73. Berlinale

„Die Fabelmans“, Steven Spielbergs Familiendrama

Am Dienstag wurde der Regisseur Steven Spielberg auf der Berlinale mit dem goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgzeichnet. Gleichzeitig feierte Spielbergs Filmbiografie „Die Fabelmans“ Deutschlandpremiere. Am 9. März kommt der Film in die deutschen Kinos. Aus diesem Anlass publizieren wir hier die Filmrezession, die David Walsh vor einem Monat dazu verfasste. Walsh leitet die Kultur-Redaktion der World Socialist Web Site.

Steven Spielberg erhält den Goldenen Ehrenbären auf der diesjährigen Berlinale [AP Photo/Joel C Ryan/Invision]

„Die Fabelmans“ ist ein Drama, das in den 1950er und 1960er Jahren spielt. Steven Spielberg hat es produziert, inszeniert und mitverfasst; der andere Autor (und Co-Produzent) ist Tony Kushner. Die Inspiration für den Film lieferte Spielbergs eigenes frühes Leben.

Zu Beginn des Films, im Jahr 1952, leben die Fabelmans, eine jüdische Familie aus der Mittelschicht, in einem Vorort von New Jersey. Burt (Paul Dano) und Mitzi (Michelle Williams) nehmen ihren sechsjährigen Sohn Sammy (Mateo Zoryan) mit ins Kino. Der Film „The Greatest Show on Earth“ („Die größte Schau der Welt“, 1952) von Cecil B. DeMille begeistert und ängstigt ihn zugleich. Mit der 8-mm-Kamera seines Vaters und mit Hilfe einer Modelleisenbahn inszeniert und filmt er die Szene des Zugunglücks. Seine Mutter versteht und sympathisiert mit seinem Interesse (ja sogar seiner Besessenheit), aber sein Vater betrachtet es jetzt (und in den kommenden Jahren) bloß als ein „Hobby“.

Paul Dano, Mateo Zoryan und Michelle Williams in „Die Fabelmans“

Die Fabelmans ziehen bald nach Phoenix, Arizona, da die Arbeit des Vaters es verlangt. Burt ist (genau wie Spielbergs Vater) an der Entwicklung von Computertechnik beteiligt. Bennie Loewy, Burts Geschäftspartner und Freund der Familie, zieht ebenfalls um. Was Mitzi, die Mutter betrifft, so hatte ihr die eigene Mutter aus Gründen der (persönlichen oder wirtschaftlichen) „Sicherheit“ eine Karriere als Konzertpianistin ausgeredet; nun drücken sich ihre künstlerischen Ambitionen auf andere Weise aus. (Mitzi wird später behaupten: „In dieser Familie konkurriert die Kunst mit der Wissenschaft. Sammy spielt in meinem Team. Er kommt nach mir, aber er hat echtes Talent.“)

Sammy (jetzt gespielt von Gabriel LaBelle) beginnt, mit Freunden und anderen Pfadfindern technisch immer anspruchsvollere Filme zu drehen. Außerdem filmt Sammy einen schicksalhaften Campingausflug, den die Familie zusammen mit Bennie unternimmt.

Mitzis Onkel Boris (Judd Hirsch) taucht überraschend auf. Boris, der weggelaufen ist, um beim Zirkus mitzumachen, sagt, er verstehe Sammys Besessenheit mit dem Filmemachen, und spricht die Konflikte an, die sich unweigerlich daraus ergeben werden. „Familie, Kunst ... das reißt dich entzwei ... Oh, du liebst diese Menschen, nicht wahr? Deine Schwestern, deine Mama, deinen Papa. Außer ... außer dem hier. Das [d.h. das Filmemachen] liebst du, glaube ich, noch etwas mehr.“

Bei der Bearbeitung des Filmmaterials vom Campingausflug stellt Sammy fest, dass er Mitzi und Bennie dabei gefilmt hat, dass sie mehr als Freundschaft füreinander empfinden. Wochenlang ist er gegen seine Mutter abweisend, bis er ihr schließlich den „belastenden“ Film zeigt und verspricht, nichts zu verraten.

Die Familie zieht nach Saratoga im Norden Kaliforniens, wiederum wegen Burts Computerarbeit. Bennie bleibt in Phoenix zurück. Zwei antisemitische Rüpel, Logan (Sam Rechner) und Chad (Oakes Fegley), schikanieren Sammy an seiner neuen Schule und machen ihm das Leben schwer.

