Hände weg von der Documenta – keine Zensur der Kunst!

Bereits in der Vergangenheit wurde die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die alle fünf Jahre stattfindende Documenta in Kassel, wegen ihrer gesellschaftskritischen Inhalte attackiert. Vor fünf Jahren bezeichnete die rechtsextreme AfD in Hessen gar einen Obelisken, der dem Schicksal der Flüchtlinge gewidmet war, als „entstellte Kunst“ und stellte sich damit in plumpester Form in die Nazi-Tradition gegen „entartete Kunst“.

Doch in diesem Jahr steigerten sich diese Attacken zu einer hasserfüllten Vendetta. Mit einer aggressiven Antisemitismus-Kampagne zwangen Politiker, Antisemitismus-Beauftragte und offizielle Israel-Vertreter, sekundiert von den großen Medien, die Documenta-Leitung, kurz nach Eröffnung der Kunstschau ein riesiges Wandbild der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi zu verhüllen und danach ganz abzubauen.

Mitglieder des indonesischen Künstlerkollektivs ruangrupa, das die diesjährige documenta ausrichtet [Photo by Jin Panji / documenta]

Die AfD Hessen beantragte die Schließung der gesamten Documenta. Die israelische Botschaft erklärte, einige Exponate der Kunstschau erinnerten an „die Propaganda von Goebbels“ und hätten „alle roten Linien ... zertrümmert“. Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, Daniel Botmann, wütete gegen das Wandbild, es sei „Judenhass in reinster Form“, und forderte den Rücktritt der Documenta-Direktorin Sabine Schormann. Die Staatsanwaltschaft Kassel schaltete sich ein und erklärte, sie überprüfe das Großbild auf strafbares Verhalten. Und schließlich wurde am Donnerstag die Frage auf Antrag von CDU/CSU sogar Thema einer Bundestagsdebatte.

Worum geht es? Die diesjährige Documenta wird von dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa ausgerichtet, das in seiner Heimat als links gilt und sich auf Kunst unterdrückter Völker und Minderheiten im globalen Süden konzentriert. Eingeladen wurden über 1000 Künstler u.a. aus Trinidad, Haiti, Mali, Niger, Bangladesch, Indien, Indonesien und Vietnam.

Schon vor Eröffnung der Documenta 15 wurde Ruangrupa als „antisemitisch“ angegriffen, unter anderem, weil sie auch palästinensische Künstler und Unterstützer der BDS-Boykottkampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) eingeladen hatte. Ein Bundestagsbeschluss von 2020 hatte diese israel-kritische Kampagne, der sich auch viele jüdische Künstler angeschlossen haben, unter Protest zahlreicher Kulturschaffender als „antisemitisch“ verurteilt.

Ende Mai gab es einen Einbruch in einen Ausstellungsraum des palästinensischen Kollektivs „The Question of Funding“. Die Einbrecher richteten erheblichen Sachschaden an und hinterließen Schriftzüge, die unter anderem mit der Zahl „187“, eine Anspielung auf den kalifornischen Penal Code für Mord, eine Todesdrohung aussprachen.

Schon im Januar hatten rechte, prozionistische Gruppen der Antideutschen, wie die „Ruhrbarone“, gegen die Kuratoren der Documenta gehetzt. Im April wurde die Fassade des sogenannten Ruruhauses in Kassel – der Hauptsitz von Ruangrupa – offensichtlich von den gleichen Kräften mit rassistischen Aufklebern beklebt. Darauf war zu lesen: „Freiheit statt Islam! Keine Kompromisse mit der Barbarei! Islam entschlossen bekämpfen!“ Ein anderer Aufkleber forderte „Solidarität mit Israel“.

Nach Eröffnung der Documenta Mitte Juni konzentrierten sich die Vorwürfe des Antisemitismus auf das über hundert Quadratmeter große „Wimmelbild“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi mit dem Titel „People’s Justice“, das auf einem Banner aus Baumwollstoff in der Art der mexikanischen Murales gemalt ist. Das Bild wurde bereits im Jahr 2002 von den mehr als einem Dutzend Mitgliedern der 1998 entstandenen Künstlergruppe erstellt und seither in mehreren Ländern, darunter Australien, gezeigt, ohne Anstoß zu erregen. Beim genaueren Hinsehen enthalten die mehr als hundert Figuren des Bilds allerdings zwei, die tatsächlich mit antijüdischen Stereotypen arbeiten.

