Erneut hat ein junger Arbeiter bei der Arbeit für die Deutsche Bahn sein Leben gelassen. Am Mittwochvormittag, kurz vor zehn Uhr, überrollte ein Regionalzug auf der Strecke von Dresden-Plauen zum Hauptbahnhof Dresden einen 25-jährigen Bauarbeiter, der dort mit Gleisarbeiten beschäftigt war.
Das Aktionskomitee Bahn und die World Socialist Web Site fordern die volle Aufklärung dieses und aller Unfälle der letzten Monate, sowie rasche und umfassende Konsequenzen im Sicherheitssystem der Bahn, um das Leben der Eisenbahner zu schützen. Der jüngste Unfall in Dresden wirft Fragen auf, die eine gründliche Untersuchung verlangen:
- Wer war der Arbeiter, und welches Gewerk, welche Abteilung der Deutschen Bahn hatte seine Gruppe dort eingesetzt?
- Waren sie ausreichend auf die Gefahren am Gleis vorbereitet? Waren es Leih- und Zeitarbeiter?
- Auf einem PICXELL-Foto, das die BILD-Zeitung publizierte, ist zu erkennen, dass die Baustelle mit fester Absperrung gesichert war. Dennoch geriet der junge Arbeiter in den Bereich des herannahenden Zuges und konnte ihm nicht rechtzeitig ausweichen. Was war der Grund? War die Absperrung durchbrochen? War die Gruppe dabei, sie auf- oder abzubauen?
- Wurde die Gruppe ausreichend gewarnt, als der Zug der Mitteldeutschen Regionalbahn (MRB) sich näherte? Erhielt der Lokführer rechtzeitig die Anweisung, abzubremsen?
Diese und weitere Fragen drängen sich unmittelbar auf, doch die Bahn hüllt sich in Schweigen. Vom Presseportal der Feuerwehr Dresden ist nur zu erfahren, dass die Strecke bis 14 Uhr gesperrt werden musste und der Zug mit 95 Passagieren evakuiert worden sei.
Davor heißt es trocken: „Als die ersten Einsatzkräfte die Einsatzstelle erreichten, fanden sie auf freier Bahnstrecke, kurz nach der Brücke über die Würzburger Straße, einen Regionalzug stehend vor. Aus noch zu ermittelnder Ursache war eine Person von dem Zug erfasst worden. Der Patient erlag den tödlichen Verletzungen noch am Einsatzort.“
Am gestrigen Donnerstag gab die Polizei dann bekannt, dass es sich bei dem vom Zug erfassten Mann um einen Bauarbeiter gehandelt habe. „Der genaue Hergang ist weiter unklar.“ Auf der Website der EVG Süd-Ost ist keine Meldung dazu zu finden, auch nicht auf dem Portal der DB Netz AG. Dort heißt es lapidar: „Der Schutz unserer Mitarbeiter:innen vor Unfall- und Gesundheitsgefahren hat bei uns höchste Priorität.“
In der Facebook-Gruppe „Der Eisenbahner“ schildert ein Lokführer, was er vor kurzem um ein Uhr nachts in Heidelberg erlebt hatte:
90 km/h Streckengeschwindigkeit – Schutzplanken nur teilweise aufgebaut – ca. 25 Gleisarbeiter (sehr, sehr viele Taschenlampen hab ich gesehen) […] Ich hab weder eine Mitteilung bekommen, noch einen Anruf vom Fahrdienst oder was auch immer. Von mir aus hab ich bewusst auf 15 km/h runtergebremst. Die Hälfte der Gleisarbeiter hat mich nicht mal bemerkt! Und das finde ich absolut grobfahrlässig – es hat geschüttet wie aus Eimern an dem Tag. Ich will mir gar nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn ich 90 km/h gefahren wäre …
Das Aktionskomitee Bahn, in dem sich Eisenbahner unabhängig von den Gewerkschaften EVG und GDL zusammenschließen, hat das Thema „Sicherheit“ ins Zentrum seiner Arbeit gestellt. Es ruft Eisenbahner auf, alle Informationen zusammenzutragen, die dazu dienen, Aufschluss über die wirklichen Ursachen der Unfälle zu geben, und den Schutz ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen.
