Omikron-Subvariante XBB.1.5 „Krake“ breitet sich in den USA aus

Seit mehr als einem Jahr sind in der „Buchstabensuppe“ der Omikron-Subvarianten in kurzer Zeit zahlreiche Unterlinien entstanden und verschwunden, die immer neue Infektionswellen ausgelöst haben. XBB.1.5, die neueste Version der besorgniserregenden Variante, hat bei Gesundheitsbehörden, Epidemiologen und in der internationalen Presse große Aufmerksamkeit erregt.

Eine Pflegerin führt vor dem Gesundheitsamt in Salt Lake County einen Covid-19-Test durch, Dezember 2022 [AP Photo/Rick Bowmer]

Die Leiterin der Abteilung für Infektionskrankheiten bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Dr. Maria Van Kerkhove erklärte letzte Woche auf einer Pressekonferenz, XBB.1.5 sei die „ansteckendste Omikron-Subvariante, die bislang entdeckt wurde“.

Sie fügte hinzu: „Wir rechnen mit weiteren Infektionswellen weltweit, aber da unsere Gegenmaßnahmen weiterhin funktionieren, muss das nicht zwangsläufig auch weitere Todeswellen bedeuten.“ Mit dieser optimistischen Einschätzung verschweigt sie, dass XBB.1.5 zu weiteren Infektionen und Reinfektionen führen wird, die die Gesundheitssysteme überlasten und zu vermeidbaren Todesfällen führen werden.

Dass die nationalen und internationalen Gesundheitsbehörden Sars-CoV-2 ungehindert wüten lassen, bedeutet außerdem, dass das Virus weiterhin in einer Weise mutieren wird, die es ihm ermöglicht, die derzeitig in der Bevölkerung aufgebaute Immunität zu umgehen, und sich möglicherweise zu einer noch pathogeneren Form entwickeln kann, die tödlicher und virulenter sein wird.

Dr. Ryan Gregory, ein kanadischer Biologieprofessor, hat XBB.1.5 den Spitznamen „Krake“ gegeben (nach dem Seeungeheuer aus der nordischen Mythologie), um die immer komplexeren Bezeichnungen von Omikron-Subvarianten zu unterscheiden. Am 28. Dezember 2022 erklärte er auf Twitter: „XBB.1.5 verdient mit seinem rekordbrechenden Wachstumsvorteil, seiner hohen Immunflucht und ACE2-Bindung wirklich einen Spitznamen.“

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XBB und XBB.1, die jüngsten Vorfahren von XBB.1.5, wurden erstmals Mitte August in Indien identifiziert. Sie breiteten sich schnell über verschiedene Regionen Asiens aus, wurden in Indien vorherrschend und lösten im Stadtstaat Singapur trotz einer hohen Impfquote eine massive Infektionswelle aus. Die neueste Subvariante wurde in fast zwei Dutzend Ländern nachgewiesen, unter anderem in den USA, wo sie Anfang Oktober erstmals identifiziert wurde.

Während BA.5 im Aussterben begriffen ist und BQ.1.1 (mit 34,4 Prozent am 7. Januar 2023) rückläufig ist, verdrängt XBB.1.5 schnell alle anderen Subvarianten in den USA und macht mittlerweile 27,6 Prozent aller nachgewiesenen Linien aus. (Hierbei handelt es sich um eine nach unten revidierte Schätzung, letzte Woche waren es 40 Prozent.)

Ende November überschritt XBB.1.5 den Schwellenwert von einem Prozent aller Subvarianten, der die Centers for Disease Prevention and Control (CDC) verpflichtet, die wöchentliche Prävalenz als Subvariante von Interesse zu melden. Doch die Seuchenschutzbehörde hat ihr Vorhandensein erst bestätigt, nachdem ein Insider der CDC die Zahlen dem Epidemiologen Dr. Eric Feigl-Ding zugespielt hatte. Dieser wiederum äußerte auf Twitter am 29. Dezember seine Bedenken. Es war nicht das erste Mal, dass die CDC solche Informationen zurückgehalten und erst nach ihrem Bekanntwerden bestätigt hat, um Schadensbegrenzung zu betreiben.

