Die Biden-Regierung hat einen Streik von mehr als 100.000 Bahnarbeitern blockiert und will mit Unterstützung der Gewerkschaften einen Ausverkaufsvertrag durchsetzen. Dieses direkte Eingreifen des Weißen Hauses wirft kritische politische Fragen für die Eisenbahner und die gesamte Arbeiterklasse auf.
US-Präsident Joe Biden betonte in dem Interview „60 Minutes“ am vergangenen Sonntag die Entschlossenheit des politischen Establishments, einen Streik zu verhindern. Zu den möglichen Auswirkungen eines landesweiten Bahnstreiks sagte Biden: „Wenn sie tatsächlich gestreikt hätten, wären die Lieferketten in diesem Land zum Stillstand gekommen, und wir hätten eine echte Wirtschaftskrise erlebt.“ Noch apokalyptischer äußerte sich Arbeitsminister Marty Walsh Ende letzter Woche gegenüber Politico: „Es ist wie mit Jesus Christus: Das Ausmaß dessen, was passiert wäre ... Wir werden es nie ganz verstehen, Gott sei Dank.“
Warum fürchten sich Biden und das politische Establishment so sehr vor einem landesweiten Bahnstreik? Die großen und unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen eines Streiks – für sie zählt hier weniger die Verknappung der Güter als ihre Gewinn- und Aktienverluste – würden die immense soziale Macht der Eisenbahner demonstrieren. Noch beängstigender für die herrschende Klasse ist jedoch die Möglichkeit, dass sich der Streik zu einer größeren Konfrontation mit der ganzen amerikanischen Arbeiterklasse entwickeln könnte. Seit dem Eisenbahnerstreik von 1877, der ersten großen Streikbewegung in der amerikanischen Geschichte, haben die Eisenbahner immer eine zentrale und entscheidende Rolle in der Entwicklung des Klassenkampfs gespielt.
Die herrschende Klasse weiß, dass sie ein Pulverfass geschaffen hat, indem sie in der Corona-Pandemie bereits mehr als eine Million Menschenleben dem Profit geopfert und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter auf den Stand des 19. Jahrhunderts zurückgeworfen hat. Die Herrschenden sind entschlossen, eine soziale Explosion zu verhindern oder zumindest so lange wie möglich hinauszuzögern.
In der vergangenen Woche hat der gesamte Staatsapparat seine Feindseligkeit gegenüber den Eisenbahnern unter Beweis gestellt. Bevor die Regierung die Vereinbarung verkündete, schlugen die Republikaner ein Gesetz vor, das per Kongressbeschluss die Empfehlungen der präsidialen Schlichtungsstelle Presidential Emergency Board (PEB) umgesetzt hätte. Dieses vom Weißen Haus eingesetzte Gremium ist bei den Bahnbeschäftigten verhasst.
Die Demokraten haben sich für einen anderen Weg entschieden. Biden nahm die Dienste der Eisenbahngewerkschaften in Anspruch, um einen Streik zu verhindern, und vermittelte am Donnerstagmorgen eine Einigung. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit um eine Anordnung des Weißen Hauses, die mit den Mechanismen der Gewerkschaftsbürokratie durchgesetzt wurde. Tatsächlich gaben Gewerkschaftsvertreter später zu, dass es keinen endgültigen Vertrag gab. Die einzige feste Zusage, die gemacht wurde, war der Streikverzicht seitens der Gewerkschaften.
Eine entscheidende Rolle spielte dabei Bernie Sanders, der Senator von Vermont, der schon 1991 für das Verbot des letzten Eisenbahnerstreiks stimmte, das eine breite Mehrheit beider Parteien erhielt. Am Mittwochabend blockierte Sanders den von den Republikanern eingebrachten Gesetzentwurf im Senat und ebnete damit den Weg für Bidens angekündigte Einigung. Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, räumte jedoch am nächsten Morgen ein, dass die Demokraten im Repräsentantenhaus eine Gesetzesvorlage für den Fall eines Streiks bereithielten.
Trotz der bürgerkriegsähnlichen Atmosphäre, die in Washington herrscht, sind sich beide Parteien in ihrem Widerstand gegen die Arbeiterklasse einig.
Die am Donnerstag vom Weißen Haus und den Gewerkschaften verkündete Vereinbarung erfüllt keine einzige Forderung der Eisenbahner. Sie ist der Höhepunkt monatelanger staatlicher Interventionen im Rahmen des arbeiterfeindlichen Eisenbahnarbeitsgesetzes. Darunter fiel auch die Ernennung des PEB, das die Grundlage für Bidens Vereinbarung mit den Gewerkschaften bildet.
Die Gewerkschaften haben in diesem Prozess von Anfang an eine zentrale Rolle gespielt. Sie forderten die Einrichtung des PEB und eine 60-tägige Bedenkzeit, nachdem sich 99 Prozent der Eisenbahner für einen Streik ausgesprochen hatten. Als die Arbeiter mit Empörung auf die Empfehlungen des PEB reagierten, das sich in allen Punkten auf die Seite der Unternehmen stellte, versuchten die Gewerkschaften, die Einheit der Arbeiter zu sabotieren. Sie unterzeichneten separate Vereinbarungen und spalteten die Lokführer und Zugbegleiter von anderen Berufsgruppen.
