Rede zum 1. Mai 2022

Das Finanzkapital und die Verschärfung der globalen kapitalistischen Krise

Dies ist die Rede, die Nick Beams am 1. Mai 2022 auf der internationalen Online-Maikundgebung gehalten hat. Beams ist ein führendes Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) und Experte für marxistische Ökonomie.

Nick Beams, führendes IKVI-Mitglied und Experte für marxistische Ökonomie

Dieser 1. Mai findet inmitten eines historischen Zusammenbruchs des kapitalistischen Weltsystems statt. Er stellt die internationale Arbeiterklasse vor die Notwendigkeit, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen und ein sozialistisches Programm umzusetzen. Nur so kann verhindert werden, dass die Menschheit in eine Katastrophe abstürzt.

Die Verschärfung der Krise ist kein theoretisches Postulat. Sie beherrscht und bestimmt jeden Aspekt des täglichen Lebens der Arbeiter auf der ganzen Welt.

Die Corona-Pandemie hat sie beschleunigt und verschärft. Das unnötige Massensterben infolge von Covid-19 ist das Ergebnis der Weigerung der kapitalistischen Regierungen, die notwendigen Maßnahmen zur Beseitigung des Virus zu ergreifen.

Was die Krise weiter verschärft, ist der Drang zu einem neuen Weltkrieg, um die Welt neu aufzuteilen. Dies kommt in dem Krieg der USA und der Nato in der Ukraine gegen Russland zum Ausdruck.

Diese katastrophalen Ereignisse erweisen sich als Katalysatoren. Sie haben grundlegende Widersprüche des globalen kapitalistischen Profitsystems, die über Jahrzehnte herangereift sind, zum Ausbruch gebracht.

Seit 50 Jahren tragen sämtliche Maßnahmen, die die herrschenden Klassen als Reaktion auf diese Widersprüche ergreifen, unweigerlich zu deren Verschärfung bei.

Nach der blutigen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das globale kapitalistische System nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stabilisiert. Die Grundlage dafür bildete die wirtschaftliche Macht des US-Kapitalismus.

Doch diese wirtschaftliche Vormachtstellung wurde in den 1950er und 1960er Jahren immer weiter untergraben, und im August 1971 hoben die USA einseitig die Golddeckung des US-Dollars auf. Das war das Ende des globalen Finanzsystems. Dieses war auf der Konferenz von Bretton Woods im Jahr 1944 eingeführt worden und hatte die Grundlage für das Gleichgewicht der Nachkriegszeit gelegt.

Die Aufhebung der Dollar-Gold-Konvertibilität war ein Versuch der USA, ihren Niedergang aufzuhalten, der sich in ihrem wachsenden Handels- und Leistungsbilanzdefizit widerspiegelte.

Das neue Finanzsystem, das ausschließlich auf einer Fiatwährung beruhte, die nicht durch einen realen Wert in Form von Gold gedeckt war, führte zu neuen Widersprüchen, die sich in einem Inflationsschub äußerten.

Seit dem Ende der 1970er Jahre setzte sich der tendenzielle Fall der Profitrate, ein grundlegendes Gesetz der kapitalistischen Wirtschaft, wieder durch. Dies schlug sich in der so genannten Stagflation nieder, d.h. einer Rezession bei gleichzeitigen rapiden Preissteigerungen.

Dies war die treibende Kraft für die Umstrukturierung der Weltwirtschaft, die die Regierungen Reagan und Thatcher in den 1980er Jahren einleiteten. Diese Umstrukturierung führte zur Zerstörung ganzer Industriezweige und zur Einführung einer globalisierten Produktion, um die weltweit billigsten Arbeitskräfte zu nutzen.

Ein Schlüsselelement dieses Prozesses war das Aufkommen der Finanzialisierung, d. h. der Anhäufung von Profiten nicht durch den Ausbau und die Entwicklung der Industrie, wie während des Nachkriegsbooms, sondern durch Spekulationen an der Börse und in anderen Bereichen des Finanzsystems.

