Beginn der Eisenbahnerstreiks im Vereinigten Königreich: Die Arbeiterklasse braucht ihre eigene Strategie

Im Vereinigten Königreich haben gestern die geplanten, landesweiten Streiks von 50.000 Eisenbahnern begonnen. Weitere Streiks werden in dieser Woche am Donnerstag und am Samstag stattfinden.

Der Generalsekretär der Gewerkschaft Rail, Maritime and Transport (RMT), Mick Lynch, beklagte sich, die Gewerkschaft habe „keine andere Wahl“, denn die Tory-Regierung habe eine Einigung mit dem Management der Bahngesellschaften „aktiv verhindert (…) Auf diesem Konflikt lastet die Todeshand dieser Tory-Regierung.“

RMT-Generalsekretär Mick Lynch auf einer Kundgebung des Trades Union Congress in London, 18. Juni 2022 (WSWS Media)

Lynch entdeckt also angeblich, was von Anfang an klar war: dass die Tories einen Streik wollen, um die volle Staatsmacht zu mobilisieren und den Bahnarbeitern und der ganzen Arbeiterklasse eine Niederlage beizubringen. Doch während die Tories seit Wochen im Kriegsmodus sind, haben die RMT, der Trades Union Congress (TUC) und die anderen Gewerkschaften bei jeder sich bietenden Gelegenheit Bedingungen für eine Kapitulation angeboten. Das Letzte, was sie wollen, ist eine Welle von Klassenkämpfen, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat.

Am Sonntagabend nannte die Times folgende Lohnforderungen verschiedener Gewerkschaften: Die Public and Commercial Services Union (die 188.000 Beschäftigte repräsentiert) fordert 10 Prozent mehr Lohn, die Lehrergewerkschaften National Education Union (500.000 Beschäftigte) und NASUWT (300.000 Beschäftigte) fordern 11 bis 12 Prozent, Unite, Unison und die GMB (1,4 Millionen Beschäftigte im kommunalen öffentlichen Dienst) fordern 11 Prozent, das Royal College of Nursing (500.000 Beschäftigte) fordert 16 Prozent, und die British Medical Association (160.000 Beschäftigte) fordert für die angehenden Ärzte 22 Prozent.

Keiner dieser bürokratischen Apparate ist bereit, für diese Lohnforderungen ernsthaft zu kämpfen. Sie haben mehr als zehn Jahre lang alle Sparmaßnahmen und die größte Lohnstagnation seit Jahrzehnten mit organisiert. Sie haben noch nicht einmal ihre Mitglieder abstimmen lassen. Allerdings müssen sie sich momentan kämpferisch gebärden, denn die überwältigende Mehrheit der Arbeiter ist zum Kampf gegen die Johnson-Regierung bereit. Angesichts der schlimmsten Teuerung seit Jahrzehnten fordern die Arbeiter deutlich höhere Löhne.

Weitere Urabstimmungen stehen bevor, so bei 40.000 British-Telecom-Beschäftigten, bei 100.000 Beschäftigten der Royal Mail und bei 16.000 Beschäftigten von British Airways. Auch 500 von Unite vertretene Flughafenarbeiter von Heathrow sind zur Abstimmung aufgerufen. Die Beschäftigten des Busunternehmens Arriva und die Müllarbeiter in Coventry befinden sich bereits im unbefristeten Streik.

Finanzminister Simon Clarke hat den Arbeitern „unrealistische Erwartungen“ vorgeworfen und weitere Kürzungen angekündigt. Obwohl die Inflation derzeit bei 11,1 Prozent liegt und weiter steigt, will die Regierung dem öffentlichen Dienst nur Lohnerhöhungen in Höhe von zwei bis drei Prozent zahlen.

