„Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus“ erklärte Lenin inmitten des Massensterbens und der Barbarei des Ersten Weltkriegs. Die Reaktion der herrschenden Klasse in Deutschland auf den Zusammenbruch des Assad-Regimes in Syrien ist vollständig von dieser „Eigenschaft“ gekennzeichnet.
Politiker und Medien aller Couleur feiern die Machtübernahme islamistischer Milizen in Damaskus, plädieren für eine stärkere Rolle des deutschen Imperialismus in Syrien und in der gesamten Region und fordern die schnelle Rückkehr syrischer Flüchtlinge in das kriegsversehrte und nun von Al-Qaida-nahen Islamisten terrorisierte Land.
In seinem ersten Statement zur Situation bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) „das Ende der Assad-Herrschaft über Syrien“ als „eine gute Nachricht.“ Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich ähnlich. Man könne „nicht genau sagen, was jetzt in Syrien passiert. Aber klar ist: Das Ende Assads bedeutet für Millionen von Menschen in Syrien ein erstes großes Aufatmen nach einer Ewigkeit der Gräuel des Assad-Regimes.“
Führende Politiker der Oppositionsparteien im Bundestag und die zentralen Medien stoßen ins gleiche Horn und preisen die Islamisten in den höchsten Tönen. Einige der besonders abstoßenden Jubelkommentare in dieser Hinsicht finden sich in der Linkspartei-nahen Presse. „Revolution in Syrien mit Spätzünder“ lautete der Titel des ersten Kommentars im Neuen Deutschland. Er preist den „Erfolg der oppositionellen Gruppen“ als „beispiellos“ und phantasiert:
Erste offizielle Verlautbarungen lassen hoffen, dass der Übergang zu einem neuen Syrien tatsächlich ohne weiteres Leid vollzogen werden könnte. Der Anführer der Islamisten-Miliz Haiat Tahrir asch-Scham (HTS), Abu Mohammad Al-Dscholani, wies seine Kämpfer an, staatliche Institutionen nicht zu beschädigen; er versicherte auch, dass man keine Unterschiede zwischen Religionen oder Ethnien machen werde, alle seien Syrer.
Das entspricht der Propaganda der Bundesregierung, die ihrerseits die Islamisten verharmlost und mit ihnen zusammenarbeitet, um den Einfluss Berlins bei der imperialistischen Unterjochung Syriens und des gesamten Nahen Ostens zu sichern und den Einfluss Russlands und des Iran zurückzudrängen. Die HTS-Miliz habe in „den letzten Tagen Fakten geschaffen und, ob wir das wollen oder nicht, sie wird im weiteren Verlauf der Neuordnung Syriens eine Rolle spielen“, erklärte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Sebastian Fischer, in der Bundespressekonferenz am Montag.
HTS habe sich von der mit al-Qaida affiliierten al-Nusra-Front „getrennt“ und bemühe „sich darum, zumindest in ihren Äußerungen nach außen, einen anderen Kurs einzuschlagen“. Zudem habe sie „sich in den vergangenen Monaten und Jahren bemüht, sich von ihren jihadistischen Ursprüngen zu distanzieren“ und „in ihrem Herrschaftsgebiet in Idlib eine zivile Verwaltung aufgebaut“. Und ihre Führer hätten „in den letzten Tagen gesagt, dass sie z.B. zum Schutz von Minderheiten aufrufen oder vor Racheakten gewarnt“. Letztlich müsse man HTS „an ihren Taten messen“.
Die „Taten“ von HTS, die Politik und Medien bewusst ignorieren, sind so klar wie abscheulich. An Dscholanis Terror hat sich mit der Gründung von HTS nichts geändert. Zeigte er sich als Führer der al-Nusra-Front für zahlreiche Terroranschläge und Massaker an religiösen Minderheiten verantwortlich, errichteten er und seine Gefolgsleute zunächst in der syrischen Provinz Idlib einen islamistischen Terrorstaat, der nun auf ganz Syrien ausgeweitet werden soll. Zahlreiche Videos in den sozialen Medien zeigen, wie HTS-Islamisten in den vergangenen Tagen Christen, Alawiten oder Unterstützer der schiitischen Hisbollah-Miliz exekutiert haben.