So sieht man in einer Reihe Soldaten oder Polizisten im Sturmschritt eine Figur, die einen israelischen Soldaten oder Polizisten darstellen soll. Dieser wird mit Schweinsgesicht, einem Halstuch mit einem Davidstern und einem Helm mit der Aufschrift „Mossad“ – die Bezeichnung des berüchtigten israelischen Auslandsgeheimdiensts – gezeichnet.

Die zweite Figur, ein Mann in Anzug und Krawatte mit Haifisch-artigen Zähnen, einer Zigarre im Mund und angedeuteten Schläfenlocken, auf dem Hut prangt eine SS-Rune, ähnelt auf fatale Weise den Nazi-Karikaturen jüdischer Kapitalisten.

Das Künstlerkollektiv Taring Padi entschuldigte sich dafür, dass diese Figuren in Deutschland offensichtlich wegen der Verbrechen des Holocausts Gefühle verletzt hätten. Den Vorwurf des Antisemitismus wies es jedoch zurück. Ihre Installation sei 2002 als Teil einer Kampagne gegen Militarismus und Gewalt in Indonesien entstanden. Das Erbe der 32-jährigen blutigen Militärdiktatur von Haji Mohamed Suharto, die erst 1998 gestürzt wurde, wirke sich bis heute aus.

„Alle auf dem Banner abgebildeten Figuren nehmen Bezug auf eine im politischen Kontext Indonesiens verbreitete Symbolik, z.B. für die korrupte Verwaltung, die militärischen Generäle und ihre Soldaten, die als Schwein, Hund und Ratte symbolisiert werden, um ein ausbeuterisches kapitalistisches System und militärische Gewalt zu kritisieren“, so Taring Padi.

In einem Interview mit der Zeit am 7. Juli betonten Vertreter des Kollektivs, ihr Thema sei „Klasse, nicht Rasse“. „Die Botschaft des Antimilitarismus und des Antikapitalismus war uns sehr wichtig“, erklärten sie weiter und betonten, dass sie gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung eintreten. Sie verwiesen auf den Volksaufstand, der die indonesische Diktatur letztlich zu Fall gebracht hat, „ein System, das Hunderttausende Menschen das Leben gekostet hat“. Bei den Massakern des indonesischen Militärs kamen Millionen Menschen, vor allem Mitglieder der Kommunistischen Partei und andere Linke, um.

Es gehe in dem Banner „auch um die Unterstützung der westlichen Demokratien für den Aufstieg der indonesischen Militärdiktatur unter Suharto im Kontext des Kalten Krieges“, so die Vertreter von Taring Padi weiter. Die beanstandeten Figuren sollten „auf die Unterstützung ausländischer Militärs und Geheimdienste für das Suharto-Regime ..., darunter neben Figuren anderer Geheimdienste auch die Unterstützung Israels“ hinweisen.

In der Tat ist dokumentiert, wie sehr der israelische Geheimdienst Mossad neben den US- und britischen Geheimdiensten an der Unterstützung der brutalen indonesischen Suharto-Diktatur beteiligt war. Der israelische Anwalt Eitay Mack schilderte im Herbst 2019 im Magazin „+972“ die Beziehungen, die Israel schon vor dem Sturz der parlamentarischen Sukarno-Regierung 1965 zu den Militärs und antikommunistischen Gruppen in Indonesien geknüpft hatte. Er zitiert Dokumente, die beweisen, dass der Mossad in die Massenmorde eingeweiht war.

„Obwohl der Mossad wusste, dass das Militärregime von Suharto Hunderttausende von Bürgern massakriert hatte, knüpfte er wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beziehungen zu den indonesischen Generälen“, so Eitay Mack, der zu den Befürwortern einer friedlichen Beziehung zwischen Israelis und Palästinensern gehört.

