Minderheitsregierung in Sachsen öffnet Tor für Zusammenarbeit mit AfD

Am Mittwoch wurde Michael Kretschmer (CDU) erneut zum Ministerpräsidenten von Sachsen gewählt. Er führt eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD, die im Landtag nur über 51 von 120 Mandaten verfügt. Trotzdem erhielt Kretschmer im zweiten Wahlgang 69 Stimmen, 18 mehr als die Regierungskoalition hat. Offenbar stimmten fast alle 15 Abgeordneten des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) und 6 Abgeordneten der Linken für ihn.

Michael Kretschmer (CDU) nach seiner Wiederwahl zum sächsischen Ministerpräsidenten [Photo: Nikolai Schmidt]

Anders als im benachbarten Thüringen, wo das BSW in einer Koalition mit der CDU und der SPD regiert, waren Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung des BSW in Sachsen Mitte November gescheitert. Doch hinter den Kulissen gab es Absprachen, das BSW und Die Linke in die Regierungsarbeit einzubinden.

Kretschmer bestätigte dies nach der Wahl. Das Wahlergebnis sei „nicht vom Himmel gefallen“, erklärte er. CDU und SPD hätten in den vergangenen Wochen viele Gespräche mit „verantwortungsbewussten Kollegen und Fraktionen“ geführt. Sie hätten dazu beigetragen, „dass wir heute nicht im Chaos versinken“. Er lobte die „verantwortungsvolle Opposition“ und forderte sie auf: „Arbeiten Sie alle mit.“

Auch BSW-Chefin Sahra Wagenknecht bestätigte, dass es Absprachen mit Kretschmer gegeben hat. Man habe bei der Regierungsbildung in Dresden kein Chaos stiften wollen, sagte sie. Die BSW-Abgeordneten hätten „gewisse Zusagen“ bekommen und daher die Wahl von Kretschmer unterstützt. Über den Inhalt der Zusagen blieb Wagenknecht betont vage. Es sei versprochen worden, in bestimmten Bereichen kein Geld zu streichen und dass „bestimmte Initiativen“ für Frieden möglich würden, behauptete sie.

Die Linke hatte bereits am Tag vor der Wahl angedeutet, Kretschmer zu unterstützen. Sie wolle im Landtag als „verantwortungsvolle Opposition“ auftreten und bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen mitwirken, sagte Co-Landesparteichef Stefan Hartmann. Er kritisierte das BSW, weil es die Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung abgebrochen hatte. „Selbst wir hätten nicht damit gerechnet, dass die Fassade der Verantwortung beim BSW so schnell zusammenbricht,“ erklärte Hartmann.

Die Minderheitsregierung des rechten CDU-Politikers Kretschmer stützt sich aber nicht nur auf das BSW und Die Linke, sondern auch auf die AfD, die in Sachsen vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird. CDU und SPD haben einen sogenannten Konsultationsmechanismus vereinbart, mit dem sämtliche Oppositionsparteien in die Regierungsarbeit eingebunden werden. Die „Brandmauer“ gegen die Rechtsextremen, die sie sonst so gern beschwören, erweist sich damit als offenes Scheunentor.

Die Regierung wird in Zukunft Vorschläge und Gesetzesentwürfe frühzeitig dem Landtag übermitteln, damit alle Abgeordneten, Fraktionen und Gruppen Anregungen geben können, die dann eingearbeitet werden, bevor der Landtag sich offiziell damit befasst. „Damit schaffen wir die Möglichkeit, dass wirklich alle mitwirken können“, begründete dies Kretschmer. „Wir wünschen uns, dass in diesem Sächsischen Landtag miteinander gesprochen wird und dass es möglich ist, parteiübergreifende Kompromisse zu finden.“

Die AfD schloss er dabei ausdrücklich mit ein. Er wolle sie, so Kretschmer, aus ihrer „Märtyrerrolle“ herausholen. Sie könne dann nicht mehr sagen, niemand rede mit ihr und sie habe keine Möglichkeit, Dinge zu beeinflussen.

