Brief eines syrischen Lesers über die katastrophalen Auswirkungen des Erdbebens

Das Erdbeben hat im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei eine fürchterliche humanitäre Katastrophe ausgelöst ... Die Regierung hatte sich nicht auf eine Katastrophe dieser Größenordnung vorbereitet, obwohl es einen Ausschuss für Krisenbewältigung und theoretische Pläne für die staatliche Reaktion auf Katastrophen und die Evakuierung öffentlicher Gebäude gab. Bereits vor der Katastrophe litt das Land unter den Folgen des verheerenden Krieges, den Washington geplant und finanziert hatte, um die bestehende Regierung zu stürzen und durch ein abhängiges Regime zu ersetzen, das sich den Befehlen des Weißen Hauses unterwirft und die Politik des Internationalen Währungsfonds umsetzt …

Bergung eines Erdbebenopfers im syrischen Hama [Photo: Sana.Sy]

Diese Situation hat zu einer echten Krisensituation geführt, da Millionen von Syrern aus ihren Häusern und Dörfern fliehen mussten. Einige haben das Land verlassen, viele weitere sind vor bewaffneten Auseinandersetzungen in andere Städte und Regionen in Syrien geflohen ...

Außerdem ist die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte stark zurückgegangen, da mehr als 300.000 Menschen während des Krieges getötet und viele weitere tausende verwundet wurden. Viele sind zu Invaliden geworden ... Das Gesundheitswesen gehört zu den am stärksten vom Krieg betroffenen Bereichen, da tausende Ärzte und Pflegekräfte in anderen Teilen der Welt Arbeitsplätze gefunden haben ... Krankenhäuser und Gesundheitszentren wurden beschädigt, das Notfallsystem leidet unter Personalmangel und Mangel an Ersatzteilen für Krankenwagen. Vom Mangel an wichtigem medizinischem Gerät wie MRT- und CT-Bildgebungsgeräten ganz zu schweigen.

Was die medizinischen Pläne für die Reaktion auf Katastrophen angeht (und das ist ein Bereich, in dem ich vor vielen Jahren als Angestellter im öffentlichen Gesundheitswesen gearbeitet habe) ... so ist eine der Voraussetzungen für die Entwicklung effektiver Pläne das Vorhandensein einer Datenbank, die Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Pflege- und sonstiges Gesundheitspersonal umfasst. Dies ist angesichts des Verlustes an Arbeitskräften und der Schwierigkeit, die Daten zu aktualisieren, fast unmöglich geworden.

In Syrien wird das öffentliche Gesundheitswesen, zumindest theoretisch, vom Gesundheitsministerium kontrolliert, das den Großteil der Gesundheitszentren, Apotheken und Krankenhäuser sowie das Notfallsystem verwaltet. Diese Bereiche haben zwar jeweils Pläne, um auf Katastrophen zu reagieren, aber sie koordinieren diese nicht miteinander.

Ich möchte die armselige Reaktion des öffentlichen Gesundheitswesens auf die Erdbebenkatastrophe nicht rechtfertigen. Das System war auf so etwas niemals vorbereitet, obwohl sich das Land in einem Gebiet befindet, in dem es in der Geschichte immer wieder verheerende Erdbeben gegeben hat ...

Die Rettung von Verschütteten aus den Trümmern ist vor allem Aufgabe des Zivilschutzes, der in Syrien dem Verteidigungsministerium untersteht. Er war jedoch nie mit einer Katastrophe von diesem Ausmaß konfrontiert. Hinzu kommt, dass die Treibstoffkrise und der stundenlange Stromausfall die Kommunikation gestört haben. Viele Geräte konnten ihre Batterien nicht aufladen und funktionierten nicht ...

Das Erdbeben war ein Schock, und es war von Anfang an klar, dass die staatliche Reaktion verzögert erfolgen würde, weil die hiesige Mentalität davon ausgeht, auf Anweisungen von irgendwem irgendwoher zu warten ... Deshalb haben Leute, die weder die nötige Erfahrung noch die nötige Ausrüstung hatten, versucht, die Verschütteten aus den Trümmern zu retten ...

