass die Entscheidung „ein wichtiges Werkzeug in unserem Arsenal“ sei und „die Dinge in einer Weise durchrüttelt, die uns langfristig helfen könnte“. Da es zum Zeitpunkt der Ratifizierung der Verfassung noch keine Polizeikräfte gab, können schließlich auch die notwendigen demokratischen Schutzmaßnahmen gegen polizeilichen Missbrauch nicht in den Traditionen der damaligen Zeit verankert sein.

Der Urteilsentwurf des Obersten Gerichtshofs kommt nicht aus dem Nichts. Er ist vielmehr ein weiterer Ausdruck des Zerfalls der bürgerlichen Demokratie in den Vereinigten Staaten und des unkontrollierbaren Drangs zu immer extremeren Formen der politischen Reaktion. Zu verstehen, woraus diese Entscheidung resultiert, heißt verstehen, wie man sie bekämpfen kann.

Die herrschende Klasse hat jahrzehntelang anti-aufklärerische und faschistische Schichten als Bollwerk gegen die Arbeiterklasse kultiviert und gefördert. Unter den Bedingungen permanenter Kriege und der sozialen Konterrevolution – geführt von beiden Parteien – sind diese Figuren zur dominierenden Kraft in der bürgerlichen Politik und im staatlichen Repressionsapparat geworden.

Das letzte halbe Jahrhundert war geprägt von Finanzparasitismus, Militarismus, pausenlosen Angriffen auf demokratische Rechte, der Abschaffung von Beschränkungen hinsichtlich der Wahlkampffinanzierung und unablässigen Bemühungen, die Masse der Menschen daran zu hindern, ihr Mitspracherecht in der Regierungspolitik auszuüben. Die 50 reichsten Familien Amerikas verfügen heute über ein Vermögen von 1,2 Billionen Dollar. Das oligarchische Prinzip manifestiert sich im gesamten Zweiparteiensystem, das von oben bis unten durch undemokratische und nicht repräsentative Strukturen gekennzeichnet ist.

Wie Joe Foweraker, Professor an der Oxford University, in seinem kürzlich erschienenen Werk Oligarchy in the Americas schreibt: „Hohe Kapitalrenditen und Superrenditen, die sich aus Marktmacht und Monopolen ergeben, haben eine neue Finanzoligarchie geschaffen und die private Steuerung der öffentlichen Politik auf eine Weise verändert, die die Oligarchie von ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber der demokratischen Regierung weitgehend befreit hat.“ (Aus dem Englischen, Hervorhebung vom Autor hinzugefügt). Die Oligarchie, schreibt Foweraker, „ist so weit von der Gesellschaft, aus der sie ihren Reichtum bezieht, entfernt, dass sie völlig unabhängig von ihr handeln kann“.

Der Charakter des gesamten politischen Establishments und der Medienkonzerne ergibt sich aus dieser Tatsache. Doch trotzdem erklärt sich die amerikanische herrschende Klasse zur Verfechterin der Demokratie im Kampf gegen Russland. Mit jedem Tag bestätigt sich aufs Neue, dass das eine Lüge ist.

Genannt seien in diesem Zusammenhang u. a. die jüngsten Enthüllungen, dass Donald Trump Raketenangriffe auf Mexiko vorschlug und dem Militär befahl, mit scharfer Munition auf Teilnehmer der Demonstrationen gegen den Polizeimord an George Floyd zu schießen, dass der Anführer der faschistischen „Oath Keepers“, Stewart Rhodes, zur Vorbereitung des Einsatzes „tödlicher Gewalt“ im Zusammenhang mit dem Putschversuch am 6. Januar 2021 mit dem Trump-Team in Kontakt stand und dass Joe Biden einem demokratischen Kongressabgeordneten in den Tagen vor der Wahl 2020 privat anvertraute, dass er, wenn er nicht gewinne, „nicht sicher sei, ob wir dann noch ein Land haben werden“.

Trotzdem wird den Hauptverschwörern des Komplotts vom 6. Januar, darunter Trump und alle seine Mitverschwörer im Kongress, weiter erlaubt, ihre nächsten Schritte zu planen. Die Demokratische Partei beharrt weiterhin auf „Überparteilichkeit“, die sich selbst auf diese „republikanischen Kollegen“ noch bezieht.

Die Demokraten werden nichts unternehmen, um den Angriff auf das Recht auf Abtreibung rückgängig zu machen. Wenn es darum geht, Raketen in die Ukraine zu schießen, gibt es kein Risiko, das die Demokratische Partei nicht einzugehen bereit wäre – nicht einmal das Risiko, die Welt an den Rand des Atomkriegs zu bringen. Doch geht es darum, demokratische Grundrechte zu verteidigen, gibt es immer irgendeinen Joe Manchin oder anderen Abgeordneten im Senat, der dann als Verantwortlicher für die Nutzlosigkeit der Demokraten herhalten muss.

In Wirklichkeit sind die politische Entwicklung der Demokraten und der Wandel der Republikaner zu einer Partei des offenen Autoritarismus zwei Seiten einer Medaille. Die Demokraten haben die Politik der Sozialreformen schon vor Jahrzehnten aufgegeben und sich in ein Vehikel für die von den Kategorien „Rasse“ und Geschlecht besessene obere Mittelschicht verwandelt, die die Demokraten als essentielle Unterstützergruppe für imperialistische Kriege betrachten. Bei der Identitätspolitik handelt es sich nicht um eine Opposition gegen die rechte Degeneration der Republikaner, sondern um einen weiteren Ausdruck der Fäulnis im Kern des gesamten Zweiparteiensystems.

Der extrem antidemokratische Charakter der Dobbs-Entscheidungmacht deutlich, dass demokratische Grundrechte nur durch eine soziale Revolution gesichert werden können. Wie Lenin 1916 in seinem Werk Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus schrieb: „Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie verwischt sich gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault.“

Selbst die bescheidensten demokratischen Reformen können nur noch durch soziale Massenkämpfe durchgesetzt werden. Die Änderung grundlegender Regeln für die Wahlkampffinanzierung, die Beendigung der Ernennung von Richtern auf Lebenszeit, die Auseinandersetzung mit der Existenz einem Senat, in dem die Bundesstaaten Wyoming und Kalifornien jeweils zwei Stimmen haben, und der Abwesenheit eines Verhältniswahlrechts – all dies erfordert nichts weniger als eine Revolution.

Die Arbeiterklasse ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die zu einer Revolution imstande ist. Doch um Erfolge zu erzielen, dürfen ihre Energien nicht durch lächerliche Aufrufe zur Reform des Zweiparteiensystems erschöpft werden. Stattdessen muss die Arbeiterklasse in einen revolutionären Kampf gegen das gesamte kapitalistische System geführt werden.

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