Das Aktionskomitee deckt den Zusammenhang zwischen den Unfallursachen und den Sparmaßnahmen auf, die aus der Umstellung des Bundeshaushalts auf Kriegswirtschaft resultieren. Die Bahn befindet sich noch immer im Besitz des Bundes, und die immer schlimmere Sparorgie bei DB Cargo führt zwangsläufig zu einer ständig steigenden Arbeitshetze.
Der schreckliche Todesfall in Dresden ist kein Einzelfall. Er ist in diesem Jahr schon der elfte Unfall bei der Bahn, den ein Eisenbahner mit dem Leben bezahlt:
- 16. Januar 2023: Auf der Strecke zwischen Nürnberg und Regensburg erfasst eine Lokomotive zwei Arbeiter, die mit Rodungsarbeiten beschäftigt sind. Ein Bahnmitarbeiter wird getötet, sein Kollege schwer verletzt.
- 4. Februar 2023: Am Bahnhof Bebra (Osthessen) wird ein Rangierarbeiter von einem rollenden Eisenbahnwaggon erfasst und getötet.
- 23. Februar 2023: Bei nächtlichen Arbeiten wird ein 56-jähriger Baggerfahrer an einer Eisenbahnunterführung in Bremerhaven tödlich verletzt.
- 4. Mai 2023: Ein IC erfasst zwei junge Gleisarbeiter, die in Hürth bei Köln im Zusammenhang mit einer Kabelverlegung Gleisstopfarbeiten ausführen. Beide sind auf der Stelle tot. Fünf weitere Kollegen können im letzten Augenblick zur Seite springen. Die Deutsche Bahn publiziert zunächst einen Tweet über „unbefugte Personen auf der Strecke“, den sie nach Protesten zurückziehen muss.
- 14. Juni 2023: Bei Stade wird ein 28-jähriger Bahnmitarbeiter vom Regionalzug Hamburg-Cuxhaven erfasst und getötet. Er ist mit Rückschnittarbeiten neben dem Gleis beschäftigt. Seine zwei Kollegen, darunter sein Bruder, können sich retten.
- 2. Juli 2023: Auf dem Rangierbahnhof Hamm (NRW) gerät ein 26-jähriger Eisenbahner zwischen einen rollenden Zug und einen stehenden Waggon und wird tödlich verletzt.
- 8. September 2023: Ein 19-jähriger Bahn-Azubi wird in Hannover-Linden bei der Installation von Leit- und Sicherheitstechnik (LST) getötet; die näheren Umstände sind nicht bekannt.
- 10. September 2023: Lokführer Jonas (32) aus NRW stirbt, als sein Güterzug, von einem Zementwerk kommend, in Geseke nahe Paderborn entgleist. Die Lokomotive stellt sich quer und zwölf schwer beladene Waggons verkeilen sich ineinander. Jonas, der noch versucht hatte, die Hauptleitung zu lüften und eine Notbremsung einzuleiten, wird von einem tonnenschweren Kesselwagen erdrückt.
- 14. September 2023: Ali Ceyhan (33) stirbt, nachdem er drei Tage zuvor bei Gleisarbeiten im Bahnhof Köln Trimborner Straße (im Ortsteil Kalk) von einem Zug erfasst worden ist. An der Unglücksstelle konnte er noch reanimiert werden, erliegt jedoch schließlich seinen schweren Kopfverletzungen. Die Bahn hat die genauen Umstände seines Todes bis heute nicht bekannt gegeben.
Das Aktionskomitee Bahn hat sich zum Ziel gesetzt, so viel wie irgend möglich über diese entsetzlichen Unfälle der letzten Zeit herauszufinden, um die wirklichen Ursachen aufzuklären und den Kampf für Sicherheit aufzunehmen.
Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Zunahme von schlimmen und tödlichen Arbeitsunfällen und der vollständigen Orientierung auf Profit bei der Bahn, wie auch bei den anderen Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Bundesregierung, die Besitzerin der Bahn, hat im Zusammenhang mit ihrer Orientierung auf Militarismus und Krieg den Bundeshaushalt stark zusammengestrichen. In sämtlichen Ressorts wird massiv gespart, nur das Verteidigungsbudget wird stark aufgestockt. Bei DB Cargo werden mindestens 1800 Stellen – voraussichtlich weit mehr – eingespart.
Wie ein älterer Eisenbahner auf einer der ersten Online-Versammlungen des Aktionskomitees betonte: „Früher galt bei der Bahn: Sicherheit – Pünktlichkeit – Wirtschaftlichkeit, in dieser Reihenfolge! Heute steht die Wirtschaftlichkeit ganz vorne, da geht man über Leichen.“
Aktionskomitee-Mitglieder reagieren auf den jüngsten Unfall in Dresden mit Entsetzen. Einer schreibt: „Wenn es so weiter geht, dann braucht die Bahn niemanden mehr entlassen. Die schaffen es auch so, uns in den Abgrund zu stürzen.“ Fritz, ein Sachbearbeiter im Bereich Südost- und Mittel-Deutschland, kommentiert: „Ich sag doch: alle arbeiten am Anschlag des Machbaren.“
Schon vor dem Unfall in Dresden hat Fritz uns die Bedingungen für sicheres Arbeiten am Gleis erläutert: „Dafür braucht es aber definitiv mehr Personal“, sagte der Eisenbahner, der selbst lange am Gleis gearbeitet hatte. Er berichtete: „Früher hat man mit der sogenannten Tröte gewarnt, aber das ist lange vorbei.“ Heute werde oft mit optisch-akustischen Warnanlagen gearbeitet. Abgrenzungen würden durch Ketten oder Seile provisorisch erstellt, aber: „Das vermittelt ein falsches Gefühl der Sicherheit.“ Teilweise arbeite man auch mit der mitwandernden Warnkette mit Sicherungspersonal vorne und hinten, aber oft sei das Personal dafür nicht vorhanden.
Bei DB Netz sei die Personaldecke so dünn, dass sichere Projekte immer wieder scheiterten, wenn Kollegen ausfielen. „Entweder es liegt am Personalmangel, oder die Maßnahmen scheitern an einem Mangel an Kommunikation.“ Gerade im Gleisbau und auch im Grünschnitt würden auch viele Subunternehmer eingesetzt, bestätigt Fritz. Eine am Helm getragene, individuelle Warnanlage mit optischem Signal und Warnton habe die Deutsche Bahn bisher nicht zugelassen.
Fritz sagte, er wüsste gerne, wie man das in anderen Ländern macht. „Es muss doch für die Sicherung der Arbeiten am Gleis Lösungen geben!“ Für einen Austausch mit Kollegen in anderen Ländern würde er sich sehr interessieren. Allgemein konstatierte er: „Die Zustände nähern sich langsam wieder an diejenigen im 19. Jahrhundert an, als das Leben nur aus Arbeiten, Essen und Schlafen bestand.“ Das Gehalt für die Gleisarbeiter bewege sich im Rahmen des Mindestlohns und werde auch nach der Anpassung des Ostens an den Westen ab dem 1. Dezember 2023 immer noch viel zu niedrig sein.
Ein weiterer Teilnehmer des Aktionskomitees berichtete jüngst, dass DB Cargo sogar an den Arbeitsschuhen spare und für Gleisarbeiter bloß Halbstiefel verteile, die keine Zehenkappe aus Stahl aufweisen, was jedoch für Sicherheitsschuhe zwingend erforderlich wäre.
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