Am Sonntag, den 30. April, veranstalten das Internationale Komitee der Vierten Internationale, die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees, die International Youth and Students for Social Equality und die World Socialist Web Site eine weltweite Online-Kundgebung zur Feier des 1. Mai 2023.
Zwei Prozesse dominieren die diesjährigen Feierlichkeiten für die internationale Einheit der Arbeiterklasse: der Krieg in der Ukraine, der sich zu einem globalen Flächenbrand entwickelt, und ein weltweites Wiederaufleben des Klassenkampfes. Diese beiden Prozesse sind auf sehr grundsätzlicher Ebene miteinander verbunden. Die gleichen wirtschaftlichen, geopolitischen und sozialen Widersprüche, die die imperialistischen herrschenden Eliten auf den Weg des Krieges treiben, bringen auch den objektiven Impuls für die Radikalisierung der Arbeiterklasse und den Ausbruch revolutionärer Kämpfe.
Der Krieg in der Ukraine ist in sein zweites Jahr gegangen. Die verlässlichsten Berichte über die Opferzahlen rechnen mit über 150.000 toten ukrainischen Soldaten und zwischen 50.000 und 100.000 Opfern auf russischer Seite. Die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten sind über diese schreckliche Zahl von Toten keineswegs entsetzt und denken nicht daran, zu einem Waffenstillstand aufzurufen. Stattdessen liefern sie Waffen in die Ukraine. Da die Regierung Biden das Prestige der USA und der Nato an einen Sieg in diesem Stellvertreterkrieg geknüpft hat, sind die politischen Folgen eines Scheiterns ihrer militärischen und geopolitischen Ziele für sie nicht hinnehmbar. Die Logik des Krieges treibt sie zu einer immer waghalsigeren Politik.
Die Leitmedien, die den Krieg befürworten, können ihre Begeisterung über die Aussicht auf eine bevorstehende Frühlingsoffensive der Ukraine nicht zügeln. Wenn sie stattfindet, wird sie zu einer Masse an Toten führen, die an die Schrecken der Schlachten an der Somme und in Verdun während des Ersten Weltkriegs erinnern. Nachdem sie als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie eine Politik verfolgt haben, die zum Tod von Millionen Menschen geführt hat, sind die kapitalistischen Regierungen und die Propagandaorgane in den Medien an die tödlichen Konsequenzen bereits gewöhnt, die ihre Kriegsziele im Konflikt mit Russland mit sich bringen. Infolge der Unterordnung der gesellschaftlichen Bedürfnisse unter Profitzwänge und persönliche Bereicherung ist das Massensterben im Kapitalismus zu einer regelmäßigen Erscheinung geworden. Die Erdbeben in der Türkei und Syrien, bei denen mutmaßlich mehr als 150.000 Menschen ums Leben gekommen sind, gehören zu den unzähligen vermeidbaren Katastrophen, die das Leben der Gegenwart prägen.
Um die Trommel für den Krieg zu rühren, hält die Regierung Biden an der absurden Geschichte vom „unprovozierten Krieg“ fest. Die Öffentlichkeit soll glauben, dass alles seinen Anfang nahm, als Wladimir Putin eines Morgens aufwachte und ohne ersichtlichen Grund verkündete: „In der Ukraine soll es Krieg geben.“ Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass Kriege das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von wirtschaftlichen, geopolitischen und sozialen Prozessen sind. Mehr als 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 versuchen Historiker noch immer, die verschiedenen Ebenen jener Ursachen zu verstehen, die zu diesem Konflikt führten.