Überall auf der Welt findet der gleiche Kampf statt. In Griechenland, Italien und Belgien kam es vor kurzem schon zu Generalstreiks. In Italien fand letzten Freitag ein landesweiter Streik gegen die Privatisierung des nationalen Transportwesens statt. In Belgien und Portugal werden vom 24. bis 26. Juni die Arbeiter von Ryanair streiken, in Frankreich am 25. und 26., in Italien am 25. Juni, und in Spanien vom 24. bis 26. sowie vom 30. Juni bis am 2. Juli.

Landesweiter 24-Stunden-Streik in Athen, 6. April 2022 (AP Photo/Thanassis Stavrakis)

Die Eisenbahnerstreiks im Vereinigten Königreich sind eine wichtige Front in dieser wachsenden globalen Gegenoffensive der internationalen Arbeiterklasse. Um zu siegen, brauchen die Bahnarbeiter jedoch ein klares Verständnis darüber, gegen wen sie kämpfen und wer ihre Verbündeten sind.

Johnsons Tory-Regierung will der Streikwelle, die in diesem Jahr auszubrechen droht, rasch einen vernichtenden Schlag versetzen. Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng hat Pläne vorgelegt, die diese Woche eingebracht werden und Mitte Juli in Kraft treten sollen. Sie sehen den Einsatz von Leiharbeitern als Streikbrecher und Ersatz für die streikenden Arbeiter vor. Die Regierung will außerdem ein Gesetz verabschieden, das eine Mindestbesetzung während eines Streiks zur Pflicht macht.

Die Gewerkschaften haben die Regierung wiederholt gewarnt, sie riskiere eine soziale Explosion, die es der RMT und den anderen Gewerkschaften unmöglich machen würde, den Aufstand der Arbeiterklasse zu kontrollieren. Sie drängen auf eine Vertiefung ihrer korporatistischen Partnerschaft mit der Regierung, um deren Angriffe in weniger provokanter Weise fortzusetzen.

Bezeichnenderweise fordert die RMT nur 7,1 Prozent, was vier Prozent unter der aktuellen Inflationsrate liegt. Sie rechtfertigt dies mit der fadenscheinigen Behauptung, dies sei die Inflationsrate zu Beginn der Verhandlungen im Dezember gewesen. Die Arbeiter müssen ihre Rechnungen und die Lebensmittel- und Energiepreise aber heute bezahlen. Gleichzeitig müssen sie Verluste aus früheren Nullrunden ausgleichen, egal wann die Verhandlungen begonnen haben.

Die Gewerkschaft behauptet auch, es werde keine Zwangs-Kündigungen geben, weisen aber darauf hin, dass sie Tausenden von so genannten freiwilligen Kündigungen zugestimmt haben. Diese werden durchgesetzt, indem die Verzweiflung älterer Arbeiter ausgenutzt wird.

Die RMT hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass sie zu Kompromissen bereit ist. Am 15. Juni bat Lynch in einem Brief an Verkehrsminister Grant Shapps und Kanzler Rishi Sunak um Gespräche „ohne Vorbedingungen“.

Die RMT behauptet von sich, eine militante Alternative darzustellen. Was davon zu halten ist, zeigte sich am Montag in Lynchs Versuch, bei einer Pressekonferenz Sir Keir Starmer und die Labour Party politisch zu rehabilitieren.

Der Vorsitzende der britischen Labour Party, Sir Keir Starmer, bei einer Grundsatzrede auf dem jährlichen Parteitag im englischen Brighton, 29. September 2021 (AP Photo/Alastair Grant)

Lynch betonte, „Starmer und sein Team“ müssten „auf der Welle des Widerstands“ der Arbeiterklasse schwimmen. Labour sei „dagegen, dass Arbeiter ausgebeutet werden, und sie sind gegen diese Tory-Regierung“.

Was für eine kolossale Lüge! Starmer hatte sich nur 24 Stunden zuvor öffentlich gegen die Bahnstreiks ausgesprochen. Dazu sagte Lynch: „Wenn mir jemand sagen kann, wo Labour steht, würde ich es gerne hören.“ Darauf veröffentlichte PoliticsHome einen Brief an das Labour-Schattenkabinett, in dem es heißt: „Wir haben eine klare Linie. Wir wollen nicht, dass diese Streiks stattfinden und die Öffentlichkeit stören (…) Deshalb denken Sie bitte daran: Frontbenchers und [parlamentarische Mitarbeiter] sollten sich nicht an Streikposten beteiligen.“ (Frontbenchers sind die bekannteren Parlamentarier einer Partei.)