Nachdem die Familie in ein neues, recht großzügiges Haus gezogen ist, verkünden Mitzi und Burt ihren verzweifelten Kindern, dass sie sich scheiden lassen wollen. Mitzi ist deprimiert und vermisst Bennie zu sehr. (Sie wird schließlich zurück nach Arizona ziehen.) Sammy stürzt sich ins Filmemachen und findet Trost darin.

In der Zwischenzeit lernt er ein lebhaftes, fromm katholisches Mädchen namens Monica (Chloe East) kennen. Zwischen den beiden kommt es zu einer Reihe von amüsanten Szenen. Wie Sammy erfährt, hat Monica eine Bilderwand in ihrem Schlafzimmer („ein Schrein“), der verschiedenen Teenager-Idolen der Zeit - und Jesus (!) gewidmet ist. Angesichts seiner Überraschung erklärt ihm Monica: „Jesus ist sexy“, und dass er wahrscheinlich „aussah wie du: ein hübscher jüdischer Junge“. Ohne viel Aufhebens umarmt sie ihn.

Im Quasi-Epilog des Films verfolgt Sammy seinen Ehrgeiz, Filmemacher in Hollywood zu werden. Er trifft auf einen mürrischen John Ford (gespielt von Filmemacher David Lynch), der ihm einzigartige Kenntnisse vermittelt.

Chloe East und Gabriel LaBelle in 'Die Fabelmans'

„Die Fabelmans“ ist ein liebevolles und liebenswertes Werk. Die Schauspieler machen ihre Sache gut. Die Episode, in der Sammy die Gefühle seiner Mutter für einen anderen Mann entdeckt, weil er die beiden versehentlich gefilmt hat, ist rührend und scheint auf Realität zu beruhen, ebenso wie ihre Folgen. Spielbergs Eltern, beide inzwischen verstorben, ließen sich Mitte der 1960er Jahre scheiden.

Spielberg ist ein enorm erfolgreicher Filmregisseur. Seit Mitte der 1970er Jahre ist er der wichtigste bekannte Unterhalter und Chronist der amerikanischen Gesellschaft, im Guten wie im Schlechten. Er hat eindeutig ein „populäres“ Händchen. Mit Filmen wie „Der weiße Hai“, „Unheimliche Begegnung der dritten Art“, „E.T.“ und der „Indiana Jones“- und „Jurassic Park“-Reihe hat er ein großes Publikum in die Kinos gelockt. Ganz ohne Zweifel ist vieles dabei künstlerisch gelungen und wahrheitsgetreu, und Filme wie „Schindlers Liste“, „München“ und „Lincoln“ werden Bestand haben.

Vor zehn Jahren kommentierte die WSWS, dass Spielberg eine komplexe Figur sei, deren Karriere große Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft und des kulturellen Lebens widerspiegle. Einerseits, so argumentierten wir, „ist er offensichtlich ein wirklich begabter – und menschlicher – Filmemacher mit einem bemerkenswerten technischen Verständnis und einem intuitiven Gefühl für das Medium und seine enormen Möglichkeiten. Andererseits wurde seine Arbeit durch das allgemein stagnierende Klima, in dem er und andere gearbeitet haben, deutlich geschwächt, was sich in der Selbstgefälligkeit, dem Konformismus und der Oberflächlichkeit allzu vieler seiner Filme widerspiegelt.“

„Spielbergs schwächste Seite“, bemerkten wir, „drückt sich in seiner Rolle als bedeutender Verfechter und Spendensammler für die Demokratische Partei und als unübersehbarer Unterstützer von Bill Clinton und Barack Obama aus.“

Diese Widersprüche zeigen sich auch in „Die Fabelmans“, einem sehr persönlichen Bericht über die Nachkriegsjahre in Amerika, der fast alles außerhalb der unmittelbaren familiären Umstände ausklammert. Zwar hat Spielberg zum Beispiel einmal einem Interviewer erzählt, dass seine Eltern „die ganze Zeit über den Holocaust sprachen ... also musste ich immer daran denken“. Sein Vater hatte wohl zwischen 16 und 20 Verwandte durch die Nazi-Verbrechen in der Ukraine und in Polen verloren. Dennoch wird in dem neuen Film nicht einmal der Schatten dieser Tragödien aus der Mitte des Jahrhunderts angedeutet.