Die Kampagne gegen die Documenta unter dem Motto des Kampfs gegen Antisemitismus ist mehr als heuchlerisch.

Erstens ist es grotesk, wenn sich gerade jetzt Politiker aller Couleur das Schild „Kampf gegen Antisemitismus“ umhängen. Dieselben Politiker arbeiten seit Beginn des Ukraine-Kriegs mit ausgesprochenen rechten, profaschistischen Kräften wie dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk zusammen, der den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera und die antisemitische Mordorganisation OUN als Helden lobpreist, ja sogar den Holocaust verharmlost. Und tagaus tagein trommeln dieselben Politiker für schwere Waffenlieferungen in die Ukraine, obwohl es erwiesenermaßen in der ukrainischen Armee mittlerweile von faschistischen Elementen und rechten Söldnern aus dem Ausland nur so wimmelt.

Zweitens wird die Meinungsfreiheit, die allenthalben als Grundgerüst der Demokratie beschworen wird, in dem Moment außer Kraft gesetzt, wenn sich Opposition gegen Diktatur, Ausbeutung und Unterdrückung gegen die Verbrechen von Regimen richten, mit denen der deutsche Imperialismus zusammenarbeitet, so wie Israel, aber auch die sogenannten westlichen Demokratien der Nato-Staaten. Auch zur Suharto-Diktatur unterhielt Deutschland enge politische und wirtschaftliche Beziehungen. So wurde der Diktator 1970, keine fünf Jahre nach den blutigen Massakern, in Deutschland zu einem offiziellen Staatsbesuch empfangen. Helmut Kohl (CDU), der Deutschland von 1982 bis 1998 regierte, nannte Suharto seinen „lieben Freund“.

Wenn bei den künstlerischen Arbeiten einer Künstlergruppe aus Indonesien antijüdische Stereotype gezeigt werden, dann kann und soll man das kritisieren. Doch dies erfordert vor allem, gegen die Verwirrung anzukämpfen, die den zionistischen Staat Israel mit dem Judentum gleichsetzt. Die Verbrechen des Holocaust nutzt das israelische kapitalistische Regime, um eigene Verbrechen und Unterdrückung zu rechtfertigen. Diese betreffen nicht nur die Palästinenser, sondern auch die eigene Bevölkerung.

Die israelische Regierung vertritt nicht die demokratischen und sozialen Rechte der jüdischen Bevölkerung, die heute mit Ausbeutung, sozialer Ungleichheit und Polizeiunterdrückung zu kämpfen hat wie in jedem anderen kapitalistischen Land. Die zionistische Ideologie ist selbst eine rassistische, nationalistische Ideologie, die den Interessen einer superreichen kapitalistischen Elite in Israel und ihrer imperialistischen Verbündeten dient. Es ist kein Zufall, dass Israels Regierung gute Beziehungen zu rechtsextremen Kräften pflegt.

Drittens versuchen die Bundesregierung und die Bundestagsparteien, mit den Attacken auf die Documenta politische Zensur in der Kunst einzuführen. Der Staat maßt sich das Recht an zu entscheiden, welche Kunst erlaubt ist – oder wie es bereits die AfD formuliert hat, welche Kunst als „entstellt“ zu gelten hat. Die Documenta-Debatte muss daher als Warnung verstanden werden. Die gegenwärtige Kriegsentwicklung ist von zunehmenden Angriffen auf demokratische Rechte begleitet.

Hände weg von der Documenta – diese Forderung sollte jeder erheben, der für die Verteidigung demokratischer Rechte eintritt. Die Unterdrückung der Palästinenser, die auch von großen Teilen der jüdischen Bevölkerung Israels abgelehnt wird, kann letztlich nur im gemeinsamen Kampf der jüdischen und arabischen Arbeiter beendet werden. Die Verteidigung von jüdischen Bürgern gegen erneute Diskriminierungen erfordert genauso wie die Verteidigung der Rechte der Palästinenser letztlich eine Mobilisierung der Arbeiterklasse weltweit gegen das bankrotte kapitalistische System, das die Menschheit erneut mit Kriegen und Diktaturen bedroht.

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