Der deutsche Historiker Jörn Leonhard schreibt dazu:
Seit Thukydides kennt die Geschichtsschreibung die Unterscheidung von strukturellen Ursachen und punktuellen Anlässen von Kriegen, wissen Historiker, wie notwendig der ideologiekritische Blick hinter die offiziellen Kriegsrechtfertigungen ist. Dieses Feld lässt sich wie bei der Suche nach Ursachen von Revolutionen ausdifferenzieren; so gelangt man zu lang-, mittel- und kurzfristigen Ursachenbündeln, man unterscheidet unmittelbar bedingende Faktoren, beschleunigende Katalysatoren und Zufälle. Gerade für den Ausbruch von Kriegen spielt bis heute zudem die Frage nach äußeren und inneren Faktoren eine wesentliche Rolle: Inwiefern lag der Ausbruch eines Krieges im System der internationalen Beziehungen oder in der inneren Verfasstheit der Staaten und Gesellschaften begründet?[1]
Die Erzählung vom „unprovozierten Krieg“ erklärt nichts über die historischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursprünge des Krieges. Sie lenkt die Aufmerksamkeit ab von jeglicher Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem Krieg der USA und der Nato in der Ukraine und 1) den vorangegangenen 30 Jahren, in denen die Vereinigten Staaten praktisch ununterbrochen Krieg geführt haben – im Irak, in Serbien, Afghanistan, Somalia, Libyen und Syrien; 2) der kontinuierlichen Osterweiterung der Nato seit der Auflösung der Sowjetunion 1991; 3) dem eskalierenden geopolitischen Konflikt mit China, das vom amerikanischen Imperialismus als gefährliche Bedrohung für seine eigene Vormachtstellung in der Welt angesehen wird; 4) dem anhaltenden Niedergang der globalen wirtschaftlichen Position der Vereinigten Staaten, der seinen deutlichsten Ausdruck darin findet, dass die Vormachtstellung des Dollars als globale Leitwährung infrage gestellt wird; 5) der Serie von wirtschaftlichen Erschütterungen, die verzweifelte Rettungsaktionen erforderlich machten, um den völligen Zusammenbruch des US-Finanzsystems zu verhindern; 6) dem offensichtlichen Zusammenbruch des amerikanischen politischen Systems, der in dem Versuch des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump vom 6. Januar 2021, das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom November 2020 zu kippen, zum Ausdruck kam; 7) die zunehmende innenpolitische Instabilität einer Gesellschaft, die durch ein schwindelerregendes Maß an Ungleichheit gezeichnet ist. Sie wird durch die Auswirkungen der Pandemie und eine neue Inflationsspirale, die eine Radikalisierung der amerikanischen Arbeiterklasse vorantreibt, noch verstärkt.
Die schlagendste Widerlegung des Narrativs vom „unprovozierten Krieg“ findet sich in den zahllosen Erklärungen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), die auf der World Socialist Web Site veröffentlicht worden sind. Darin wurden im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Widersprüche analysiert, die die verzweifelten Bemühungen der US-amerikanischen Wirtschafts- und Finanzeliten angetrieben haben, durch Krieg einen Ausweg aus unlösbaren Krisen zu finden.
Vor zwanzig Jahren, nur eine Woche nachdem die Bush-Regierung im März 2003 die Invasion im Irak begonnen hatte, erklärte die Socialist Equality Party, die amerikanische Sektion des IKVI: „Die Strategie des amerikanischen Imperialismus besteht darin, mit Hilfe seiner gewaltigen Militärmacht die unanfechtbare globale Hegemonie der USA zu errichten und sich sämtliche Ressourcen der Weltwirtschaft unterzuordnen.“[2]
Angesichts seiner zentralen Rolle im Weltkapitalismus hatte die Krise des amerikanischen Imperialismus das gesamte politische und wirtschaftliche System destabilisiert. Dessen Politik war, wie die Socialist Equality Party (SEP) erklärte, die Antwort auf eine Krise, die im Grunde einen globalen, nicht einfach einen nationalen Charakter hatte. Die brutal aggressive Politik der aufeinanderfolgenden amerikanischen Regierungen war ein
Versuch, den welthistorischen Widerspruch zwischen dem globalen Charakter der Produktivkräfte und dem archaischen Nationalstaatensystem unter imperialistischen Vorzeichen zu lösen.
