Perspektive

Nach Cassidy Hutchinsons Zeugenaussage:

Unbeantwortete Fragen zu Trumps Putsch vom 6. Januar

Zwei Stunden lang sagte Cassidy Hutchinson, die ehemalige Beraterin im Weißen Haus, am 28. Juni vor dem Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses aus. Einprägsam schilderte sie Donald Trumps Bemühungen, am 6. Januar 2021 einen politischen Staatsstreich loszutreten, um die Bestätigung seiner Wahlniederlage durch den Kongress zu verhindern und als Präsident und faschistischer Diktator im Amt zu bleiben.

Gemeinsam mit hochrangigen Beratern (z.B. seinem persönlichen Anwalt Rudy Giuliani und seinem Stabschef Mark Meadows) plante Trump an diesem Tag, nach der Kundgebung vor dem Weißen Haus, wenn seine Anhänger, einschließlich Hunderter bewaffneter Faschisten, seiner Aufforderung Folge leisten und auf das Kapitol zu marschieren würden, sie zu begleiten, sich an die Spitze des Mobs zu setzen, in die Räume des Repräsentantenhauses einzudringen, wo die Auszählung der Wahlstimmen im Gange war, und die Kontrolle zu übernehmen.

Vizepräsident Mike Pence und die versammelten Abgeordneten sollten genau zwei Möglichkeiten haben: Entweder sie würden die Entscheidung Trumps ratifizieren, das Wahlergebnis von 2020 umzustoßen und an der Macht zu bleiben, oder sie würden selbst getötet werden. Auf den Slogan seiner Anhänger: „Hängt Mike Pence“ antwortete Trump: „Er hat‘s verdient.“

Was hätten in diesem Fall die Demokraten im Kongress getan? Darüber besteht kaum ein Zweifel. Sie hätten kapituliert und sich um eine gesichtswahrende Maßnahme bemüht. Beispielsweise hätten sie die „umstrittene“ Wahl an das Repräsentantenhaus zur Abstimmung überwiesen. Hätte man dann nach dem Verfahren abgestimmt, dass jede Delegation eines ganzen Bundesstaats nur eine Stimme hätte, dann hätte Trump gewonnen.

Später hätten die Demokraten und die bürgerlichen Medien das Ergebnis als verfassungskonform dargestellt. Im Übrigen hätten Trumps Handlanger am Supreme Court jede rechtliche Anfechtung zurückgewiesen.

Dass der Staatsstreich gescheitert ist, ist keineswegs dem Widerstand der Demokratischen Partei zu verdanken, und schon gar nicht dem damals designierten Demokratischen Präsidenten Joe Biden. Dieser forderte den Möchtegern-Diktator auf, über das nationale Fernsehen seinen eigenen Staatsstreich abzublasen.

Belagerung des US-Kapitols durch Trump-Anhänger, 6. Januar 2021 (Von Tyler Merbler aus den USA - DSC09363-2, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=98724532) [Photo by Tyler Merbler / CC BY 4.0]

Eins ist jedoch sehr deutlich: Große Teile des Militär- und Geheimdienstapparats beobachteten den Putschversuch und warteten ab. Sie griffen erst ein, als klar war, wer sich durchsetzen würde. Die Tatsache, dass Trump es nicht schaffte, das Kapitol zu erreichen – unter Umständen, die noch zu klären sind – beraubte den Mob seiner Führung vor Ort. Dies führte dazu, dass seine Energie verpuffte, bis schließlich, nach langer Verzögerung, Polizeiverstärkung eintraf, um das Gebäude zu räumen.

Zum Anschlag vom 6. Januar sind bisher sechs Anhörungen des Sonderausschusses des Repräsentantenhauses im Fernsehen übertragen worden. Die jüngsten Enthüllungen und alle Informationen, die diese Anhörungen ans Licht brachten, werfen wichtige Fragen auf.

Wer waren Trumps Komplizen und Mitverschwörer?

Eine so weitreichende Aktion wie ein Staatsstreich in den Vereinigten Staaten kann nicht das Werk eines Einzelnen sein, nicht einmal eines Präsidenten. Trump benötigte Dutzende, wenn nicht Hunderte und Tausende von Mitverschwörern, die bereit waren, das Gesetz zu brechen und die Verfassung mit Füßen zu treten. Hutchinsons Aussage zufolge haben sich Meadows, Giuliani und sieben republikanische Abgeordnete nach einer Begnadigung durch den Präsidenten für ihre Handlungen am 6. Januar erkundigt oder sich aktiv darum bemüht – ein klares Schuldeingeständnis. Es muss jedoch noch viel mehr von ihnen geben.

Welche Rolle spielte der militärische Geheimdienstapparat?

