Amoklauf in Hamburg: Symptom einer brutalisierten Gesellschaft

Durch tödliche Schüsse starben am Donnerstagabend in Hamburg in den Räumen der Glaubensgemeinschaft Jehovas Zeugen acht Menschen. Bei den Opfern handelt es sich um vier Männer und zwei Frauen zwischen 33 und 60 Jahren, sowie das ungeborene Kind einer weiteren Frau. Außerdem befindet sich unter den Toten der mutmaßliche Mörder, der sich den Ermittlungsbehörden zufolge im Anschluss an die Tat „selbst gerichtet“ haben soll. Acht weitere Personen wurden verletzt, vier davon schwer. Mehrere mussten umgehend ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Nach dem Amoklauf am 9. März in Hamburg werden die Leichen aus dem Gebäude der Zeugen Jehovas getragen und in Leichenwagen verladen. [AP Photo/Markus Schreiber ]

Die Religionsgemeinschaft zeigte sich in einer Stellungnahme auf ihrer Webseite am Freitag „tief betroffen von der schrecklichen Amoktat auf ihre Glaubensangehörigen“: „Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen. Die Seelsorger der örtlichen Gemeinde tun ihr Bestes, ihnen in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten.“ Den jüngsten Meldungen zufolge kämpfen vier Verwundete nach wie vor um ihr Leben. Das Glaubensbekenntnis der Jehova-Gemeinde lehnt Bluttransfusionen ab.

Während nach wie vor viele Fragen ungeklärt sind, steht außer Frage, dass es sich um einen der schlimmsten Mordanschläge der jüngeren Vergangenheit in Deutschland handelt. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz gaben die Hamburger Innenbehörde, die ermittelnde Staatsanwaltschaft und Sprecher der Hamburger Polizei am Freitagmittag den folgenden Tathergang an.

Philipp F. (35) habe – bewaffnet mit einer halbautomatischen Handfeuerwaffe und hunderten Schuss Munition – kurz vor 21 Uhr den Parkplatz des Gebäudes betreten, in dem der Gottesdienst stattfand. Dort habe er zunächst zehn Schüsse auf den Wagen einer Zeugin abgegeben, die sich leicht verletzt retten und einen ersten Notruf abgeben konnte. Anschließend habe F. durch die Fensterscheiben hindurch das Feuer auf die 36 im Saal versammelten Gläubigen eröffnet und sich „unter permanentem Schusswaffengebrauch“ Zugang zum Inneren des Gebäudes verschafft. Insgesamt gab der mutmaßliche Täter 135 Schüsse auf seine Opfer ab – ein Massaker.

Auf dem Video eines Anwohners ist zu sehen, dass eine schwarz gekleidete Person durch eine kaputte Scheibe hindurch immer wieder von außen in das Gebäude schießt, bis sie schließlich in das Haus einsteigt und darin weiter schießt. Übereinstimmenden Aussagen von Polizei und unbeteiligten Zeugen zufolge sei eine Person bei Ankunft der Einsatzkräfte in das erste Obergeschoss geflohen. Während die Polizisten das Erdgeschoss sicherten und nach oben vordrangen, sei ein letzter weiterer Schuss zu vernehmen gewesen, woraufhin der mutmaßliche Täter und die Tatwaffe aufgefunden wurden.

Einsatzleiter Matthias Tresp erklärte gegenüber der Presse, es sei einem „glücklichen Zufall“ zu verdanken, dass sich Angehörige einer Spezialeinheit der Hamburger Bereitschaftspolizei in der Nähe aufgehalten hätten. Insgesamt seien bei dem Polizeieinsatz fast 1000 Beamte im Einsatz gewesen, darunter 52 Bundespolizisten und Spezialeinsatzkräfte aus Schleswig-Holstein. Später wurden in F.s Wohnung 15 weitere Magazine und 200 zusätzliche Schuss Munition gefunden und mehrere Datenträger und Schriftsätze sichergestellt.