Die von Amerika vertretene Lösung dieses Problems sieht vor, die eigene Nation über alle anderen zu stellen und die Entscheidungsgewalt über das Schicksal der ganzen Welt zu beanspruchen – insbesondere über die Verteilung der weltwirtschaftlichen Ressourcen, nachdem sich die USA den Löwenanteil gesichert haben. Doch diese imperialistische Lösung für die tieferen Widersprüche des Weltkapitalismus, die bereits 1914 völlig reaktionär war, ist mit der Zeit nicht besser geworden. Schon allein aufgrund des Ausmaßes der wirtschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert nimmt sich dieses imperialistische Projekt als reiner Wahnsinn aus. Jeglicher Versuch, einem einzelnen Nationalstaat die Vormachtstellung zu sichern, ist unvereinbar mit dem hohen Maß an internationaler wirtschaftlicher Verflechtung. Der zutiefst reaktionäre Charakter eines solchen Vorhabens drückt sich in den barbarischen Methoden aus, die zu seiner Verwirklichung erforderlich sind.[3]
Die imperialistischen Mächte Europas, die in der Nato mit den Vereinigten Staaten formell verbündet sind, sehen sich aufgrund des aktuellen globalen Kräfteverhältnisses zwar gezwungen, dem von Washington vorgegebenen Szenario zu folgen, doch sind sie bei der Konfrontation mit Russland keineswegs unbeteiligte Zuschauer. Alle alten imperialistischen Mächte Europas – sturmerprobte Veteranen zweier Weltkriege im letzten Jahrhundert, die grausame Verbrechen in ihren ehemaligen Kolonien verübt und in ihren eigenen Ländern mit Faschismus und Völkermord experimentiert haben – werden von denselben politischen und wirtschaftlichen Leiden heimgesucht, die die Vereinigten Staaten befallen, verfügen aber über noch weniger finanzielle Ressourcen, um mit ihnen fertig zu werden.
Einerseits sind sie nicht in der Lage, ihre imperialistischen Ambitionen unabhängig voneinander zu verfolgen. Doch weder Großbritannien noch Frankreich, Italien und Deutschland – noch die „kleineren Mächte“ wie Schweden, Norwegen, Dänemark, Spanien, Belgien und der Schweiz – sind bereit, zu akzeptieren, dass sie von der Neuverteilung des Territoriums und der natürlichen Ressourcen sowie vom Zugang zu finanziellen Vorteilen ausgeschlossen werden, die sie sich von der militärischen Niederlage Russlands und der Zerstückelung des Landes in zahlreiche Teilstaaten versprechen.
Während das Nato-Bündnis regelmäßig erklärt, dass es geschlossen zusammenstehe, ist es selbst durch tiefe innere Konflikten gespalten, die in naher Zukunft plötzlich in einem bewaffneten Zusammenstoß ausbrechen könnten. Zu den wenig diskutierten Folgen des Krieges gehört das Wiederaufflammen der territorialen Streitigkeiten, die sich aus der Regelung nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben haben. Die herrschende Klasse in Deutschland hat nicht vergessen, dass die polnische Stadt Wrocław einst Breslau hieß und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die sechstgrößte Stadt des Deutschen Reiches war.
Und auch die polnische Regierung, die einen mehr und mehr nationalistischen und faschistoiden Charakter annimmt, hat nicht vergessen, dass die Stadt Lviv in der Westukraine vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als drittgrößte Stadt Polens unter dem Namen Lwów bekannt war.
Zwischen den Zeilen des Narrativs vom „unprovozierten Krieg“ wird die Tatsache, dass der Ukrainekrieg Teil eines viel größeren globalen Konflikts ist, der auf den Dritten Weltkrieg hinführt, immer offener eingeräumt. Die Frage ist nicht so sehr, ob es zu einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China kommen wird, sondern vielmehr, wann er beginnen und wo der Konflikt ausbrechen wird und ob er den Einsatz von taktischen und/oder strategischen Atomwaffen beinhalten wird.
Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer schrieb kürzlich, dass es in diesem Krieg „um die zukünftige Weltordnung, um deren große Revision im 21. Jahrhundert“ gehe. China und Russland wirft er vor, sie seien „in einer nicht formalisierten Allianz angetreten, um die Vorherrschaft der USA und des Westens zu brechen – die beiden großen eurasischen Mächte gegen die transatlantische und auch pazifische Allianz des Westens, angeführt von den USA“.[4]
Gideon Rachman, der führende außenpolitische Korrespondent der Financial Times, schrieb am 27. März:
Der Umstand, dass der Präsident Chinas und der Premierminister Japans gleichzeitig und konkurrierend die Hauptstädte Russlands und der Ukraine besuchten, unterstreicht die globale Bedeutung des Ukrainekriegs. Japan und China sind in Ostasien erbitterte Rivalen. Beide Länder sind sich darüber im Klaren, dass ihr Kampf vom Ausgang des Konflikts in Europa tiefgreifend beeinflusst werden wird.
Dieses Schattenboxen zwischen China und Japan wegen der Ukraine ist Teil eines größeren Trends. Die strategischen Rivalitäten in der euro-atlantischen und der indo-pazifischen Region überschneiden sich zusehends. Was sich hier abzeichnet, nimmt mehr und mehr die Gestalt eines einzigen geopolitischen Konflikts an.[5]
Obwohl Rachman nach wie vor ein glühender Verfechter des Narrativs vom „unprovozierten Krieg“ ist, beendet er seine sich selbst widersprechende Analyse mit einer deutlichen Warnung:
Doch die Gefahr eines Abgleitens in einen globalen Konflikt ist noch lange nicht gebannt. Der Ausbruch des Kriegs in Europa zusammen mit dem Anwachsen der Spannungen in Ostasien – und die immer engere Verbindung zwischen diesen beiden Schauplätzen – ruft nach wie vor deutliche Erinnerungen an die 1930er Jahre wach. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten, dafür zu sorgen, dass die Rivalitäten in Europa und Asien dieses Mal nicht in einer globalen Tragödie enden.[6]
Stellt man die Ereignisse, die zum russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 führten, in den notwendigen historischen und politischen Kontext, besteht kein Zweifel daran, dass der Krieg von den Vereinigten Staaten und ihren Nato-Verbündeten angezettelt wurde. Alle Versuche, die „Schuld“ am Krieg allein nach der Frage zu beurteilen, wer den ersten Schuss abgegeben hat, machen es erforderlich, einen extrem begrenzten Zeitrahmen zu setzen, der eine einzelne Episode aus einer weitaus längeren Kette von Ereignissen heraushebt. Wie Trotzki 1934 erklärte: „Der Charakter des Krieges wird nicht bestimmt durch das isoliert genommene Moment des Regimes (‚Verletzung der Neutralität‘, ‚feindlicher Einmarsch‘ usw.) sondern durch die Haupttriebkräfte des Krieges, seine Gesamtentwicklung und die Ergebnisse, zu denen er letzten Endes führt.“[7]
Anders als die Schauergeschichte vom „unprovozierten Krieg“ glauben machen will, war die Invasion im Februar 2022 das Ergebnis eines Geflechts von Ereignissen. Dieses umfasst nicht nur den von der CIA finanzierten und orchestrierten Maidan-Putsch von 2014, durch den die gewählte prorussische Regierung von Viktor Janukowitsch gestürzt wurde, sondern auch die Entfesselung reaktionärer nationalistischer Tendenzen sowohl in der Ukraine als auch in Russland als Folge der Auflösung der Sowjetunion.
