Mehr als 500 Flüchtlinge ertrinken vor Griechenland: Die Festung Europa und die Flüchtlingskrise

Mehr als 500 Immigranten, die vor Krieg, Umweltkatastrophen, Armut und Unterdrückung geflohen sind, sind tot oder werden vermisst, nachdem ihr Schiff am frühen Mittwochmorgen südwestlich vor Griechenland gesunken ist. Unter den Opfern befinden sich zwischen 30 und 100 Kinder.

Etwa 750 Menschen waren am 10. Juni in einem überfüllten Fischerboot ohne ausreichend Nahrungsmittel und Wasser aus der libyschen Hafenstadt Tobruk aufgebrochen. Hunderte von ihnen hielten sich während der mehrtägigen Überfahrt gleichzeitig zusammengedrängt auf dem Oberdeck auf.

Ein von der griechischen Küstenwache am Mittwoch, den 14. Juni 2023, zur Verfügung gestelltes Bild zeigt zahlreiche Menschen, die praktisch jeden freien Bereich des Decks auf einem ramponierten Fischerboot bedecken, das später vor Südgriechenland kenterte und sank [AP Photo/Hellenic Coast Guard via AP]

Bisher wurden nur 78 Leichen geborgen. Die meisten Toten liegen vermutlich noch immer im Frachtraum des Bootes, das an einer der tiefsten Stellen des Mittelmeers gesunken ist. Als am Freitagabend die Suche eingestellt wurde, waren nur 104 Überlebende gerettet worden.

Die griechische Regierung ist mitverantwortlich für diese Tragödie. Obwohl das gefährlich überladene Boot 14 Stunden lang beobachtet wurde und Berichte über Passagiere in Not eingingen, organisierte sie erst einen Rettungseinsatz, als es bereits zu spät war. Professor Erik Røsæg vom Institute of Private Law der Universität Oslo erklärte gegenüber dem Guardian, sie sei gemäß dem Seerecht „verpflichtet gewesen, Rettungsmaßnahmen einzuleiten“, unabhängig davon, ob die Menschen an Bord um Hilfe gebeten hätten.

Die Küstenwache behauptete zunächst, sie habe nicht mit dem Boot interagiert, weil Hilfsangebote abgelehnt wurden. Überlebende behaupteten jedoch, das Boot sei gekentert, als die Küstenwache versuchte, es abzuschleppen. Daraufhin gab die Küstenwache zu, dass sie eine Festmacherleine an dem Boot angebracht hatte. Sie betonte gleichzeitig, es habe sich nicht um einen Abschleppversuch gehandelt. Ein Überlebender erklärte: „Das Boot begann nach rechts und links zu schwanken, weil sie nicht wussten, wie sie das Seil ziehen sollen. Das Boot der Küstenwache fuhr zu schnell, aber das Fischerboot kippte bereits nach links, und so ist es gesunken.“

In Griechenland fanden große Protestveranstaltungen statt, bei denen die Verantwortlichen für die Migrationspolitik der Regierung als Mörder verurteilt wurden. Die Polizei ging mit Tränengas gegen sie vor. (Siehe Video unten)

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Der gleiche Vorwurf kann auch den übrigen europäischen Mächten gemacht werden. Sie haben Milliarden in den Aufbau eines riesigen Apparats zur Flüchtlingsabwehr an den Grenzen Europas gesteckt, damit so viele Menschen wie möglich die Reise abbrechen oder bei dem Versuch sterben. Der Etat der europäischen Grenzschutztruppe Frontex ist von 535 Millionen Euro im Jahr 2021 auf 754 Millionen im Jahr 2022 erhöht worden.

Weitere Milliarden gingen an die diktatorischen Regime in Libyen und Tunesien, die im Jahr 2022 mehr als 60.000 Flüchtlinge abgefangen haben, die versuchten, nach Europa zu gelangen. Berichten zufolge haben sie im März Schüsse auf Rettungsschiffe abgefeuert, um sie zu vertreiben.

