Ägyptisches Gericht verurteilt 38 Teilnehmer der Proteste von 2019 zu lebenslangen Haftstrafen

Nach einem Schauprozess hat ein ägyptisches Gericht 38 Personen zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie im September 2019 an Protesten gegen die Regierung teilgenommen hatten.

23 Personen, darunter der Geschäftsmann und Schauspieler Mohamed Ali, der im selbst gewählten Exil lebt und mit seinen Posts in den sozialen Netzwerken zur Auslösung der Proteste beigetragen hatte, wurde in Abwesenheit der Prozess gemacht. Weitere 44 Personen, darunter 22 Jugendliche, erhielten Haftstrafen zwischen fünf und 15 Jahren. 42 Personen wurden freigesprochen.

Proteste in Kairo am 21. September 2019. Dutzende Demonstrationsteilnehmer forderten den Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Abdel-Fattah al-Sisi [AP Photo/Nariman El-Mofty]

An ihnen sollte ein Exempel statuieren werden, damit niemand es wagt, Widerstand gegen die brutale Diktatur von General Abdel-Fattah al-Sisi zu leisten. Seit al-Sisi im Juli 2013 die gewählte Regierung von Präsident Mohammed Mursi durch einen blutigen Militärputsch gestürzt hat, übt er eine Terrorherrschaft aus und verteidigt die ägyptische Finanzelite und die Militärführung, die einen Großteil der Wirtschaft kontrollieren.

Die Verurteilten wurden in einem Massenprozess gegen 104 Personen von der ersten Terrorismusabteilung des Kairoer Strafgerichts unter den drakonischen Antiterrorgesetzen verurteilt. Die Anklagepunkte umfassten das Posten von YouTube-Videos, in denen sie zu Protesten aufriefen, die Verbreitung dieser Videos auf Facebook und WhatsApp, Beeinträchtigung des Verkehrs und Gewalt gegen Staatsbeamte, u.a. gegen die Polizei.

Die landesweiten Demonstrationen wurden durch eine Reihe von Videos von Mohamed Ali ausgelöst, der in Spanien lebt. Darin wirft er dem ägyptischen Diktator al-Sisi vor, Steuergelder zu unterschlagen und davon extravagante Paläste für sich und seine Familie zu bauen, während ein Großteil der 104 Millionen Einwohner Ägyptens in bitterer Armut lebt. Die Demonstranten riefen Parolen gegen al-Sisi und prangerten die Armut und soziale Ungleichheit an.

Laut Menschenrechtsorganisationen wurden in der ersten Woche der Proteste mehr als 2.000 Menschen verhaftet. Seit al-Sisis blutigem Putsch wurden noch nie so viele Menschen innerhalb einer Woche festgenommen, die meisten davon willkürlich und ohne Haftbefehl. Die Opfer wurden oft gefoltert, bis sie falsche Geständnisse ablegten.

Das Regime selbst gab zu, dass es 1.000 Menschen verhaftet und verhört hat. Die meisten waren unter 25 Jahre alt, es wurden aber auch bekannte Anwälte verhaftet, die andere Inhaftierte, Journalisten, Professoren und politische Persönlichkeiten, verteidigt hatten, von denen sich einige ausdrücklich von den Protesten distanzierten. Ihnen wurde die Verbreitung falscher Information und Unterstützung „terroristischer“ Organisationen vorgeworfen.

Sie gehören jetzt zu den schätzungsweise 65.000 politischen Gefangenen, die laut Human Rights First in al-Sisis Gefängnissen schmachten. Die Organisation beschreibt diese Gefängnisse als „Orte der Demütigung, Folter und Misshandlung“, die „ideale Rekrutierungszentren für gewalttätige Extremisten“ seien, darunter des IS, und „zur Radikalisierung wütender Häftlinge beitragen, die sich an den Behörden rächen wollen“. Mehrere Tausend wurden zum Tode verurteilt und viele bereits hingerichtet.

Diese staatliche Unterdrückung genießt die stillschweigende Unterstützung der USA und der europäischen imperialistischen Mächte. Die westlichen Mainstreammedien haben kaum über die Haftstrafen berichtet.

Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi (link) beim Handschlag mit US-Präsident Biden beim GCC+3-Gipfel im saudi-arabischen Dschidda am 16. Juli 2022. Im Hintergrund US-Außenminister Antony Blinken. (Foto: Weißes Haus)

Zeitgleich zu dem Prozess setzt Ägypten die Forderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) um, den Wechselkurs seiner Währung freizugeben. Die Folge war ein dramatischer Wertverlust des ägyptischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar, der sich verheerend auf den Lebensstandard auswirkt. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, weitere 30 Prozent knapp darüber.

Der Wert des Pfunds hat sich im letzten Jahr von 16 Pfund für einen US-Dollar auf 32 Pfund halbiert, nachdem Ägypten den Wechselkurs seiner Währung nicht mehr an den US-Dollar bindet und zu einem flexiblen Währungssystem übergegangen ist. Dadurch ist das Pfund der Gnade internationaler Devisenspekulanten ausgeliefert. Der Schwarzmarktkurs, von dem viele abhängig sind, ist sogar noch niedriger. Dieser Schritt war eine von vielen Bedingungen, die der IWF im Oktober als Gegenleistung für einen Kredit in Höhe von drei Milliarden US-Dollar gefordert hat. Das ist der vierte Kredit in sechs Jahren, der bei weitem nicht ausreicht, um die auf 17 bis 70 Milliarden US-Dollar geschätzte Finanzierungslücke zu schließen.