Der Covid-Koordinator des Weißen Hauses, Dr. Ashish Jha, gab letzte Woche in den sozialen Medien zu, der sprunghafte Anstieg der Fallzahlen, die XBB.1.5 zugeschrieben werden, sei „verblüffend“. Dieser Begriff soll Überraschung vermitteln, um damit der Verantwortung für die plötzliche Zunahme dieser Subvariante zu entgehen, welche die Zahl der hospitalisierten älteren Menschen im Nordosten der USA rapide ansteigen ließ. Doch angesichts der immensen globalen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, ist diese Wortwahl unentschuldbar für jeden echten Verfechter öffentlicher Gesundheit.

Dr. Jha schrieb: „Grundsätzlich ansteckender? Vielleicht. Es bindet sich enger an den menschlichen ACE-Rezeptor.“ Er gab zu, dass sich dies auf die Ansteckungsgefahr auswirken könnte, verharmloste die Gefahr dann aber schnell und empfahl die bivalenten Covid-Booster-Impfungen als „den besten Schutz gegen Infektion und schwere Erkrankung“. Derzeit haben jedoch laut CDC nur 34 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung eine Booster-Impfung erhalten, und nur 15,4 Prozent der Über-Fünfjährigen die aktualisierte bivalente Impfung, die im September eingeführt wurde.

Der Covid-19-Koordinator des Weißen Hauses, Ashish Jha, bei der täglichen Pressekonferenz im Weißen Haus am 11. Oktober 2022 [AP Photo/Susan Walsh]

In seiner üblichen lässigen und oberflächlichen Art erklärte Dr. Jha: „Also, mache ich mir Sorgen wegen XBB.1.5? Ja. Bin ich besorgt, weil dies ein großer Rückschlag ist? Nein. Wir können zusammenarbeiten, um das Virus in den Griff zu bekommen. Und wenn wir alle unseren Teil beitragen, können wir die Auswirkungen auf unser Leben verringern.“ Die oft benutzten Formulierungen „zusammenarbeiten“ und „alle unseren Teil beitragen“ erinnern eher an leere Wahlkampfversprechen. Mit anderen Worten: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.“

Gleichzeitig ist in den gesamten USA ein erheblicher Anstieg der Corona-Infektionen zu verzeichnen, die sich auf den Nordosten konzentrieren. Hier wird XBB.1.5 in 70 Prozent der sequenzierten Varianten gefunden. Der Nordosten hat bisher immer die Vorreiterrolle für den Rest des Landes gespielt, und bald werden auch in allen anderen Regionen die Covid-Zahlen steigen.

Die Zahl der Krankenhauseinweisungen von über 70-Jährigen ist landesweit auf täglich 16 pro 100.000 Einwohner und damit auf den dritthöchsten Stand während der Pandemie gestiegen. Insgesamt wurden 50.000 Menschen mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert, was einen Anstieg um 17 Prozent innerhalb von 14 Tagen bedeutet. Die Zahl der Todesfälle ist um 20 Prozent auf 514 pro Tag gestiegen; 90 Prozent davon sind älter als 65 Jahre.

Akiko Iwasaki, Professorin für Immunologie und Biologie an der Yale School of Medicine, die sich intensiv mit der Immunologie des Coronavirus befasst, darüber geschrieben hat und an der Entwicklung von Impfstoffen arbeitet, welche die Schleimhaut sterilisieren, warnte vor kurzem in einem Tweet: „Bitte schützen Sie sich selbst und andere, indem Sie N95-Masken tragen. Ich mache mir wirklich große Sorgen um die Welle von Long-Covid-Erkrankungen, die auf diese Infektionswelle folgt. Ich mache mir Sorgen, weil XBB.1.5 möglicherweise eine größere Fähigkeit hat, Zelltypen zu infizieren, die niedrigere Konzentrationen von ACE2 abgeben. Das wird den Tropismus verschärfen und möglicherweise die Beständigkeit von langlebigen Zelltypen [Neuronen] erhöhen.“

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XBB.1.5 ist ein rekombinanter Stamm, der durch die Fusion zweier BA.2-Varianten, BJ.1 (BA.2.10.1.) und BM.1.1.1 (BA.2.75.3.1.1.1), entstanden ist. Die britisch-amerikanische Molekularepidemiologin Dr. Emma Hodcroft vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern erklärte, dass die beiden Varianten irgendwann die gleiche Person infiziert und genetisches Material neu kombiniert und ausgetauscht haben. So ist XBB entstanden.