Die Zunahme des Finanzparasitismus in den 1980er Jahren hat die Krise des Profitsystems nicht überwunden, sondern führte zu ihrem Ausbruch in einer neuen Form: dem Wall-Street-Crash im Oktober 1987, dem bis heute größten Tageseinbruch der Börse in der Geschichte.

Eine neue Politik wurde eingeleitet. Als Reaktion auf den Absturz intervenierte die US-Notenbank unter dem Vorsitz von Alan Greenspan, um den Markt durch die Bereitstellung finanzieller Mittel zu stabilisieren.

Es handelte sich nicht um eine einmalige Maßnahme. Es war der Beginn eines neuen Finanzsystems, bei dem die Fed als Reaktion auf den Zusammenbruch einer Spekulationsblase intervenierte und die Mittel zur Finanzierung der nächsten Blase bereitstellte.

Diese Interventionen wurden inmitten der finanziellen Stürme der 1990er und frühen 2000er Jahre – einer schlimmer als der andere – fortgesetzt. Alle Regulierungen, die in den 1930er Jahren eingeführt worden waren, um die Spekulation einzudämmen, wurden gestrichen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion feierten die herrschenden Klassen in aller Welt den Triumph des freien Marktes. Sie behaupteten, eine neue Periode, die sie als „Great Moderation“ [große Mäßigung] bezeichneten, habe begonnen. Die Widersprüche des kapitalistischen Systems seien überwunden.

Niedrige Inflation bedeutete, dass die Zentralbanken durch die Bereitstellung von Geld zu niedrigen Zinssätzen in die Finanzmärkte eingreifen konnten, um das Getriebe der parasitären Profitakkumulation am Laufen zu halten, ohne dass finanzielle Probleme auftraten.

Außerdem wurden die Löhne der Arbeiterklasse durch die Gewerkschaftsapparate niedrig gehalten. Alles stand zum Besten in der besten aller Welten.

Aber es entstanden neue Widersprüche, und im September 2008 implodierte das Finanzsystem mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers und dem drohenden Untergang des Versicherungsriesen AIG.

Die Fed weitete ihre Unterstützung für die Finanzoligarchie massiv aus. Sie senkte die Zinssätze auf Null und leitete die quantitative Lockerung ein. Sie stellte Billionen von Dollar für den Kauf von Wertpapieren zur Verfügung. Die US-Regierung half den Großunternehmen mit Hunderten von Milliarden aus der Patsche.

Diese Geldschwemme wurde als vorübergehend bezeichnet. Sie sollte beendet werden, sobald wieder „normale“ Bedingungen herrschten. Aber dieser Tag ist nie gekommen. Selbst zaghafte Versuche, die Zinssätze anzuheben, wie sie 2018 stattfanden, lösten eine Krise an der Wall Street aus und wurden rasch wieder aufgegeben.

Als Folge davon kam es Anfang 2020, als die Pandemie ausbrach, zu einem Absturz der Kurse, der möglicherweise noch gravierender war als 2008.

Der Aktienmarkt brach ein, und im März kam es zur schweren Krise: Der Markt für US-Schatzpapiere im Wert von 22 Billionen Dollar, die Grundlage des amerikanischen und des globalen Finanzsystems, fror ein. Für US-Anleihen, die angeblich sicherste Geldanlage der Welt, gab es keine Käufer mehr.

Der Zusammenbruch wurde durch die Befürchtung ausgelöst, dass Arbeiterstreiks einen Lockdown erzwingen könnten. Arbeiter forderten Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, um das Corona-Virus zu eliminieren.

Diese Befürchtung ergab sich aus der Natur des Finanzkapitals selbst. Es lebt offenbar in einer anderen Dimension, in einer Art Himmel, in dem Geld aus sich selbst heraus immer neues Geld erzeugt.

Aber letztendlich sind alle finanziellen Vermögenswerte ein Anspruch auf Mehrwert, der im Prozess der kapitalistischen Produktion aus der Arbeiterklasse gepresst werden muss. Alle Maßnahmen, die für die öffentliche Gesundheit sinnvoll sind, bedrohen diese Anhäufung von Reichtum.

