Israel: Viele der toten Soldaten und Zivilisten vom 7. Oktober gehen auf die Anwendung der Hannibal-Richtlinie zurück

Laut der israelischen Tageszeitung Haaretz haben die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) in den drei Militärbasen, die am 7. Oktober von der Hamas überfallen wurden, die Hannibal-Richtlinie ausgegeben, um die Gefangennahme von Soldaten auch auf Kosten von deren Leben zu verhindern. Die Befehle wurden in Gebäuden angewandt, von denen bekannt war, dass darin Geiseln festgehalten wurden.

Die Hannibal-Richtlinie wurde 1986 während der israelischen Besetzung des südlichen Libanon formuliert, nachdem mehrere IDF-Soldaten entführt und durch sehr umstrittene Gefangenaustauschaktionen freigelassen worden waren. Sie wurde lange Zeit geheim gehalten und ihr Inhalt nie veröffentlicht. Sie sollte  mit allen Mitteln verhindern, dass israelische Soldaten in feindliche Gefangenschaft geraten, wobei auch ihr Tod in Kauf genommen wird. Sie wurde mehrfach überarbeitet und im Jahr 2016 offiziell aufgegeben.

Die Anwendung der Richtlinie während des Angriffs am 7. Oktober, um die Entführung israelischer Staatsbürger zu verhindern, stellt eine Eskalation der angeblich aufgegebenen Politik dar und impliziert, dass die IDF lieber alle Israelis töten sollten, als zuzulassen, dass sie in die Hände der Hamas fallen.

Haaretz-Artikel vom 7. Juli 2024: „IDF befahl Hannibal-Direktive am 7. Oktober, um zu verhindern, dass die Hamas Soldaten gefangen nimmt“ [Photo: screenshot from Haaretz website]

In den neun Monaten, die seither vergangen sind, haben die IDF jede Aussage darüber verweigert, ob sie die Richtlinie auch bei zivilen Geiseln angewandt haben. Die Haaretz hat Dokumente und Zeugenaussagen ausgewertet, laut denen dieser und andere Befehle für einen Großteil der 1.222 Opfer verantwortlich waren, die am 7. Oktober getötet wurden – darunter Juden, israelische Palästinenser und Beduinen.

Bisher ist noch unbekannt, wie viele Zivilisten und Soldaten durch israelischen Beschuss getötet wurden, zumindest teilweise, weil keine Autopsien durchgeführt wurden, durch die die Todesursache und etwa die Art der eingesetzten Waffen hätte festgestellt werden können.

Laut dem offiziellen Narrativ der rechtsextremen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, das von seinen imperialistischen Hintermännern getreulich wiederholt wird, war die „Al-Aqsa-Flut“ am 7. Oktober ein unerwarteter und beispiellos barbarischer Angriff der Hamas, bei dem 1.222 Menschen getötet wurden. Er lieferte die notwendige Rechtfertigung für einen Krieg, der seit langem mit endlosen Provokationen gegen die Palästinenser angestrebt worden war, und dessen Ziel die Vernichtung der Hamas und die Durchführung eines Völkermordes im Gazastreifen sind.

Nur wenige Tage nach dem Angriff begann das Lügengebäude zu bröckeln. Es stellte sich heraus, dass die Operation alles andere als unerwartet kam, da Militär und Geheimdienste mehrfach gewarnt  worden waren und den Grenzschutz bewusst zur Untätigkeit angewiesen hatten. Nach dem Angriff kam es durch eine massive Militäroperation der IDF zu zahlreichen Todesopfern. Am 20. Oktober identifizierte Haaretz 331 getötete Soldaten und Polizeibeamte sowie weitere dreizehn Militärangehörige in Folge des Angriffs. Später wurde diese Zahl auf 377 Soldaten und Polizisten erhöht.

Dies deutet darauf hin, dass es zu erbitterten bewaffneten Kämpfen zwischen dem israelischen Militär und den Palästinensern kam, bei denen das Leben von Zivilisten für die IDF wenig zählte. Yasmin Porat, deren Partner getötet und die selbst im Kibbuz Be'eri als Geisel gehalten wurde, erzählte, die IDF hätten nicht nur auf die etwa 40 palästinensischen Eindringlinge im Gebäude geschossen, sondern auch auf die vierzehn Geiseln, unter denen sich auch zwei Kinder befanden. Sie bezeichnete das schwere Kreuzfeuer als „wahnsinnig“.

Hadas Dagan, ein weiterer Zeuge, bestätigte ihre Geschichte. Laut einem Bericht der New York Times erklärte der Kommandant der Division 99, Brigadegeneral Barak Hiram, er habe einen Panzerkommandanten angewiesen „trotz der Gefahr ziviler Todesopfer“ auf das Haus zu schießen. Die Familien der dreizehn Israelis, die bei dem Angriff getötet wurden, fordern von den IDF eine Untersuchung.

Die jüngsten Enthüllungen von Haaretz liefern weitere schlagende Beweise für Israels Rolle bei dem Massaker. Es hieß u.a.:

* Um 6:43 Uhr, als der Angriff mit einem Hagel aus Raketen und einem Angriff der Hamas und des palästinensischen Islamischen Dschihad auf Militärbasen begann, erklärte Brigadegeneral Avi Rosenfeld: „Die Philister sind eingefallen.“ Mit diesem Signal wurde der Einsatz von schwerem Beschuss innerhalb von israelischem Gebiet eingeleitet, der einen feindlichen Überfall abwehren sollte.

* Um 7:18 Uhr, nachdem Berichte aufgekommen waren, dass es am Grenzübergang Erez neben dem Verbindungsbüro der IDF zu Entführungen kam, gab das Divisionshauptquartier den Befehl aus, bei Erez „Hannibal anzuwenden“ und eine Angriffsdrohne des Typs Zik zu entsenden.