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Dr. Eric Topol, der Gründer und Leiter des Scripps Research Translational Institute in Kalifornien, schrieb am 23. Dezember 2022: „Jetzt scheint sich aus XBB im Bundesstaat New York XBB.1.5 entwickelt zu haben, mit neuen Mutationen. Es wurde erstmals [in einem Tweet vom 15. Dezember 2022] von JP Weiland vor einigen Wochen erwähnt, zeitgleich mit einem starken Anstieg der dortigen Krankenhauseinweisungen.“

Dr. Topols Erläuterung zu XBB.1.5 verdeutlicht die Bedeutung der F486P-Mutation, die der „Krake“ einen Vorteil gegenüber ihren Vorgängerlinien verschafft. Sars-CoV-2 spielt geduldig mit den genetischen Mutationen, mit denen es die derzeitige Immunität aushebeln kann, und ist auf ein wichtiges Protein gestoßen – wie ein Dieb, der mit den Schlüsseln eines Schlosses spielt, um einen Tresor zu knacken.

Führende und hochrangige Autoren der Abteilung für Mikrobiologie und Immunologie an der New Yorker Columbia University schrieben darüber einen Artikel mit dem Titel „Beunruhigende Antikörperresistenz der zunehmenden Sars-Cov-2-Subvarianten BQ und XBB“, der in der Zeitschrift Cell veröffentlicht wurde.

Dort heißt es: „Unsere Daten zeigen, dass diese neuen Subvarianten kaum anfällig für die Neutralisierung durch Seren von Geimpften mit oder ohne vorherige Infektion sind, auch nicht von Personen, die vor kurzem mit den neuen bivalenten mRNA-Impfstoffen geboostert wurden. Das Ausmaß der hier gemessenen Antigendrift oder -verschiebung ist vergleichbar mit dem Antigensprung, den die ursprüngliche Omikron-Variante gegenüber ihren Vorgängern vor einem Jahr gemacht hat.“ Für den Laien verständlich ausgedrückt: XBB.1.5 ist praktisch eine völlig neue Variante.

In den USA breitet sich erneut eine Covid-19-Winterwelle aus. Über den Schweregrad von XBB.1.5 liegen zwar keine Daten vor, aber er wird sich sehr bald erweisen. Aufgrund der Durchseuchungspolitik der Regierungen und führender Gesundheitsbehörden weltweit wird die Weltbevölkerung einem Experiment ausgesetzt, bei dem die Massenmutation des Sars-CoV-2-Virus zunehmend die Gefahr einer neuen und schlimmeren Welle der Pandemie birgt.

Die vollständige Öffnung Chinas nach der Beendigung der äußerst erfolgreichen Null-Covid-Politik, durch die 1,4 Milliarden Menschen dem Coronavirus ausgesetzt werden, verschärft die Krise noch weiter.

Zusätzlich zur Abkehr von praktisch allen Eindämmungsmaßnahmen sind die Überwachung und die Zahl der Sequenzierungen neuer Varianten durch die Länder zu Beginn des Jahres 2023 um 90 Prozent zurückgegangen und gehen weiter zurück. Damit läuft die Welt mit verbundenen Augen ins vierte Jahr der Pandemie.

Der Economist hat diese Entwicklungen genau untersucht und geschrieben: „Der Abbau der Test-, Sequenzierungs- und Überwachungskapazitäten, die in den letzten drei Jahren eingerichtet wurden, birgt das Risiko, dass die Welt nicht auf die nächste Pandemie vorbereitet ist. Die Hoffnung, dass Politiker Pandemien endlich so sehen, wie sie die Landesverteidigung sehen, als etwas, wofür dauerhaft eine Gefahrenabwehr vorhanden sein muss, scheint zu schwinden.“

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