In den letzten Tagen wurden immer mehr Informationen über den mutmaßlichen Täter bekannt. Offenbar hatte F. psychische Probleme und einen starken Hass auf die Glaubensgemeinschaft entwickelt, der er bis vor eineinhalb Jahren selbst angehört hatte. Laut dem sozialdemokratischen Hamburger Innensenator Andy Grote habe F. die Zeugen „freiwillig, aber nicht im Guten“ verlassen. Medienberichte, die F.s Hintergrund beleuchten, zeichnen das Bild einer nach außen unauffälligen, aber auch von Selbstverherrlichung, Untergangsstimmung und ideologischem Wahn geprägten Persönlichkeit.

Auf seiner Website präsentierte sich F. als „multikulturell“ und „bekennender Europäer“ und bot seine Dienste international als „business consultant“ an – für einen Tagessatz von 250.000 Euro. Das horrende Honorar rechtfertigte er damit, dass seine „Arbeit“ den Kunden „eine Hebelwirkung oder einen Mehrwert von mindestens 2,5 Millionen Euro bringen sollte“. Gleichzeitig propagierte F. eine krude, religiöse und mit rechtsextremen Elementen versetzte Weltanschauung.

Ende 2022 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Dimensions“. Das Pamphlet, das F. auf seiner Website als „Standardwerk ... für alle Wissenschaften rund um Humanität, Public Relation, Politik, Wirtschaft und Ethik“ anpries, wurde mittlerweile von Amazon und anderen Online-Plattformen gelöscht. Medienberichten zufolge enthält es auch antisemitische Botschaften und bezeichnet den Nazi-Führer Adolf Hitler als „menschliches Werkzeug von Jesus Christus“ und die Judenverfolgung als eine „Handlung des Himmels“. Hitler habe seine Idee eines „Tausendjährigen Reichs“ von Jesus erhalten und für ihn umsetzen wollen.

Während unklar ist, ob und in welchem Ausmaß F.s religiöse Verherrlichung Hitlers den Amoklauf motiviert hat – die Zeugen Jehovas wurden von den Nationalsozialisten brutal verfolgt –, war der Täter den Behörden bekannt. Im Dezember hatte ihm die Hamburger Waffenbehörde eine Waffenbesitzkarte ausgestellt. Laut Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer war im Januar ein anonymes Schreiben bei der Polizei eingegangen, das die Behörden aufforderte, „das Verhalten und die waffenrechtliche Erlaubnis von F. zu überprüfen“.

Im Februar wurde F. daraufhin zwar von der Waffenbehörde aufgesucht. Doch obwohl die Beamten vor Ort feststellten, dass ein Teil der Munition nicht ordnungsgemäß verwahrt war, folgte lediglich eine mündliche Verwarnung. Laut Meyer hätten sich in öffentlich zugänglichen Quellen keine Hinweise auf eine extremistische Gesinnung F.s ergeben. Diese Behauptung ist offensichtlich falsch und wirft ernste Fragen über die Rolle der Sicherheitsbehörden auf, die gerade in Deutschland von rechtsextremen Kräften durchsetzt sind.

Wenn führende Regierungspolitiker wie Innenministerin Nancy Faeser (SPD) als Reaktion auf das Massaker nun vor allem eine Verschärfung des Waffenrechts fordern, soll dies auch von den tieferen Ursachen der Gewalt ablenken. Amokläufe häufen sich nicht nur in den USA – wo in diesem Jahr bereits mehr als 70 Menschen bei Massenschießereien umkamen –, sondern auch in Deutschland. Nach den rechtsextremen Terroranschlägen von München (Juli 2016), Halle (Oktober 2019) und Hanau (Februar 2020), die sich gezielt gegen Migranten und Juden richteten, ereigneten sich laut Wikipedia seit Anfang 2022 allein an Bildungseinrichtungen vier Amokläufe.