Kein Putsch kann ohne die aktive Unterstützung oder passive Zustimmung der Streitkräfte gelingen. Mehr als drei Stunden lang verzögerte das Pentagon die Genehmigung für eine Entsendung von Nationalgardeeinheiten, um das Kapitol zu verteidigen. Bisher wurde für diese Verzögerung keine glaubwürdige Erklärung gegeben. Weder der amtierende Verteidigungsminister Christopher Miller noch ein einziger hochrangiger Offizier haben sich öffentlich zu ihrem Vorgehen am 6. Januar geäußert. Was taten sie? Mit wem standen sie in Kontakt? Welche Gespräche wurden geführt?

Was tat Trump im Oval Office, während der Angriff ablief?

Laut Hutchinson sagte Stabschef Meadows in diesen Stunden mehrmals zu ihr, dass Trump in seinem Büro allein sein wolle. Mit wem hat er telefoniert, und worüber wurde gesprochen? Sicherlich sprach er mit Kongressmitgliedern, die sich im belagerten Kapitol befanden. Was haben sie besprochen? Stand er in direktem Kontakt mit einzelnen in der Menge, die das Gebäude angriffen? Hatte er Kontakt zu führenden Vertretern des militärischen Geheimdienstes? Was wurde besprochen?

Warum wurde das Kapitol so wenig verteidigt? Wer ordnete diese Zurückhaltung an?

Die Drohungen mit Gewalt am 6. Januar wurden nicht im Geheimen ausgesprochen. Sie kursierten im Internet und wurden sogar in den bürgerlichen Medien breit veröffentlicht. Schon zuvor hatte es gewalttätige Zwischenfälle gegeben: Als Generalproben wurden mehrere Hauptstädte von Bundesstaaten angegriffen, und es gab das faschistische Komplott, um die demokratische Gouverneurin von Michigan zu entführen und zu ermorden. Dennoch versetzte man die Kapitolswache nicht in außerordentliche Alarmbereitschaft. Es gab auch keine präventive Mobilisierung von Polizei und Militär, wie das sicherlich der Fall gewesen wäre, hätte Trump die Wahl gewonnen, und linke Proteste gegen die Bestätigung seines Sieges wären angekündigt worden.

Was hat die Demokratische Partei vor dem Angriff getan?

Den Demokraten war klar, was Trumps Absichten waren. Er hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er sich über das Wahlergebnis hinwegsetzen würde. Biden hatte bereits Monate vor der Wahl erklärt, seine größte Sorge sei, dass Trump möglicherweise seine Wahlniederlage nicht anerkennen würde. Aber nach der Wahl verbreiteten Biden und die Demokraten Selbstzufriedenheit und suggerierten, dass Trumps Haltung nichts Ernstzunehmendes sondern rein psychologisch bedingt sei. Es sei bloß Trumps persönliche Unfähigkeit, eine Niederlage zuzugeben. Als Trump die Zertifizierung des Wahlergebnisses öffentlich angriff, ordnete die Sprecherin des Repräsentantenhauses und oberste Kongressvertreterin, Nancy Pelosi, keinerlei Maßnahmen an, um das Kapitol während der Zertifizierungsabstimmung zu schützen.

Was hat Biden am 6. Januar getan?

Als gewählter Präsident wurde Biden ab dem 30. November (nach einer anfänglichen Verzögerung aufgrund von Trumps Weigerung, seine Niederlage einzugestehen) in die nationalen Sicherheitscodes eingewiesen. Biden war in sämtliche Informationen eingeweiht, die dem Geheimdienst über die drohende Gewalt am 6. Januar vorlagen, und sie konnten ihn nicht überraschen. Dennoch schwieg er am 6. Januar mehrere Stunden lang. Warum? Warum trat er nicht sofort, als das Ausmaß des Anschlags sichtbar wurde, im Fernsehen auf, um Trump anzuprangern? Stand er mit der Führung des militärischen Geheimdienstes in Kontakt, und wartete er, wie diese, ab? Warum richtete er, als er sich schließlich öffentlich äußerte, einen Appell an Trump – nicht jedoch an das amerikanische Volk?

Die Mitglieder des Sonderausschusses und die Presseberichterstatter haben in ihren Kommentaren nach der Anhörung diese wichtigen Fragen untern Tisch fallen lassen. Sie reduzieren alles auf die untergeordnete Frage von Trumps persönlichem Verhalten: Hat er das Lenkrad seines gepanzerten Wagens ergriffen und seinen Leibwächter vom Secret Service angegriffen? Hat er seinen Teller gegen die Wand geschleudert?