Andererseits war die Reaktion der Bevölkerung wunderbar. Zehntausende, die ihre Häuser verloren hatten, wurden in öffentlichen Gebäuden wie Kirchen und Moscheen sowie in Privathäusern untergebracht ... Viele große Baufirmen haben schweres Gerät für die Beseitigung der Trümmer zur Verfügung gestellt, aber der Zugang zu den betroffenen Gebieten stieß auf große Probleme. Die schweren Baufahrzeuge konnten nicht den ganzen Tag eingesetzt werden, weil die Fahrer nicht länger als acht Stunden am Tag arbeiten durften. Sie durften die Fahrzeuge auch niemand anderem überlassen, weil sie in den Augen der Besitzer für sie verantwortlich sind.

Das Problem des Wohnraums

In Aleppo sind mehr als 50 Gebäude eingestürzt und viele hunderte wurden beschädigt. Mehr als 100.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen, und nur 30.000 wurden in staatlichen Gebäuden untergebracht ... Und das in einer Stadt, in der 60 Prozent der Gebäude schon während des mehr als zehnjährigen Krieges zerstört wurden ... Weniger als einen Monat vor dem Erdbeben kamen in Aleppo beim Einsturz eines Gebäudes sechzehn Menschen ums Leben, weil sich der Besitzer des Gebäudes weder an die Sicherheitsregeln noch an die Bauvorschriften gehalten hatte. Die staatliche Untätigkeit bei der Überwachung von Bautätigkeiten geht mit der Gier der Bauunternehmer einher, die nicht zögern, ohne Rücksicht auf die Sicherheitsbedingungen zu den schlechtesten Baumaterialien zu greifen ...

In der Küstenstadt Jableh sind viele neue Gebäude eingestürzt, aber an dem antiken römischen Theater ist kein einziger Stein abgebrochen ... Die Bewohner der Dörfer um Jableh, die aus der Stadt vertrieben wurden, zeigten Solidarität mit den Betroffenen, aber so kann es nicht weitergehen. Die Einwohner des Umlandes beklagen sich jetzt bereits über die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen. Die meisten von ihnen können nicht einmal die minimalen Lebensgrundlagen ihrer eigenen Familien finanzieren.

Einige hielten es für eine Lösung, Wohnungen zu mieten, aber Spekulanten haben die Krise ausgenutzt und die Mieten vervielfacht. In Jableh sind die Mieten von 150.000 Pfund pro Monat vor der Katastrophe (was bereits höher ist als das monatliche Einkommen von sehr vielen Syrern) auf eine Million Pfund pro Monat angestiegen ...

In der ersten Woche nach der Katastrophe sind die Lebensmittelpreise um mehr als 20 Prozent gestiegen ... Leider hat die Regierung außerdem beschlossen, die Preise für Diesel für andere Zwecke als zum Heizen ebenfalls zu erhöhen, was einen weiteren Anstieg der Lebensmittelpreise nach sich zog.

Allgemeine Armut

Allgemein herrscht im Land große Armut. Aufgrund des Wertverlustes der Währung leben 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, und große Teile sind auf Zahlungen von Familienmitgliedern von außerhalb Syriens angewiesen ... Ich habe noch eine Zeit erlebt, in der ein Dollar vier syrische Pfund kostete ... Danach hat die Landeswährung so stark an Wert verloren, dass 2010 ein Dollar 45 syrische Pfund gekostet hat. Und heute zahlt man fast 7.000 Pfund für einen Dollar.

Vor der Katastrophe hat die Regierung beschlossen, den Wert der von außen ins Land überwiesenen Dollars an den Marktpreis zu binden, nachdem sie jahrelang einen Festpreis von weniger als 2.000 Pfund aufrechterhalten hatte. Dies hat zur Entstehung eines Schwarzmarktes für Devisenspekulationen geführt.