Gleichzeitig rechtfertigt die Tatsache, dass der Krieg von den Vereinigten Staaten und der Nato angezettelt wurde, nicht die russische Invasion in der Ukraine. Sie mindert auch keineswegs deren reaktionären Charakter. Diejenigen, die die Invasion mit der Begründung rechtfertigen, sie sei eine legitime Reaktion auf die Bedrohung der russischen Grenzen durch die Nato gewesen, ignorieren einfach die Tatsache, dass Putin der Führer eines kapitalistischen Staates ist, dessen Auffassung von „nationaler Sicherheit“ von den wirtschaftlichen Interessen der Klasse der Oligarchen bestimmt wird, deren Reichtum auf der Auflösung und dem Diebstahl des zuvor verstaatlichten Eigentums der Sowjetunion beruht.
Alle Fehleinschätzungen und Fehler Putins, sowohl darin, wie der Krieg begonnen, als auch darin, wie er weitergeführt wurde, spiegeln die Klasseninteressen wider, denen er dient. Das Ziel des Krieges besteht darin, dem militärischen Druck der westlichen imperialistischen Mächte entgegenzutreten und der nationalen Kapitalistenklasse eine beherrschende Stellung bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der Arbeitskraft in Russland selbst und darüber hinaus so weit wie möglich in die Schwarzmeerregion und die Nachbarländer Zentralasiens und des Kaukasus hinein zu sichern.
Diese Ziele haben nichts Fortschrittliches, geschweige denn Anti-Imperialistisches an sich. Wenn Putin das Erbe des Zarismus beschwört und gleichzeitig Lenin, den Bolschewismus und die Oktoberrevolution anprangert, unterstreicht er damit den historisch reaktionären und politisch bankrotten Charakter seines Regimes.
Unabhängig von ihrem gegenwärtigen Konflikt gehen die neuen postsowjetischen herrschenden Klassen in Russland und der Ukraine auf denselben kriminellen Ursprung zurück. Weniger als drei Monate vor der formellen Auflösung der UdSSR warnte der Autor am 3. Oktober 1991 auf einer öffentlichen Versammlung in einem Arbeiterclub in Kiew als Vertreter des Internationalen Komitees vor den katastrophalen Folgen, die sich aus der Agenda der Nationalisten ergeben würden:
In den Republiken verkünden die Nationalisten, die Lösung aller Probleme liege in der Schaffung neuer „unabhängiger“ Staaten. Wir wollen die Frage stellen: Unabhängig von wem? Wenn die Nationalisten ihre „Unabhängigkeit“ von Moskau erklären, so bleibt ihnen nichts weiter übrig, als alle entscheidenden Beschlüsse über die Zukunft ihrer neuen Staaten in die Hände Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Japans und der USA zu legen. Krawtschuk [damaliger Führer der ukrainischen kommunistischen Partei und zukünftiger Präsident der postsowjetischen Ukraine] fährt nach Washington und rutscht wie ein Schuljunge auf seinem Stuhl herum, während er von Präsident Bush belehrt wird. […]
Welchen Weg sollte die arbeitende Bevölkerung in der UdSSR also einschlagen? Was ist die Alternative? Die einzig mögliche Lösung begründet sich auf das Programm des revolutionären Internationalismus. Die Rückkehr zum Kapitalismus, die sich unter anderem in die chauvinistische Agitation der Nationalisten kleidet, kann nur zu einer neuen Form von Unterdrückung führen. Anstatt dass jede einzelne sowjetische Nationalität mit gesenktem Kopf auf Knien die Imperialisten um Almosen und Begünstigungen anfleht, sollten die sowjetischen Arbeiter aller Nationalitäten eine neue Beziehung untereinander aufbauen, die sich auf die Prinzipien wirklicher sozialer Gleichheit und Demokratie stützt, und auf dieser Grundlage auf revolutionärem Wege all das verteidigen, was am Erbe von 1917 erhaltenswert ist. […]
Den Kern dieses Programms bildet die Perspektive des revolutionären Internationalismus. Sämtliche Probleme, die die Sowjetbevölkerung heute heimsuchen, haben ihren Ursprung darin, dass das Programm des revolutionären Internationalismus aufgegeben wurde.[8]
Die Warnungen, die das Internationale Komitee vor fast 32 Jahren ausgesprochen hat, haben sich auf tragische Weise bestätigt. Die arbeitenden Menschen in Russland und der Ukraine sind in einen Konflikt des Brudermords hineingezogen worden. Vor achtzig Jahren kämpften sie Seite an Seite für die Verteidigung der Oktoberrevolution und um die Armeen der Nazis aus der Sowjetunion zu vertreiben. Jetzt schießen sie auf Befehl der kapitalistischen Regime aufeinander und töten einander gegenseitig.