Der jüngste Kredit soll den schwerwiegenden Devisenmangel lindern, der dazu geführt hat, dass Importeure keinen Zugang zu Devisen haben, um die Waren im Wert von 9,5 Milliarden Dollar zu bezahlen, die sich in den Häfen auftürmen. Der IWF hatte zuvor eine Reihe von Wirtschaftsreformen gefordert, darunter die Abschaffung der Subventionen für Benzin, Wasser und Brot sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Öffnung der staatlichen Auftragsvergabe für die Privatwirtschaft und die Umverteilung von noch mehr Vermögen von unten nach oben. Da sich jedoch ein Großteil des staatlichen Eigentums in den Händen von Unternehmen befindet, die vom Militär oder ehemaligen Militärkommandeuren kontrolliert werden, ist al-Sisi ausgewichen und hat die gesamte Last der Arbeiterklasse aufgebürdet.

Die ägyptische Wirtschaft wurde durch die Pandemie schwer in Mitleidenschaft gezogen, da die Tourismusbranche zum Erliegen kam, die für 12 Prozent des BIP, 15 Prozent der Deviseneinnahmen und 10 Prozent der Arbeitsplätze sorgt. Zudem hat die Rückkehr von Arbeitern aus den Golfstaaten und der Verlust ihrer Überweisungen die Zahl der Arbeitslosen in die Höhe getrieben.

Die Situation der Arbeiter hat sich durch den Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine noch weiter verschlimmert. Er führte zum Abfluss von mehr als 20 Milliarden Dollar Spekulativkapital aus dem Land, weil Investoren nach höheren Zinssätzen Ausschau halten. Das ist mehr als die Hälfte des in Ägypten investierten Geldes. Die Devisenbestände sind weiterhin extrem niedrig, obwohl die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Saudi-Arabien und Katar versucht haben, die ägyptische Wirtschaft mit Krediten in Höhe von 13 Milliarden Dollar und 3,3 Milliarden Dollar als Gegenleistung für staatliche Vermögenswerte zu unterstützen. Außerdem hat die Zentralbank Importe beschränkt, die Zinssätze auf ganze 16,25 Prozent angehoben, um das Pfund zu stützen, und den Abzug von Devisen begrenzt.

Die Preise für Energie, Getreide und Düngemittel sind in die Höhe geschossen, und Ägypten ist der weltweit größte Importeur von Weizen. Die Lebensmittelpreise sind um 40 Prozent gestiegen; die günstigsten Lebensmittel haben sich preislich sogar verdoppelt und verdreifacht. Der Verbraucherpreisindex erreichte im Dezember 24 Prozent. Letztes Jahr stieg die Konsumfinanzierung laut der staatlichen Finanzaufsichtsbehörde im zweiten Quartal um sieben Prozent auf 374 Millionen Dollar.

Laut Schätzungen der Weltbank wird die ägyptische Wirtschaft bis Juni 2023 nur um 4,8 Prozent wachsen, obwohl sie von 2020 bis 2021 um 6,6 Prozent gewachsen ist. Etwa 54 Prozent des Staatshaushalts wird für die Bezahlung von Schuldzinsen verwendet, 13 Prozent für Löhne und 12 Prozent für Subventionen, deren Kosten mit der Geldentwertung und der Inflation steigen, und andere Sozialleistungen, sodass es kaum Spielraum für andere Ausgaben gibt.

Premierminister Mostafa Madbouly hat die Minister angewiesen, ihre Etats zu kürzen und alle „neuen Projekte, die eine eindeutige Dollar-Komponente haben,“ zu stoppen. In der nächsten Zeit werden Schuldentilgungen von 158 Milliarden Dollar fällig, und Ägypten steht kurz davor, seine Auslandsschulden nicht mehr bedienen zu können. Als zweitgrößter Schuldner des IWF nach Argentinien ist Kairo zunehmend von den Ölmonarchen in Saudi-Arabien, den VAE und Katar abhängig geworden.

Unter diesen Bedingungen sitzt al-Sisi trotz seiner Polizeistaatsmaßnahmen auf einem Vulkan. Das Regime rechnet mit einem Wiederaufleben des revolutionären Aufstands der Massen, der im Jahr 2011 begann und 2019 erneut aufflammte – nicht nur in Ägypten, sondern im ganzen Nahen Osten.

Es entstehen die Bedingungen für Arbeiter, sich im Kampf für den Sturz der arabischen bürgerlichen Regime und mittelalterlichen Ölmonarchien sowie des zionistischen Staats Israel zu vereinen und die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens zu gründen. Doch damals wie heute ist die entscheidende Aufgabe, eine revolutionäre Führung aufzubauen, um die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu gewährleisten. Dies erfordert einen unerbittlichen Kampf gegen alle Kräfte, die die Arbeiterklasse dem einen oder anderen Flügel der ägyptischen herrschenden Elite unterordnen wollen, und ihre Vereinigung mit den Arbeitern in der Region und weltweit.

Das ist die Perspektive der permanenten Revolution, für die das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) kämpft. In Ägypten und dem gesamten Nahen Osten müssen Sektionen des IKVI aufgebaut werden, um die politische Führung zu geben, die für diesen Kampf notwendig ist.

Die World Socialist Web Site macht ihre Leser auf ihre arabische Ausgabe https://www.wsws.org/ar aufmerksam, die ein umfassendes Archiv mit Artikeln über die Lehren aus der ägyptischen Revolution 2011 enthält.

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