Seit der Errichtung der „Festung Europa“ im Jahr 2014 sind im Mittelmeer mindestens 21.000 Menschen ertrunken. Zahllose weitere werden in Gefangenenlagern in ganz Nordafrika – in denen die Vereinten Nationen Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefunden haben, an denen die EU beteiligt ist – entsetzlichen Bedingungen ausgesetzt. Dasselbe geschieht auf den griechischen Inseln. Andere, die versuchen, zu Fuß durch Europa zu kommen, werden Opfer von staatlich geförderter Gewalt, Nötigung, Demütigung und Elend.

Demonstranten mit einem Transparent, auf dem auf Griechisch „Meer der Toten“ steht. Aufgenommen bei einer Demonstration vor dem Parlamentsgebäude in Athen nach dem tödlichen Schiffsunglück vor Griechenlands am 15. Juni. (AP Photo/Petros Giannakouris) [AP Photo/Petros Giannakouris]

Asylsuchende sind in zweierlei Hinsicht Opfer. Die imperialistischen Mächte, die sie wie Ungeziefer behandeln, sind dafür verantwortlich, dass sie überhaupt flüchten mussten. Sie haben auf der ganzen Welt Gesellschaften durch Kriege, Interventionen, Intrigen und Wirtschaftssanktionen auseinandergerissen und sind für die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels verantwortlich.

Unter den Toten der jüngsten Tragödie befanden sich Menschen aus Syrien, das durch einen Stellvertreterkrieg der USA verwüstet wurde; aus Ägypten, das unter der Knute des vom Westen unterstützten Diktators Abdel Fattah el-Sisi und den internationalen Investoren steht; aus Pakistan, wo die USA regelmäßig Drohnenangriffe führen und sich in die Politik einmischen und das immer noch unter den Auswirkungen der verheerenden Überschwemmungen leidet; und aus Palästina, das unter der vom Imperialismus unterstützten israelischen Besatzung und Blockade steht.

Diejenigen, die an den Grenzen Europas ankommen, sind nur die Spitze eines Eisbergs des Leids. Laut dem jüngsten Global-Trends-Bericht des UN-Flüchtlingsrats ist mehr als einer von 74 Menschen auf der Welt gewaltsam vertrieben worden, d.h. mehr als 108 Millionen Menschen, von denen 40 Prozent Kinder sind.

Diese Zahlen sind in den letzten zehn Jahren sprunghaft gestiegen. Im Jahr 2014, zu Beginn der „Flüchtlingskrise“ in Europa, gab es weltweit etwa 60 Millionen durch Gewalt Vertriebene. Damals führten Tragödien wie die vor der Küste von Lampedusa zwischen 2013 und 2015, bei denen mehr als 1.000 Erwachsene und Kinder ertranken, und das Bild der Leiche des zweijährigen Alan Kurdi, die an einem türkischen Strand angespült wurde, zu weit verbreiteter Empörung und der Überzeugung, dass diese Barbarei nicht weitergehen dürfe.

Doch die europäischen Regierungen haben dafür gesorgt, dass sie weiterging. Nachdem die Zahl der im Mittelmeer gestorbenen oder vermissten Flüchtlinge vom Höchststand von 5.136 im Jahr 2016 auf einen Tiefststand von 1.449 im Jahr 2020 gesunken war, steigt sie jetzt erneut an. Das erste Quartal dieses Jahres was das tödlichste seit 2017.

Die Politiker reagieren darauf, indem sie die Mauern der EU höher ziehen – teilweise buchstäblich. Bei einem Treffen in Luxemburg einigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs diesen Monat auf umfassende Angriffe auf die demokratischen Rechte der Asylsuchenden, die eine längere Inhaftierung und schnellere Abschiebung ermöglichen. Die Länge der EU-Grenzmauern hat sich zwischen 2014 und 2022 auf über 2.000 Kilometer mehr als versechsfacht, sodass sie 13 Prozent der EU-Landesgrenzen abdecken. Der Bau weiterer Mauerabschnitte ist in Planung.