Der Aufruf des Internationalen Komitees zur Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse hat nicht nur an Dringlichkeit gewonnen. Die objektiven Bedingungen für deren Mobilisierung auf der Grundlage des Programms des revolutionären sozialistischen Internationalismus sind heute weitaus günstiger. Während sich die Krise des US-Imperialismus und die globalen kapitalistischen Widersprüche verschärft haben, vollzog sich gleichzeitig ein enormes Anwachsen der internationalen Arbeiterklasse. Ihr wirtschaftliches Gewicht und ihre potenzielle Macht haben sich gewaltig vergrößert, insbesondere dadurch, dass in Ländern, in denen das Proletariat bis zum letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nur einen kleinen Bruchteil der Bevölkerung ausmachte, riesige städtische Zentren entstanden sind, in denen dutzende Millionen Arbeiter leben.
In den letzten zehn Jahren hat sich der Klassenkampf ständig verschärft. Ein auffälliges Merkmal des Klassenkampfs ist zudem sein internationaler Charakter. Durch revolutionäre Fortschritte in der Kommunikationstechnologie lösen sich die Barrieren zwischen den Arbeitern verschiedener Länder zunehmend auf. Der soziale Konflikt in einem bestimmten Land wird, unabhängig davon, wo er beginnt, fast sofort von einem internationalen Publikum verfolgt und zu einem Weltereignis. Sogar die uralte Sprachbarriere wird durch die Anwendung von Übersetzungs- und Transkriptionsprogrammen überwunden, die Dokumente und Reden unabhängig von der Sprache, in der sie geschrieben oder gesprochen wurden, für ein weltweites Publikum leicht verständlich machen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Diese technologischen Fortschritte machen es sehr viel leichter, eine globale revolutionäre Antwort auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme zu geben, mit denen die Arbeiterklasse in allen Ländern konfrontiert ist. Chinas plötzliche Abkehr von seiner Zero-Covid-Politik Ende 2022, die innerhalb von weniger als zwei Monaten zu mehr als einer Million Todesopfern führte, hat deutlich gemacht, dass es unmöglich ist, eine nationale Lösung für eine globale Krise zu finden. Diese grundlegende Wahrheit wird durch die Realität der sich verschärfenden sozialen Krise unterstrichen.
Der Krieg in der Ukraine und die massive Erhöhung der Militärhaushalte haben die Form eines Kriegs gegen die sozialen Bedingungen der Arbeiter in allen Ländern angenommen. Inflation, Arbeitslosigkeit und die Kürzung der Mittel für soziale Dienste haben weltweit zu einer wachsenden Anzahl von Streiks geführt. Auf allen Kontinenten sind bedeutende soziale Kämpfe ausgebrochen.
Lässt man gewisse Unterschiede zwischen den Ländern beiseite, zeigen sich bestimmte Gemeinsamkeiten in den politischen Bedingungen, mit denen die Arbeiterklasse in allen Ländern konfrontiert ist. So begrenzt die Forderungen der Arbeiter auch sein mögen, so stoßen sie auf den erbitterten Widerstand der Unternehmen und des Staates.