Die Stimmen der führenden Presse verharmlosen die Anhörung. In der Washington Post heißt es: „Die Aussage zum 6. Januar zeigt, dass Donald Trump gestört ist. Die Wähler müssen zuhören.“ Und die New York Times, der diese Nachricht nicht einmal ein Leitartikel wert war, überschrieb ihren Artikel mit den Worten: „Ein entfesselter Präsident: In den letzten Tagen seiner Amtszeit wurde Donald J. Trumps Verhalten immer unberechenbarer, als er Geschirr zerschlug und seinen Geheimdienstler angriff“.

In den Kommentaren geht es höchstens darum, ob Trump für seine Handlungen strafrechtlich belangt werden könne oder werde, oder welche Auswirkungen diese Enthüllungen auf die bevorstehenden Zwischenwahlen haben würden.

Weder die Journalisten noch die Demokraten wollen darüber sprechen, welche Folgen es gehabt hätte, wäre Trumps Putsch erfolgreich gewesen. Wie hätte Amerika am 7. Januar 2021 ausgesehen? Oder am 20. Januar 2021, wenn es keine „friedliche Machtübergang“ gegeben hätte? Oder heute?

Die Enthüllungen über den 6. Januar lassen sich jedoch nicht zurück in die Flasche stecken. Den meisten Umfragen zufolge ist die Mehrheit der Amerikaner inzwischen der Meinung, dass Trump für seine Taten angeklagt und strafrechtlich verfolgt werden müsse. Die Socialist Equality Party teilt diese Meinung voll und ganz.

Die Demokratische Partei befürchtet, dass im Falle eines Prozesses gegen Trump Beweise für das riesige Ausmaß der Verschwörung auftauchen würden, die auch die zahlreichen Republikaner betreffen würden, die Biden zu seinen „Kollegen“ und „Freunden“ zählt. Deshalb haben sich die Ermittlungen zum 6. Januar über fast 18 Monate hingezogen, und es hat bis heute gedauert, bis die brisantesten Fakten ans Licht kamen. Selbst die jüngste Enthüllung scheint dem Wunsch geschuldet zu sein, Trump und seine politische Fraktion bei den Wahlen im November zu schwächen, nicht jedoch dem Wunsch, das amerikanische Volk auf die wachsende Gefahr für seine demokratischen Rechte hinzuweisen.

Aber die kapitalistischen Regierungen in jeder Hauptstadt der Welt wissen sehr wohl, dass die Vereinigten Staaten – das mächtigste und am besten bewaffnete Land der Welt – nur wenige Minuten von einem erfolgreichen Putsch entfernt waren, und dass nur Pech und Unfähigkeit der Putschisten ihn verhindert haben. Und dass die Putschisten es wieder versuchen könnten.

Die jüngsten Enthüllungen sind eine eindrucksvolle Bestätigung für die Warnungen, die die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Party damals aussprachen. Schon in den Monaten vor der Wahl und danach mit immer größerer Dringlichkeit versuchten wir, die Arbeiterklasse vor der Gefahr für ihre demokratischen Rechte, die von Trumps Vorbereitungen auf eine autoritäre Herrschaft ausgingen, zu warnen. Bereits wenige Stunden nach dem Putsch schrieb David North, Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und der Socialist Equality Party in den USA:

Was sich gestern zugetragen hat, war das Ergebnis eines sorgfältig durchgeplanten Komplotts. Der Anstifter war Donald Trump in Zusammenarbeit mit einer Bande faschistischer Verschwörer, die an strategischen Positionen im Weißen Haus und anderen mächtigen Institutionen und Behörden des Staates platziert sind (…)

Die Verschwörung bediente sich der bekannten Methoden von Staatsstreichen in der modernen Geschichte. Als günstige Gelegenheit, in Aktion zu treten, machten die Verschwörer die Sitzung des Kongresses aus, auf der die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl zertifiziert werden sollten. Der Angriff aufs Kapitol wurde von Trump und seinen Lakaien über Wochen mit verlogenen Behauptungen, dass die Wahl von 2020 gestohlen worden sei, vorbereitet.

North verwies auf die schwache Verteidigung des Kapitols, die fehlende Reaktion des Militärs, die erbärmliche Rückgratlosigkeit der Demokratischen Partei und Bidens bemerkenswerten Appell an Trump, den Aufstand abzublasen, von dem North treffend sagte, er sei Bidens Version von „Tun Sie das Richtige, Herr Hitler“.

Schon am darauffolgenden Tag gab die Socialist Equality Party eine Erklärung ab, in der sie eine vollständige, öffentliche, live gestreamte und im Fernsehen übertragene Untersuchung aller Aspekte der Ereignisse vom 6. Januar 2021 forderte. Sie schrieb, die Ereignisse seien „der erste Versuch eines US-Präsidenten, die amerikanische Regierung zu stürzen und eine Diktatur zu errichten“. Achtzehn Monate später muss diese politische Forderung mit verdoppelter Kraft erhoben werden.

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