Es gibt auch keinen direkten oder indirekten Hinweis auf den Kalten Krieg und den drohenden Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion, auf die Wahl John F. Kennedys und seine spätere Ermordung, auf die Bürgerrechtsbewegung oder auf andere Phänomene, die die Nachkriegsgenerationen so stark beeinflusst haben.

Es besteht kein Grund zur Annahme, dass Spielberg und Kushner diese Ereignisse absichtlich unterdrückt haben könnten, als sie ihr Drama und ihre Figuren erschufen und ihre psychologische Verfasstheit entwickelten, auch nicht, was den Holocaust angeht. All das mag ihnen einfach nicht in den Sinn gekommen sein. Aber genau das ist bis zu einem gewissen Grad der Punkt.

Paul Dano, Paul Chepikian und Gabriel LaBelle in "Die Fabelmans"

Im Hinblick auf diesen neuen Film sagte Spielberg einem Reporterder Zeitschrift Hollywood, dass sein Leben mit Mutter und Vater „mich eine Lektion gelehrt hat, die dieser Film hoffentlich ein wenig vermittelt“. Er fuhr fort und fragte: „Wann fängt ein junger Mensch in einer Familie an, seine Eltern als menschliche Wesen zu sehen? In meinem Fall habe ich aufgrund dessen, was zwischen meinem 7. und 18. Lebensjahr passiert ist, angefangen, meine Mutter und meinen Vater nicht als Eltern, sondern als echte Menschen zu schätzen.“ Das ist eine Lektion, aber wirklich eine kleine.

Die Darstellung von Personen, die sich fast vollständig nach innen wenden (oder dies versuchen) und aus dem Familienleben eine Festung machen, sei es aus verständlicher Angst vor der Außenwelt oder wegen ihres gestiegenen Wohlbefindens oder einer Kombination von beiden Faktoren, mag – zumindest oberflächlich betrachtet – der Realität entsprechen.

Zweifellos hatte der enorme Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit in den USA auf bestimmte soziale Schichten eine solche Auswirkung. Dazu trugen die „Aufwärtsmobilität“ und der wachsende Wohlstand berufstätiger Mittelschichten, sowie die Atmosphäre des moralisch-politischen Konformismus und der kulturellen Stagnation bei. Die Vorstellung wurde ermutigt, man könne abseits oder außerhalb der schmerzhaften, ausbeuterischen Bedingungen der großen Mehrheit existieren. Als könne man sich „nach vorne bewegen“, von den historischen Traumata weg, ohne zurück zu blicken. Diese Schichten dachten, ihr Desinteresse an den großen politischen Problemen bedeute, dass sie gegen die Auswirkungen dieser Probleme immun seien. Und für eine gewisse Zeit, in den Nachkriegsjahren, waren sie das auch.

Wenn es jedoch darum geht, bedeutende Kunst zu schaffen, können solche objektiven, vielleicht gar unvermeidlichen Tatsachen auf einen selbst zurückfallen. Bedeutende Kunst entsteht nicht dadurch, dass man sich von den größeren Realitäten abschneidet oder abgrenzt. Dies gilt auch dann, wenn die Ursache für diese Abgrenzung außerhalb der unmittelbaren Kontrolle des Künstlers liegt, nämlich in bestimmten historischen und ideologischen Schwierigkeiten.

Wie wir ebenfalls auf der WSWS in Bezug auf Spielberg feststellten, „ist Genie nicht etwas, das einfach gewollt ist oder das als Ergebnis einer Kombination bestimmter künstlerischer und technischer Fähigkeiten entsteht. Es ist auch ein Produkt der historischen Bedingungen. (Anatoli Lunatscharski, der bolschewistische Bildungskommissar nach der Russischen Revolution, witzelte einmal: 'Man kann durchaus als Genie geboren werden – aber das Wichtigste ist, zur richtigen Zeit geboren zu werden.')“

Es mag genügen, sich zu fragen, ob es vorstellbar sei, dass ein John Ford, ein Jean Renoir, ein Orson Welles, ein Akira Kurosawa, ein Luchino Visconti ein letztlich derart selbstgefälliges Werk wie „Die Fabelmans“ gemacht haben könnte?

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