Daher der Ruf nach einer Rückkehr zur Arbeit und das Beharren darauf, dass „das Heilmittel nicht schlimmer sein darf als die Krankheit“. Absolut nichts, insbesondere nicht die Gesundheit, das Wohlergehen und das Leben der Arbeiter, dürfen den Strom von Geld an die Finanzoligarchie behindern.

So stellten Regierungen in aller Welt Milliardensummen bereit, um die Konzerne zu retten. Die US-Notenbank und andere wichtige Zentralbanken pumpten schätzungsweise 16 Billionen Dollar in die Finanzmärkte. Die US-Notenbank verdoppelte ihren Bestand an Vermögenswerten praktisch über Nacht auf mehr als 8 Billionen Dollar. Dies ging so weit, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt, um die Finanzmärkte zu stützen, eine Million Dollar pro Sekunde ausgab.

Die Folgen sind unübersehbar.

Die Hilfsorganisation Oxfam hat berichtet, dass in den ersten beiden Jahren der Pandemie die Einkommen der untersten 99 Prozent der Gesellschaft gesunken sind, während sich das Vermögen der zehn reichsten Personen verdoppelt hat.

Seit Beginn der Pandemie ist alle 26 Stunden ein neuer Milliardär hinzugekommen, und das Vermögen der 2.775 Milliardäre der Welt ist in den beiden Corona-Jahren mehr gewachsen als in den gesamten 14 Jahren zuvor. (Und auch die waren schon eine Bereicherungsorgie.)

Nun stellen sich zwei wichtige Fragen: Was kommt als nächstes? Und: Was ist zu tun?

Unsere Perspektive muss sich auf die Lehren der letzten 50 Jahre stützen: Jede Maßnahme, die die herrschenden Klassen zur Bekämpfung einer Krise ergriffen haben, schafft nur die Bedingungen dafür, dass diese Krise erneut, und in noch explosiverer Form, wieder aufbricht.

Das ist heute der Fall.

Die Weigerung der Regierungen, Maßnahmen zur Beseitigung der Pandemie zu ergreifen, während sie die Finanzmärkte schützen, hat in Verbindung mit den Maßnahmen der Zentralbanken zu einer Krise in der Realwirtschaft geführt: Sie hat die Versorgungsketten unterbrochen und eine grassierende Inflation ausgelöst.

Durch die Kriegstreiberei der USA wurde sie noch einmal erheblich verschärft. Die Vereinigten Staaten versuchen, Russland und danach China für ihre Ausplünderung zu öffnen und ihren historischen Niedergang zu überwinden, indem sie frisches Blut in ihre sklerotischen Adern pumpen.

Und jetzt kommt der so lange unterdrückte Klassenkampf ins Spiel. Die Zentralbanken, allen voran die Fed, erhöhen die Zinssätze mit dem Ziel, eine Rezession herbeizuführen und den Arbeitern die Daumenschrauben anzulegen. Tagtäglich wird ihr Lebensstandard gesenkt, und die Inflation treibt sie in den Kampf.

Die massive Staatsverschuldung, angehäuft durch die Rettungsaktionen für Unternehmen, muss durch Kürzungen der Sozialausgaben wieder eingetrieben werden.

Die Zinserhöhungen, die aufgrund einer steigenden Inflation durchgesetzt werden, drohen eine neue Finanzkrise auszulösen. Denn die Spekulationsgeschäfte, die seit Jahrzehnten für die Profitakkumulation so wichtig sind, waren völlig von einem Niedrigzinsregime abhängig.

Die Rohstoffmärkte sind bereits in Aufruhr, ebenso die Anleihemärkte, und die Aktienmärkte geraten ins Trudeln, weil befürchtet wird, dass der Zusammenbruch selbst eines relativ kleinen Finanzhauses eine Systemkrise auslösen kann.

Es gibt jedoch keine endgültige Krise des Kapitalismus. Es gibt keine Krise, die an und für sich dem Profitsystem den Todesstoß versetzen wird. Diese Gesellschaftsordnung der Verwüstung und Zerstörung kann nur durch den bewussten revolutionären Kampf der Arbeiterklasse beendet werden.

Das erfordert den Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution. Das ist die dringende Aufgabe, die sich aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ergibt.

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