  • Im Januar 2022 erschoss ein 18-jähriger Student in einem Hörsaal der Universität Heidelberg eine junge Frau und verletzte drei weitere Menschen.
  • Im Mai 2022 schoss ein 21-jähriger ehemaliger Schüler des Lloyd-Gymnasiums in Bremerhaven mit einer Armbrust auf eine Schulsekretärin, die dadurch lebensgefährlich verletzt wurde.
  • Im Juni 2022 tötete ein 34-Jähriger in Hamm bei einem Amoklauf an der Hochschule Hamm-Lippstadt eine 30-jährige Lehrbeauftragte und verletzte zwei 22-jährige Studentinnen sowie einen 22-jährigen Studenten.
  • Im Januar 2023 wurde an einem Berufskolleg in Ibbenbüren eine 55-jährige Lehrerin erstochen. Der mutmaßliche Täter, ein 17-jähriger Schüler, stellt sich selbst der Polizei.

Die Zunahme dieser massenhaften Gewalt lässt sich nicht einfach aus individuellen Motiven und Problemen erklären. Sie hat tiefere gesellschaftliche Ursachen, die von Politik und Medien systematisch ausgeblendet werden. Vor welchem sozialen und politischen Hintergrund fand der Amoklauf von Hamburg statt? Dies sind nur einige der offensichtlichsten Aspekte:

In der Ukraine führen die Nato-Mächte einen mörderischen Stellvertreterkrieg gegen die Atommacht Russland. Obwohl täglich hunderte russische und ukrainische Soldaten sterben und der Konflikt die Gefahr eines vernichtenden dritten Weltkriegs heraufbeschwört, lehnt die Bundesregierung eine Verhandlungslösung ab. Die herrschende Klasse nutzt den Krieg als Chance, sich nach ihren fürchterlichen Verbrechen in zwei Weltkriegen wieder zu einer militärischen Großmacht aufzuschwingen.

Die Kriegsoffensive geht mit einer ohrenbetäubenden Kriegspropaganda einher. Todbringende Waffen wie Raketen und Panzer werden zynisch als Friedensbringer verherrlicht und der Nationalsozialismus von medial hofierten Professoren verharmlost („Hitler war nicht grausam“). Während dem Militär quasi über Nacht 100 Milliarden in den Rachen geschmissen wurden, werden die Ausgaben für Bildung, Soziales und Gesundheit massiv gekürzt. Massenentlassungen sind an der Tagesordnung; Armut, Stress, Unsicherheit und Angst prägen das Leben von Millionen.

Hinzu kommt die Erfahrung der Corona-Pandemie, der allein in Deutschland mehr als 170.000 Menschen zum Opfer fielen. Systematisch wurde in den letzten drei Jahren das menschliche Leben dem Profit untergeordnet. Führende Politiker führten eine faschistoide Debatte darüber, wie viele Leben den Interessen der Wirtschaft geopfert werden sollen und erklärten, die Würde des Menschen beinhalte nicht notwendigerweise das Recht auf Leben und sei damit vom Grundgesetz auch nicht „absolut“ geschützt.

Mit anderen Worten: vom Standpunkt der herrschenden Klasse, ist das menschliche Leben nichts wert. Amokläufe wie der von Hamburg sind letztlich Symptome eines zutiefst kranken und menschenfeindlichen Systems, das grundlegend geändert werden muss. Wie die World Socialist Web Site in ihrer Neujahrsperspektive 2023 schreibt:

„Mit ihrer Befürwortung der ‚Herdenimmunität‘ als legitime Antwort auf die Pandemie und ihrer Bereitschaft, in der Konfrontation mit Russland einen Atomkrieg zu riskieren, legen die imperialistischen Mächte eine mörderische Verachtung für das Leben der großen Masse der Weltbevölkerung an den Tag. Nur die Intervention der Arbeiterklasse, bewaffnet mit einem internationalen sozialistischen Programm, kann der Menschheit einen Ausweg aus der vom Kapitalismus geschaffenen Katastrophe bieten.”

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