Die wirtschaftliche Lage hat zu einer erdrückenden Krise geführt. Laut der Zeitung Qasioun, die von einer stalinistischen Gruppe veröffentlicht wird, beliefen sich die Mindestkosten für Nahrungsmittel auf 1.441 Prozent des Mindestlohns! Dazu kommen noch die Belastungen für Mieten, Verkehr und Gesundheitsversorgung. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen leiden fast vierzehn Millionen Syrer unter Ernährungsunsicherheit.

Die Reaktion der Regierung

Die Reaktion der Regierung war willkürlich und es fehlte an einer klaren Vision, da keine Daten über die verfügbaren Ressourcen und das Ausmaß der Katastrophe vorlagen. Die Syrer haben sich jedoch daran gewöhnt, sich nicht auf die Regierung zu verlassen, seit diese ihre soziale Verantwortung aufgegeben hat. Stattdessen verfolgte sie eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die denjenigen, die über großen Reichtum und Einfluss im bürokratischen Apparat verfügen, die Möglichkeit gab, auf Kosten der Verarmung großer Teile des Volkes Milliarden von Dollar zu scheffeln.

Andererseits reagierten viele Menschen sehr positiv auf die Katastrophe. Es wurden zahlreiche Initiativen ins Leben gerufen, um Geld und Sachspenden zu sammeln und in die betroffenen Gebiete und zu den Flüchtlingen zu liefern.

Die Kosten für den Wiederaufbau der durch das Erdbeben zerstörten Gebäude werden auf 30 Milliarden Dollar geschätzt. Eines der wichtigsten Probleme, mit denen das Land in der nächsten Zeit konfrontiert ist, besteht in der Bereitstellung sicherer und angemessener Unterkünfte für diejenigen, die durch die Katastrophe obdachlos geworden sind. Die Regierung hat die Idee ins Gespräch gebracht, den Betroffenen Darlehen zu geben, aber deren Wert wird nicht einmal zum Wiederaufbau eines einzigen Zimmers ausreichen, selbst wenn die Grundstücke kostenlos zur Verfügung gestellt würden.

In den letzten Jahren wurden die staatlichen Bauämter lahm gelegt, die vor mehr als 40 Jahren noch in der Lage waren, moderne Infrastruktur wie Wohnanlagen, Brücken, Tunnel und Dämme zu bauen. Heute gibt es im ganzen Land keine Baufirma mehr, die in der Lage wäre, Wohnungsbauprojekte von dem Ausmaß zu realisieren, wie es nötig wäre, um alle obdachlos Gewordenen unterzubringen. Andererseits gibt es mehrere Projekte, die den Bau von tausenden Wohneinheiten vorsehen, aber sie sind angesichts des Krieges und der Belagerung ins Stocken geraten, und es sind im Wesentlichen private Projekte auf privatem Land.

Die Bevölkerung ist tief enttäuscht über das Versäumnis westlicher Länder, Syrien ernsthaft zu helfen. Es kann nicht mit dem Vorwand abgetan werden, dass dies die Wiederherstellung der Beziehungen zu einer Regierung bedeuten würde, für deren Sturz die USA und ihre Partner Milliarden von Dollar ausgegeben haben. Es stimmt zwar, dass einige arabische Regierungen die Initiative ergriffen haben, um etwas Hilfe zu leisten, aber der Betrag war gering und nicht vergleichbar mit dem, was dieselben Regierungen der Türkei zur Verfügung stellen. Andererseits gab es Initiativen aus der Bevölkerung vieler arabischer Staaten, die Geld, Nahrungsmittel und Kleidung gespendet haben.

Kurz gesagt, die Lage in Syrien ist katastrophal. Wir brauchen eine weltweite Kampagne mit dem Ziel, die Wirtschaftssanktionen aufzuheben und die Einmischung ausländischer Mächte in die inneren Angelegenheiten Syriens zu beenden.

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