Die Verherrlichung der sunnitisch-islamistischen Terrorkräfte geht Hand in Hand mit der Unterstützung des israelischen Regimes, das einen Genozid an den Palästinensern in Gaza verübt und nun auch Syrien massiv bombardiert und Teil des Landes mit Bodentruppen besetzt. In der Bundespressekonferenz verteidigte Fischer das völkerrechtswidrige Vorgehen mit den Worten, „dass es Israel in der unübersichtlichen Lage jetzt zunächst einmal darum geht, eine potenzielle Bedrohung abzuwehren“. „Das Einrücken der IDF in die Entflechtungszone auf dem Golan“ sei dabei lediglich „temporärer Natur“. Ein brutaler Angriffskrieg wird mit einer „potentiellen Bedrohung“ gerechtfertigt. Offener könnte man den vollständigen Bruch des Völkerrechts nicht verteidigen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius, der in den vergangenen Tagen die deutschen Truppen in Jordanien und im Irak besuchte, stellte sich ebenfalls voll hinter das zerstörerische Vorgehen der israelischen Armee. Man müsse die israelischen Angriffe angesichts der Lage in Syrien „in einem größeren Kontext sehen“ und als Maßnahme zur regionalen Sicherheit und darüber hinaus verstehen, erklärte er und fügte zynisch hinzu: „Die Vorstellung, dass beispielsweise Giftgaswaffen aus syrischen Fabriken in die falschen Hände geraten und eine Rolle spielen könnte bei islamistisch motivierten Anschlägen irgendwo auf der Welt, ist eine Vorstellung, die kaum erträglich wäre“.
Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Pistorius bringt es fertig, die Bombenkampagne Israels und das Eingreifen der imperialistischen Mächte im Nahen Osten mit dem „Krieg gegen den Terror“ zu rechtfertigen, während er gleichzeitig die de facto Machtübernahme von al-Qaida-nahen Islamisten in Damaskus unterstützt. Offensichtlich geht es Israel und seinen Unterstützern nicht um „Frieden“ und „Sicherheit“ im Nahen Osten, sondern darum, die gesamte rohstoffreiche und geostrategisch zentrale Region mit militärischer Gewalt zu unterwerfen und unter imperialistische Kontrolle zu bringen.
Vor allem Berlin, das von Anfang an eine zentrale Rolle beim Regimewechselkrieg in Syrien gespielt hat, sieht den Sturz von Assad als Chance sein politisches und militärisches Gewicht in der Region zu erhöhen. „Vor dem Hintergrund der veränderten Lage“ gehe es darum, die „Unterstützung“ und die „politische“ und „militärische Präsenz“ in der Region auszuweiten, „um bei der Stabilisierung einen wichtigen Beitrag zu leisten“, erklärte Pistorius in einem Live-Interview mit den Tagesthemen aus dem Irak. „Europa, Deutschland kann und darf sich nicht erlauben hier nur Zuschauer zu sein, dafür ist die Region zu wichtig.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Ganz offen brachte Pistorius eine Aufstockung der deutschen Truppen ins Spiel. „Es kann sein, dass wir unsere Kapazitäten hochfahren“, erklärte er. Etwa „bei der Ausbildung der Sicherheitskräfte und der Streitkräfte hier im Irak.“ Es könne „genauso bedeuten, dass wir in Erbil mehr machen.“ Es könne „aber auch bedeuten, dass wir mit den neuen Machthabern in Syrien [zusammenarbeiten], wenn sie denn die Chance nutzen, die sich ihnen jetzt bietet und schnell für etwas Ruhe sorgen können, auf der man aufsetzen kann“. Einer „der Fehler vor 13 Jahren“ sei gewesen, „dass sich keiner in Europa intensiv um Syrien gekümmert hat“ und man „das Feld am Ende Putin überlassen“ habe.