* Um 7:41 Uhr Uhr, als das Militär erkannte, dass die Hamas am Grenzübergang und dem Stützpunkt Soldaten getötet und entführt hatte, befahlen die IDF erneut, bei Erez Hannibal anzuwenden, um weitere Entführungen zu verhindern.

* Auch an zwei weiteren Orten wurde die Hannibal-Richtlinie angewandt: beim IDF-Divisionshauptquartier bei Re'im und dem Vorposten Nahal Oz, wo Späherinnen stationiert waren. Dennoch wurden fünfzehn Späherinnen und weitere 38 Soldaten getötet und sieben entführt.

*Um 10:19 Uhr und 10:22 Uhr wurden Angriffe von Zik-Drohnen auf den Stützpunkt Re'im gemeldet.

* Während diese Befehle nur für Stellungen und Basen des Militärs galten, wurden später weitere allgemeine Schießbefehle gegeben. Um 10:32 Uhr erhielten die IDF, angeblich von Brigadegeneral Rosenfeld, den Befehl zum Einsatz von Granatwerfern gegen den Gazastreifen, obwohl sich Soldaten und Zivilisten auf freier Fläche befanden oder sich in Wäldern vor palästinensischen Kämpfern versteckten.

* Um 11:22 Uhr gaben die IDF einen weiteren Befehl an ihre Division im Gazastreifen heraus, der noch weiter ging: Kein einziges Fahrzeug darf in den Gazastreifen zurückkehren.“ Ein Informant aus Militärkreisen erklärte gegenüber Haaretz: „Zu dem Zeitpunkt wusste jeder, dass sich in diesen Fahrzeugen entführte Zivilisten oder Soldaten befinden... Und jeder wusste, was es bedeutet, wenn kein Fahrzeug in den Gazastreifen zurückkehren darf.“

* Um 14 Uhr befahlen die IDF ihren Truppen, die Ortschaften nahe der Grenze zum Gazastreifen nicht zu verlassen, die zu diesem Zeitpunkt unter schwerem Beschuss standen, sodass sie zur Gefahrenzone wurden. Die Angreifer seien nicht zu verfolgen. Der Informant aus dem Militär erklärte gegenüber Haaretz: Die Anweisung sollte das Gebiet um den Grenzzaun in eine Todeszone verwandeln und nach Westen abschließen.“

* Um 18.40 Uhr, als der militärische Geheimdienst davon ausging, dass viele der Angreifer im oder in der Nähe des Kibbutz Be'eri, Kfar Azza und Kissufim gemeinsam in den Gazastreifen fliehen wollten, begann die IDF mit Artillerieangriffen auf den Grenzzaun in der Nähe einiger dieser Gemeinden und feuerte Granaten auf den Grenzübergang Erez.

Die Leitmedien haben den Bericht von Haaretz kaum erwähnt, da er die Behauptungen Israels – und damit den Vorwand für den völkermörderischen Krieg – untergräbt, die Hamas sei für die Mehrheit der zivilen Todesopfer verantwortlich.

Die Anwendung der Hannibal-Richtlinie wirft auch ein unangenehmes Licht auf das im israelischen Militär und in der Gesellschaft vorherrschende Ethos. Beispielhaft dafür sind die zahlreichen, von Soldaten geposteten Videos, in denen sie die Ermordung von wehrlosen Zivilisten und die Zerstörung von Städten und Dörfern verherrlichen. Das israelische Militär, das von faschistischen Elementen in der Regierung aufgestachelt wird, setzt im Westjordanland immer schneller Schusswaffen ein und unterstützt rechtsextreme Siedler bei Angriffen auf Palästinenser und deren Grundstücke.

Allgemein nehmen sich immer mehr israelische Bürger selbst das Recht heraus, angebliche Terroristen hinzurichten, ohne dass es deshalb zu Untersuchungen oder einem Prozess kommt. Im Jahr 2016 erschoss der Soldat Elor Azaria in Hebron einen palästinensischen Mann der ein Messer hatte, obwohl der bereits kampfunfähig war. Er verbüßte neun Monate wegen Totschlags, bevor er freigelassen wurde.

Letzten November wurde der israelische Zivilist Yuval Doron Kestelman, der bei einem Angriff in Jerusalem eingeschritten und die Angreifer getötet hatte, von einem Soldaten außer Dienst erschossen. Kestelman hatte seine Waffe fallengelassen, die Hände erhoben und seine Jacke geöffnet, um zu zeigen, dass er keinen Sprengsatz trug. Dennoch wurde er mit der Annahme getötet, er sei ein palästinensischer Kämpfer.

Itamar Ben-Gvir, rechtsextremer israelischer Abgeordneter und Vorsitzender der Partei Jüdische Stärke, nach den ersten Endergebnissen der israelischen Parlamentswahl, Jerusalem, 2. November 2022 [AP Photo/Oren Ziv]

Diese Politik des vorsätzlichen Tötens wird sich noch weiter ausweiten, da der faschistische nationale Sicherheitsminister und Vorsitzende der Jüdischen Stärke Itamar Ben-Gvir Feuerwaffen verteilt hat.

Die Enthüllung von Israels kriminellem Vorgehen gegen seine eigenen Staatsbürger entlarvt die Medien und das politische Establishment in den USA und ihren europäischen Verbündeten, die Israels Behauptungen über den Angriff am 7. Oktober uneingeschränkt unterstützt haben. Sie entlarven außerdem den Völkermord im Gazastreifen erneut als kriminelle Verschwörung des Netanjahu-Regimes und seiner imperialistischen Hintermänner.

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