Niger und die gesamte westafrikanische Region stehen am Rande eines Krieges.
Der Präsident des Nigers, Mohamed Bazoum, wurde am 26. Juli durch einen Militärputsch unter Führung des Befehlshabers seiner Präsidentengarde, Abdourahmane Tchiani, gestürzt. Nachdem eine von der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) gesetzte Frist für seine Wiedereinsetzung am letzten Sonntag abgelaufen war, kündigte die ECOWAS für Donnerstag ein Gipfeltreffen in der nigerianischen Hauptstadt Abuja an.
Nigeria, der südliche Nachbarstaat des Nigers, dominiert die Staatengemeinschaft mit seinen 230 Millionen Einwohnern – von insgesamt 400 Millionen Bewohnern –, 250.000 Soldaten und 35 Kampfflugzeugen. Zusammen mit dem Senegal und der Elfenbeinküste hat die nigerianische Regierung signalisiert, im Falle einer Übereinkunft Truppen zu schicken.
Der nigerianische Senat hat zwar gegen eine Militärintervention gestimmt, allerdings hatte sich der frühere Präsident Muhammadu Buhari im Jahr 2017 von einer ähnlichen Abstimmung nicht davon abhalten lassen, Truppen nach Gambia zu schicken, um den dortigen Präsidenten Yahya Jammeh abzusetzen, der sich geweigert hatte, die Macht an Adama Barrow zu übergeben. Davor hatte Nigeria außerdem 1992 in Liberia und 1997 in Sierra Leone größere Militärinterventionen angeführt.
Der Kommissar der ECOWAS für politische Angelegenheiten, Frieden und Sicherheit, Abdel-Fatau Musah, warnte am Freitag: „Alles, was bei einer möglichen Intervention zum Einsatz kommt, ist geplant... Wir sind entschlossen, das zu beenden, werden den Putschisten aber nicht verraten, wann und wo wir zuschlagen werden.“
Die Militärführung in Niger hat „angesichts der immer akuteren Gefahr einer Intervention“ den Luftraum des Landes gesperrt. Sie warnte, jedes Eindringen würde eine „sofortige und energische Reaktion“ nach sich ziehen.
Ein Sprecher erklärte, zwei afrikanische Staaten hätten bereits mit Truppenverlegungen begonnen und fügte hinzu: „Die Streitkräfte Nigers und unsere gesamten Verteidigungs- und Sicherheitskräfte, zusammen mit der unerschütterlichen Unterstützung unserer Bevölkerung, sind bereit, die Integrität unseres Staatsgebiets zu verteidigen.“ Das Land verfügt über 25.000 Soldaten und zwei Kampfflugzeuge.
Die Putschisten in Niger werden von den Regimes ihrer westlichen Nachbarstaaten Mali und Burkina Faso unterstützt, die im Mai 2021 und September 2022 ebenfalls aus Militärputschen hervorgegangen sind. Beide Regimes erklärten, sie würden einen Einmarsch der ECOWAS-Staaten in Niger als Kriegserklärung gegen sich selbst betrachten. Beide schickten am Montag Delegationen in die nigrische Hauptstadt Niamey, um ihre „Solidarität... mit dem Brudervolk von Niger zu demonstrieren“, wie es das malische Militär formulierte.
Auch Guinea, das nach einem Putsch im September 2021 von Oberst Mamady Doumbouya als Übergangspräsident geführt wird, hat Niger unterstützt.
Algerien und der Tschad, beides große Länder im Norden und Osten Nigers mit bedeutenden Streitkräften, haben sich gegen eine Militäraktion ausgesprochen und erklärt, sich nicht an einer Intervention zu beteiligen. Algeriens Präsident Abdelmajid Tebboune bezeichnete einen Krieg als „direkte Bedrohung für Algerien“.
Die ECOWAS hat bereits Sanktionen gegen Niger verhängt, indem sie alle Geschäftstransaktionen aussetzte, staatliche Vermögenswerte einfror, die Finanzhilfe durch regionale Entwicklungsbanken sowie die Stromlieferungen aussetzte, was zu Blackouts geführt hat.
Die imperialistischen Mächte, darunter Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich und die Europäische Union, haben ihre Hilfszahlungen ausgesetzt. In einem Land, in dem 40 Prozent des Staatshaushalts aus internationalen Hilfsgeldern stammt, ist diese Maßnahme eine humanitäre Zeitbombe.
Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht Nigers, ging am aggressivsten vor. Außenministerin Catherine Colonna traf sich am Samstag in Paris mit dem nigerianischen Premierminister Ohoumoudou Mahamadou und erklärte: „Frankreich unterstützt mit Festigkeit und Entschlossenheit die Bestrebungen der ECOWAS, diesen Putschversuch zu beenden.“ Ob Frankreich militärische Unterstützung leisten wird, ließ sie offen.
Italien und Deutschland verhalten sich vorsichtiger. Der italienische Außenminister Antonio Tajani erklärte am Montag gegenüber La Stampa: „Der einzige Weg ist der diplomatische.“ Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock begrüßte die Vermittlungsversuche.
Wichtige Interessen stehen auf dem Spiel – vor allem die profitträchtige Versorgung mit wichtigen Energierohstoffen sowie die Steuerung der afrikanischen Migration nach Europa.