Auf diese Weise wollen sie den europäischen Kapitalismus vor den menschlichen Folgen einer globalen Gesellschaft schützen, die durch die Krise des Kapitalismus zerrüttet ist, worüber die Medien kaum berichten.

Die meisten der weltweit 108 Millionen gewaltsam Vertriebenen (62,5 Millionen) sind Binnenflüchtlinge, die in ihren eigenen Ländern unter trostlosen Bedingungen leben. Achtzig Prozent von ihnen befinden sich in nur zehn Gebieten – Kolumbien, Syrien, der Ukraine, der Demokratischen Republik Kongo, dem Jemen, dem Sudan, Nigeria, Afghanistan, Somalia und Äthiopien.

Drei Viertel der Auslandsvertriebenen leben in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in primitiven Lagern wie Bidi Bidi in Uganda (270.000 überwiegend südsudanesische Flüchtlinge), Nyarugusu in Tansania (150.000, überwiegend aus dem Kongo) oder Za'atari in Jordanien (76.000, überwiegend Syrer). Andere sind in Ländern wie der Türkei untergebracht, wo sie unter Bedingungen lebten, auf die das Erdbeben im Februar ein Schlaglicht warf. 50.000 Menschen kamen dabei ums Leben und Millionen wurden vertrieben – viele bereits zum zweiten Mal.

Die Zahl der Menschen, die jedes Jahr ihre Heimat verlassen, ist viel höher als die Zahl derjenigen, die zurückkehren können – letztes Jahr waren es 22 auf einen Rückkehrer. Nur sehr wenige haben die Chance, sich in einem anderen Land niederzulassen – im Jahr 2022 nur 114.300. Die meisten werden ihrem elenden Schicksal überlassen, diejenigen, die in Europa eine Heimat und eine Arbeit zu finden versuchen, werden gewaltsam zurückgeführt.

Die globale Flüchtlingskrise und diese schreckliche Menge an Migranten, die regelmäßig ertrinken, verdeutlichen den essenziellen Zusammenhang zwischen imperialistischen Kriegen und der Zerstörung demokratischer Rechte. Die drei Länder, aus denen laut dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen die meisten Vertriebenen kommen – Syrien (6,5 Millionen), Ukraine (5,7 Millionen) und Afghanistan (5,7 Millionen) – sind gleichzeitig die Schauplätze der destruktivsten Militäroperationen der USA und der Nato im 21. Jahrhundert.

Wenn man die 5,9 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine noch berücksichtigt, steigt die Gesamtzahl der Vertriebenen in diesem Land auf gigantische 11,6 Millionen – die weltweit am schnellsten eskalierende Vertreibungskrise und eine der größten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Angesichts des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine und während die imperialistischen Mächte Ressourcen in massive Aufrüstungsprogramme pumpen und repressive Gesetze im eigenen Land erlassen, wird die Haltung der europäischen herrschenden Klassen gegenüber diesen Vertriebenen immer feindseliger. Die vier Millionen Ukrainer, die „vorübergehenden Schutz“ in den EU-Staaten genießen, und die kümmerlichen 60.000, die im Vereinigten Königreich aufgenommen wurden, werden als notwendige Ausnahme betrachtet, um zu rechtfertigen, dass ihre Freunde, Familien und ihre Häuser von der Nato als Kanonenfutter gegen die russische Armee benutzt werden.

In diesem Krieg inszenieren sich die herrschenden Klassen der Nato-Mächte als Verteidiger der Demokratie, die sich große Sorgen machen um die humanitäre Notlage. Ihre brutale Behandlung von Flüchtlingen entlarvt diese Heuchler jedoch als das, was sie sind.

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