Die Biden-Administration verfolgt eine korporatistische Politik, die auf einem Bündnis des Gewerkschaftsapparats und seiner gut bezahlten Funktionäre mit der Regierung und den großen Konzernen beruht – gegen die Arbeiter. Die Gewerkschaften aller Branchen haben jahrzehntelang Tarifverträge zugunsten der Unternehmen durchgesetzt, während ihre eigenen Vermögen und die Gehälter ihrer Spitzenfunktionäre explodiert sind. Seit seinem Amtsantritt versucht Biden, das bestehende System stark auszubauen, um die immer rebellischere Arbeiterklasse zu unterdrücken.
Mit dem Bündnis verfolgt die Regierung zwei Ziele. Erstens hofft sie, mit Hilfe der Gewerkschaften die Arbeiter unter Kontrolle zu halten, um im Ausland Krieg führen zu können. Es ist bezeichnend, in welchem Kontext die Frage eines Bahnstreiks in dem „60 Minutes“-Interview aufkam. Die Diskussion drehte sich um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Stellvertreterkriegs der USA gegen Russland in der Ukraine, insbesondere auf den Öl- und Gaspreis.
Zweitens benutzt Biden die Gewerkschaften, um die Löhne zu drücken, indem Tarifverträge durchgesetzt werden, die weit unter der Inflationsrate liegen. Zahlen belegen, dass die Löhne im vergangenen Jahr für gewerkschaftlich organisierte Arbeiter viel langsamer gestiegen sind als für nicht organisierte Arbeiter. Zusätzlich versuchen sie, das Lohnwachstum dadurch zu unterlaufen, dass sie die Zinssätze in die Höhe treiben und damit die Arbeitslosigkeit ansteigen lassen. Nur wenige Tage nach der Bekanntgabe des Ausverkaufs bei der Bahn wird erwartet, dass die US-Notenbank Federal Reserve eine weitere Zinserhöhung um einen Dreiviertel-Prozentpunkt ankündigt.
Doch Biden und die herrschende Klasse haben ein Problem: Sowohl sie selbst als auch die Gewerkschaften sind unter Arbeitern verachtet und diskreditiert. Biden mag einen „Sieg“ verkünden, weil er einen Streik abgewendet hat, aber genau wie bei seiner Erklärung, dass die Pandemie „vorbei“ sei, freut er sich zu früh. Die Arbeiter werden das letzte Wort haben.
Das Weiße Haus hatte gehofft, dass die Bekanntgabe der Einigung Verwirrung und Demoralisierung unter den Arbeitern stiften würde. In Wirklichkeit hat sie aber vor allem Unmut provoziert und erneut die Notwendigkeit gezeigt, einen Aufstand der Basis gegen den Gewerkschaftsapparat und das gesamte korporatistische Bündnis zu organisieren.
Während der gesamten Auseinandersetzung kämpften die Arbeiter dafür, sich unabhängig von der Bürokratie der Bahngewerkschaften zu organisieren. Dieser Kampf fand einen starken Ausdruck, als letzte Woche 500 Eisenbahner an einem Treffen des Aktionskomitees der Bahnarbeiter teilnahmen. Mit großer Mehrheit verabschiedeten sie eine Resolution, die den Gewerkschaften und der Regierung untersagt, einen Vertrag durchzusetzen, der nicht ihren Forderungen entspricht.
Seit der Ankündigung des Abkommens hat das Aktionskomitee seine Arbeit ausgeweitet. In einer neuen Erklärung ruft es die Arbeiter auf, sich zu organisieren, um die Resolution des Treffens durchzusetzen und das Abkommen mit der Regierung zu widerrufen.
Der Kampf der Eisenbahner ist Teil einer breiteren Bewegung der Arbeiter in den USA und auf der ganzen Welt, die eine Kontrolle der Betriebe durch die Basis fordern. Will Lehman, ein Autoarbeiter, der für den Vorsitz der Gewerkschaft United Auto Workers kandidiert und sich für die Abschaffung der Bürokratie einsetzt, nimmt diesen Donnerstag an einer Kandidatendebatte teil, bei der er dem amtierenden UAW-Präsidenten und engen Biden-Verbündeten Ray Curry gegenüberstehen wird.
Aus dieser Erfahrung ergeben sich zwei grundlegende Schlussfolgerungen:
Erstens zeigt die Rolle der Gewerkschaften, die die Konzernforderungen durchsetzen und den Kampf der Arbeiter sabotieren, wie dringend der Aufbau der Aktionskomitees ist. Die Ausweitung des Netzwerks von Aktionskomitees wird die Macht der Arbeiter in den Betrieben stärken und ihnen einen Rahmen geben, um sich den Machenschaften des Gewerkschaftsapparats zu widersetzen und ihre Kämpfe mit anderen Arbeitern in den USA und weltweit zu vereinen.
Zweitens offenbart das Eingreifen des Weißen Hauses und des gesamten politischen Establishments, um den Arbeitern den Ausverkauf aufzuzwingen, den Klassencharakter des Staates. Er ist keine neutrale Instanz, sondern ein Instrument der herrschenden Klasse.
Zur Verteidigung ihrer Interessen müssen die Eisenbahner deshalb einen politischen Kampf gegen die Demokraten und Republikaner führen. Die beiden Parteien der herrschenden Klasse verteidigen das kapitalistische System, das auf der Ausbeutung der großen Mehrheit der Bevölkerung, der Arbeiterklasse, beruht, um die Profitinteressen der Unternehmens- und Finanzoligarchie zu befriedigen.
Das mächtige Wiederaufleben des Klassenkampfs unter den Bahnarbeitern und in allen Teilen der Arbeiterklasse in den USA und international muss mit dem Aufbau einer revolutionären und sozialistischen Führung in der Arbeiterklasse verbunden sein.