Niger ist der siebtgrößte Förderer von Uran und mit 25 Prozent Europas zweitgrößter Lieferant nach Kasachstan. Weitere wichtige Exportgüter sind Gold und teilweise Erdöl.
Dieser Reichtum wird von ausländischen Konzernen kontrolliert. Die Uranbergwerke SOMAIR, COMINAK und Imouraren befinden sich mehrheitlich in französischem Besitz, das Uranbergwerk SOMINA, die Ölquellen im Agadem-Becken und die Raffinerie SORAZ in chinesischem und das Goldbergwerk Samira in kanadischem Besitz.
Von den Gewinnen, die mit diesen Rohstoffen erwirtschaftet werden, fließt nichts an die nigrische Bevölkerung zurück. Das Verhältnis der Steuern zum BIP lag im Jahr 2022 bei nur 9,8 Prozent, der OECD-Durchschnitt liegt bei 34 Prozent. Aufgrund massiver Steuerbefreiungen für die Förderungsindustrie trägt die Uranförderung des Nigers nur vier bis sechs Prozent zu den Staatseinnahmen bei.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Ein Großteil dieses Gelds gibt Niger obendrein im Auftrag der europäischen Mächte für „Sicherheit“ aus. Niger gilt als zentrales Element dessen, was der ehemalige Sonderbeauftragte der Europäischen Union für die Sahelzone, Ángel Losada, die „neue vorgelagerte Grenze Europas“ genannt hat. Die Stadt und Region Agadez im Norden des Landes gilt als Tor zur Sahara und wichtige Zwischenstation für Reisen an die nordafrikanische Küste und weiter nach Europa.
Die EU hat hunderte Millionen Euro ausgegeben, um das nigrische Militär und die Polizei als präventive Grenzschützer einzusetzen. Sie hat das Gesetz 2015-36 unterstützt, das Migration durch das Land unterbinden soll, was zu starken Störungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens der Region und zu einer dramatischen Zunahme des illegalen Menschenhandels geführt hat.
Italien und Deutschland, zwei der europäischen Mächte, die am stärksten an der Überwachung der Migration über das Mittelmeer beteiligt sind, befürchten, dass ein umfassender Konflikt diese Arrangements zunichte machen und Massen von Menschen dazu bringen würde, in Europa Asyl zu suchen. Der Konflikt würde auch den italienischen „Mattei-Plan“ gefährden, einen größeren Teil seiner Energie aus Afrika zu beziehen. Italien hat bereits umfangreiche Deals mit Algerien und Libyen abgeschlossen und verhandelt mit Kongo-Brazzaville, Angola und Mosambik.
In Niger hat die Politik der Ausbeutung und der „Securitization“ zu einer sozialen Katastrophe geführt. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als 1,90 Dollar am Tag, wobei fast ein Fünftel humanitäre Unterstützung benötigt. Mehr als drei Millionen Menschen leiden unter akutem Nahrungsmangel. Mehr als 40 Prozent der Kinder zwischen 5 und 14 Jahren arbeiten.
Diese Bedingungen und der Zustrom von islamistischen Nato-Stellvertretertruppen aus dem libyschen Bürgerkrieg in die Sahelzone haben zum Anwachsen von Dschihad-Milizen in der ganzen Region geführt, die jedes Jahr für Tausende von Toten und Hunderttausende von Vertriebenen verantwortlich sind.
Vermutlich hat die Feindseligkeit gegenüber der Regierung von Bazoum und seiner Nigrischen Partei für Demokratie und Sozialismus, die für diese Katastrophe verantwortlich waren, in Verbindung mit weit verbreiteter Opposition gegen die Präsenz der mittlerweile ausgewiesenen französischen Soldaten dazu beigetragen, dass am Sonntag 30.000 Menschen an der Kundgebung zur Unterstützung des Putsches teilgenommen haben.
Doch Tchiani ist ebenso wenig eine Lösung für die Probleme Nigers wie die ECOWAS und die imperialistischen Mächte. Keine der Machtübernahmen durch das Militär in der Region hat die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessert, egal wie viel antikolonialistische Rhetorik sie verbreitet haben.
Die Arbeiter und ländlichen Massen in Niger stehen vor der Aufgabe, für die Niederlage von Tchiani als auch von Bazoum zu kämpfen und auf ihre Klassenbrüder und -schwestern in ganz Westafrika zuzugehen, deren Interessen sie teilen. Statt eines brudermörderischen Kriegs müssen sie den Kampf gegen ihre eigenen herrschenden Eliten aufnehmen.
In einer ohnehin zerbrechlichen Gesellschaft hätte jeder Konflikt zwischen ECOWAS und Niger-Mali-Burkina Faso fürchterliche Folgen. Der Senior Associate der Denkfabrik Center for Strategic and International Studies, Cameron Hudson, erklärte gegenüber Foreign Policy zu dieser Aussicht: „Wenn das kein Bluff ist und sie es durchziehen wollen, gibt es keinen einwandfreien Weg ohne massive zivile Todesopfer und ohne die Gefahr, dass sich der Konflikt über die ganze Region ausbreitet.“