Immer häufiger und schärfer übernimmt der kapitalistische Staat im Namen der herrschenden Klasse die direkte Führung des Kriegs gegen die Arbeiterklasse. In Ländern, die sich in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung so sehr unterscheiden wie Sri Lanka und Frankreich, steht die Arbeiterklasse dem Staatsoberhaupt als zentralem Feind gegenüber – Präsident Ranil Wickremesinghe in Sri Lanka, Emmanuel Macron in Frankreich. Sie mögen sich, wann immer es ihnen politisch nützt, demokratischer Phrasen bedienen, doch haben ihre Entscheidungen, die sie mit Hilfe von Polizei und Militär durchsetzen, einen unverhohlen diktatorischen Charakter. Der gegenwärtige weltweite Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie bestätigt die Analyse von Lenin: „Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus.“[9]
Aus diesem Grund nimmt die Logik des Klassenkampfs den Charakter eines politischen Kampfs gegen den Staat an und macht die Entwicklung von unabhängigen Organen der Arbeitermacht notwendig. Der Aufruf der sri-lankischen Sektion des Internationalen Komitees zur Einberufung eines Sozialistischen und Demokratischen Kongresses der Arbeiter und der Landbevölkerung und die Forderung der französischen Sektion des IKVI zum Sturz der Regierung Macron sind beides eine notwendige Antwort auf den eskalierenden Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und dem kapitalistischen Staat.
Eine grundlegende Lehre des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass der Kampf gegen den imperialistischen Krieg nur durch die politische Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines kompromisslos antikapitalistischen, sozialistischen Programms erfolgreich geführt werden kann. Die Ursachen des Krieges wurzeln im Nationalstaatensystem und im kapitalistischen Profitsystem. Alle Vorschläge, dem Krieg entgegenzutreten, die dies ignorieren und vertuschen, sind zum Scheitern verurteilt.
Das größte Hindernis für die Mobilisierung der Arbeiterklasse ist der politische Einfluss, den die prokapitalistischen Gewerkschaftsbürokratien und die reaktionären sogenannten Arbeiterparteien ebenso ausüben wie solche, die sich fälschlicherweise als „sozialistisch“ ausgeben, und eine breite Palette pseudolinker Organisationen der wohlhabenden Mittelschicht. Ihr heimtückischer Einfluss muss überwunden werden.
Das Internationale Komitee hat bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung einer alternativen revolutionären Führung in der Arbeiterklasse gemacht. Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ist die Konkretisierung der von Trotzki im Übergangsprogramm vertretenen Perspektive für die Bildung von Fabrikkomitees. Er rief die Sektionen der Vierten Internationale dazu auf, „überall da, wo es möglich ist, eigenständige Kampforganisationen zu schaffen, die den Aufgaben des Massenkampfes gegen die bürgerliche Gesellschaft besser entsprechen und nötigenfalls auch vor einem offenen Bruch mit dem konservativen Apparat der Gewerkschaften nicht zurückschrecken.“[10]
Der Impuls, den das Internationale Komitee für den Aufbau der IWA-RFC gab, basiert zudem auf Trotzkis Analyse des Schicksals der Gewerkschaften in der Epoche des Imperialismus. In einem unvollendeten Manuskript, das nach Trotzkis Ermordung auf seinem Schreibtisch gefunden wurde, hatte er geschrieben: „Es gibt in der Entwicklung, oder besser, in der Degeneration der gegenwärtigen Gewerkschaftsorganisationen der ganzen Welt einen allen gemeinsamen Zug: die Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr.“
Deshalb sei es notwendig, „die Massen nicht nur gegen die Bourgeoisie zu mobilisieren, sondern auch gegen das totalitäre Regime innerhalb der Gewerkschaften selbst und gegen die Führer, welche dieses Regime aufrecht erhalten“.[11]
Wenn die kleinbürgerlichen pseudolinken Agenten der herrschenden Klasse das IKVI als Gegner der Gewerkschaften anprangern, greifen sie in Wirklichkeit die Weigerung des Internationalen Komitees an, die Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Diktatur der pro-imperialistischen und korporatistischen Gewerkschaftsbürokratien zu akzeptieren. Die IWA-RFC hält sich keineswegs von den Kämpfen der Arbeiter fern, die innerhalb der Gefängnismauern verbleiben, an denen die Kerkermeister der AFL-CIO in den Vereinigten Staaten, der IG Metall in Deutschland, der CGT in Frankreich und ihre Äquivalente in der ganzen Welt Wache stehen, sondern sie beteiligt sich an zahllosen Kämpfen innerhalb der Gewerkschaften und tut alles, um die Rebellion gegen die bürokratischen Apparate zu fördern und zu stärken. Das Votum von 5.000 Automobilarbeitern im Oktober 2022 für Will Lehman, den sozialistischen Kandidaten für den Vorsitz der UAW, der mit einem Programm antrat, das die Einführung der Arbeiterkontrolle in der Automobilindustrie und die Zerschlagung des Gewerkschaftsapparats forderte, zeugt von dem wachsenden Einfluss und dem organisatorischen und politischen Potenzial der IWA-RFC.
Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees baut ein weltweites Netzwerk auf, um die Entwicklung einer globalen Strategie und die taktische Koordinierung des Klassenkampfs gegen die Macht der Konzerne und die kapitalistische Herrschaft zu unterstützen. Ihr Ziel ist es nicht, Druck auf die reaktionären Bürokratien auszuüben und sie zu reformieren, sondern die gesamte Entscheidungsfindung und Macht auf die Basis zu übertragen.
Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) weiten ihre Arbeit aus, um junge Menschen zu Marxisten auszubilden, ihr Verständnis für den von Trotzki und der Vierten Internationale geführten Kampf gegen den Stalinismus und alle Formen des nationalen Opportunismus zu entwickeln, sie auf die Arbeiterklasse zu orientieren und ihre unerschöpfliche Energie auf den Kampf zum Aufbau der Weltpartei der Sozialistischen Revolution zu richten.
Die World Socialist Web Site, die seit mittlerweile 25 Jahren täglich erscheint, entwickelt die Tiefe und den Umfang ihrer politischen Berichterstattung und Analyse des Klassenkampfs ständig weiter und vergrößert auf der Basis dieser grundlegenden theoretischen Arbeit den Einfluss des Trotzkismus in den Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse.
Die Maikundgebung wird auf diesen Errungenschaften aufbauen und die Feier dieses historischen Tags der Einheit der Arbeiterklasse dazu nutzen, den Kampf gegen Krieg und für den Übergang der Macht auf die Arbeiterklasse und den Aufbau des Sozialismus in der ganzen Welt voranzutreiben.
Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München, 1. Auflage, 2014. S. 74.
David North: „Blind ins Verderben“, in: Ders.: 30 Jahre Krieg. Amerikas Griff nach der Weltherrschaft. 1990-2020. Essen, 2020. S. 371.
Ebd.
Peter Schwarz: „Joschka Fischer erklärt Ukrainekrieg zum ‚globalen Machtkampf um zukünftige Weltordnung‘“, World Socialist Web Site, 4. April 2023. URL: https://www.wsws.org/de/articles/2023/04/03/fisc-a03.html [zuletzt aufgerufen am 9. April 2023].
Gideon Rachman: „China, Japan and the Ukraine war“, Financial Times, 27. März 2023. URL: https://www.ft.com/content/9aa4df57-b457-4f2d-a660-1e646f96c8cb [Aus dem Englischen, zuletzt aufgerufen am 9. April 2023].
Ebd.
Leo Trotzki: „Krieg und die Vierte Internationale“, URL: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1934/kriegvi/teil1.htm [zuletzt abgerufen am 9. April 2023]
David North: „Nach dem Augustputsch: Die Sowjetunion am Scheideweg“, in: Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, S. 115f.
W.I. Lenin, „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1957, S. 102–103
Leo Trotzki: „Das Übergangsprogramm“, Essen 1997, S. 91
Leo Trotzki: „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“, URL: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1940/08/gewerk.htm [zuletzt abgerufen am 9. April 2023]
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