Deutlicher könnte Pistorius die reaktionäre Agenda des deutschen Imperialismus nicht auf den Punkt bringen. Die herrschende Klasse setzt auf Dscholanis HTS-Islamisten, um ihre imperialistischen Interessen in Syrien und der Region v.a. auch gegen Russland zu verfolgen und jede Opposition in der Arbeiterklasse mit brutalen Terrormethoden zu unterdrücken. Das gilt auch auch für die Massen von neuen Flüchtlingen, die versuchen werden, vor den islamistischen Todesschwadronen zu fliehen, wenn diese ihre Pogrome gegen Andersdenkende und „Ungläubige“ eskalieren.
Am Mittwoch legte das Auswärtige Amt einen sogenannten Acht-Punkte-Plan für die Neuordnung Syriens vor. Neben der zügigen Aufhebung von Sanktionen, einem „pragmatischen Ansatz“ gegenüber HTS und der Ernennung eines Sonderkoordinators für Syrien, um die „deutsche Präsenz“ nach dem Umsturz zu erhöhen, sieht der Plan auch die Rückführung syrischer Flüchtlinge vor. Im Plan ist zwar von einer „freiwilligen, sicheren und würdevollen Rückkehr“ die Rede, aber das ist lediglich die zynische Sprache der deutschen Abschiebebürokratie, mit der regelmäßig brutale Massendeportationen vorbereitet und gerechtfertigt werden.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Bearbeitung syrischer Asylanträge bereits Anfang der Woche ausgesetzt. Im Wahlkampf ergehen sich Vertreter aller Parteien in übler Hetze gegen die etwa eine Million syrische Flüchtlinge in Deutschland. So schlug der frühere Gesundheitsminister und Vizefraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Jens Spahn, zynisch eine „Prämie“ für jeden deportierten syrischen Flüchtling vor. „Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der zurück will nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1000 Euro.“
Ähnlich aggressiv äußerte sich die Vorsitzende des Linkspartei-Spaltprodukts BSW, Sahra Wagenkecht: „Von den Syrern, die hierzulande die Machtübernahme durch Islamisten bejubeln, erwarte ich, dass sie möglichst bald in ihr Heimatland zurückkehren.“ Fast wortgleich schrieb die Vorsitzende der faschistischen AfD, Alice Weidel, auf X: „Wer in Deutschland das ‚freie Syrien‘ feiert, bei dem liegt augenscheinlich kein Fluchtgrund mehr vor. Er sollte umgehend nach Syrien zurückkehren.“ Gegenüber dem Magazin Stern rief sie die Bundesregierung auf, umgehend „mit den Anrainerstaaten, die die aktuelle Situation begrüßen oder unterstützen, in Kontakt zu treten“.
Genau das tut die Scholz-Regierung. Laut dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung tauschte sich der Kanzler am Dienstagabend telefonisch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan „über die Lage und weitere Entwicklungen in Syrien“ aus. U.a. hätten sich die beiden Staatschefs darüber verständigt, „dass Syrien eine sichere Heimat für alle Syrer“ werden müsse.
Angesichts der Tatsache, dass das Erdogan-Regime selbst Teile Syriens besetzt hält und die HTS-Terroristen finanziert und bewaffnet, ist das eine zynische Drohung. Sie zielt darauf ab, die massenhafte Deportation von syrischen Flüchtlingen vorzubereiten und jede neue Fluchtwelle notfalls auch mit Gewalt zu stoppen. Eine neue Fluchtbewegung dürfe „nicht wieder passieren“, mahnte auch Pistorius im Interview mit den Tagesthemen und kündigte an, sich deshalb bereits im Januar mit seinem türkischen Amtskollegen zu treffen.