Kein Zweifel: Solange die Streiks unter Kontrolle der Gewerkschaften und der Labour Party bleiben, werden diese sie verraten. Die Eisenbahner und Millionen weitere kampfbereite Arbeiter können unter einer Führung, die verzweifelt nach einem Weg sucht, zu kapitulieren, den Kampf nicht führen. Sie müssen unbedingt ihre eigene Strategie für einen Sieg entwickeln. Und um diese durchzusetzen, brauchen sie ihre eigenen Führungsorganisationen.

Die Erklärung der Socialist Equality Party „Bahnstreik in Großbritannien: Mobilisiert die gesamte Arbeiterklasse gegen die Johnson-Regierung!“ schlägt ein Aktionsprogramm vor, auf dessen Grundlage die Arbeiter gegen Regierung und Unternehmer kämpfen können. Darin heißt es:

Eine Anti-Inflations-Lohnerhöhung von 20 Prozent für die Eisenbahner! Dies muss durch ein koordiniertes Vorgehen von Fahrern, Schaffnern, Wartungspersonal und Bahnhofspersonal erreicht werden. Entgegen der Behauptung, es sei „kein Geld“ da, um den öffentlichen Verkehr, angemessene Löhne und Renten zu finanzieren, müssen sie für sozialistische Maßnahmen kämpfen – einschließlich der Enteignung der Eisenbahnunternehmen unter Arbeiterkontrolle.

Nieder mit dem Plan der Great British Railways! Das Einfrieren der Löhne und Gehälter der Eisenbahner, Kürzungen in Höhe von mehr als 3 Mrd. Pfund und die Drohung, tausende Arbeitsplätze zu streichen und die Renten zu beschneiden, sind Teil des Tory-Plans für Great British Railways. Die RMT, ASLEF und TSSA sind über die Rail Recovery Group Johnsons Partner in diesem Programm.

Weitet die Auseinandersetzungen in allen Bereichen aus und vereinheitlicht sie! Arbeiter stimmen überall aus denselben Gründen für Streiks und stehen entschlossenen superreichen Arbeitgebern gegenüber. Die Bemühungen der Gewerkschaften, Kämpfe zu unterdrücken und zu spalten, müssen überwunden werden. Es müssen Vorbereitungen für die Organisation eines Generalstreiks getroffen werden.

Führt einen politischen Kampf zum Sturz der Johnson-Regierung! Ein Generalstreik kann seine Ziele nur dann erreichen, wenn er sich direkt gegen die Johnson-Regierung wendet, die im Namen der Konzerne und der Superreichen in allen Bereichen historische Angriffe durchführt.

Baut die Socialist Equality Party als Führung der Arbeiterklasse auf! Die Labour Party bietet keine Alternative zu Johnsons Tories – sie sind gleichermaßen rechte Parteien, die für Autoritarismus, Militarismus, Durchseuchung und Spardiktat stehen. Arbeiter brauchen ihre eigene Partei, die auf der Grundlage eines sozialistischen, internationalistischen Programms für ihre Interessen kämpft.

Im Kampf für diese Forderungen müssen neue Organisationen – unabhängige Aktionskomitees – aufgebaut werden. Diese Komitees werden von den Arbeitern selbst kontrolliert und knüpfen Verbindungen zu Arbeitern anderer Unternehmen, Branchen und über die Landesgrenzen hinweg an.

Die World Socialist Web Site berichtet laufend über die Streiks und lässt streikende Eisenbahner zu Wort kommen. Unterstützt die Streiks und die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees, und nehmt dazu noch heute Kontakt mit der WSWS auf!

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