Wenn Kretschmer gleichzeitig behauptet, man bleibe bei der Abgrenzung von der AfD und es werde keine Zusammenarbeit mit ihr geben, oder wenn der SPD-Landesvorsitzende Henning Homann betont, AfD-Abgeordnete würden „mit ihren ketzerischen, antisozialen Thesen keinen praktischen Einfluss auf Politik in Sachsen“ erhalten, ist das offensichtlich absurd. Konsultation ist Zusammenarbeit. Wozu soll die AfD konsultiert werden, wenn es keine politischen Folgen hat?

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich Kretschmer am 4. November, also genau einen Tag vor Abbruch der Sondierungen mit dem BSW, mit dem sächsischen AfD-Chef Jörg Urban in der Staatskanzlei traf. Es war das erste derartige Gespräch mit dem seit 2017 amtierenden Vorsitzende der AfD-Fraktion. Hinterher hieß es, man habe über „landespolitische Themen“ gesprochen und über Einzelheiten Vertraulichkeit vereinbart.

Letzte Woche schlug Urban dann sogar eine von der AfD unterstützte CDU-Alleinregierung vor. Gemeinsam habe man mit 81 Sitzen im Landtag eine „stabile rechtskonservative Mehrheit“, erklärte er. Die CDU solle das Risiko eingehen und sich völlig frei und ohne die SPD in eine Regierung begeben, ergänzte AfD-Generalsekretär Jan Zwerg. Mit der sogenannten „Heimatunion“ um den Landtagsabgeordneten Sven Eppinger hat diese Idee auch innerhalb der CDU Unterstützer.

Die AfD stimmte schließlich am Mittwoch – soweit dies aus der geheimen Abstimmung ersichtlich ist – gegen Kretschmer. Im ersten Wahlgang erhielt AfD-Fraktionschef Jörg Urban 40 Stimmen, das entspricht exakt der Zahl der AfD-Abgeordneten im Landtag. Im zweiten Wahlgang bekam dann Urban nur noch eine Stimme, dafür entfielen 39 auf Matthias Berger, den einzigen Abgeordneten der Freien Wähler. Die AfD hatte offenbar vor, Berger in einem Überraschungscoup zum Ministerpräsidenten zu küren, wie sie dies 2020 in Thüringen mit dem FDP-Politiker Thomas Kemmerich getan hatte.

Das Manöver misslang, weil Die Linke und das BSW Kretschmer wählten und sich elf Abgeordnete enthielten. Darunter befanden sich die sieben Vertreter der Grünen, die ein Votum für Kretschmer an die Bedingung geknüpft hatten, dass er die Ukraine stärker unterstützt. Aber auch die Grünen bekräftigten ihre grundsätzliche Bereitschaft zur weiteren Zusammenarbeit mit Kretschmer, an dessen Regierung sie während der letzten vier Jahre beteiligt waren.

Dass die AfD Kretschmer nicht wählte, schließt eine zukünftige Zusammenarbeit nicht aus. Inhaltlich liegen sie eng beieinander. Die Kernpunkte des AfD-Programms – Flüchtlingshetze, Law and Order, militärische Aufrüstung und Austeritätspolitik – sind von den anderen Parteien längst übernommen worden. Die entsprechenden Passagen im Koalitionsvertrag von CDU und SPD könnten von der AfD stammen.

So verpflichtet sich die neue Regierung, „die Anzahl der Polizeibediensteten bis zum Ende der Legislaturperiode auf 15.000 zu erhöhen“. Die Polizei soll enger mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeiten, das Landeskriminalamt und der Verfassungsschutz personell und technisch gestärkt, eine sächsische Grenzpolizei eingerichtet und die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) ermöglicht werden.

Unter Migranten sollen zwar Fachkräfte angeworben, der Rest aber brutal abgeschoben werden. „Personen, die keine Bleibevoraussetzungen erfüllen, müssen unser Land grundsätzlich auf schnellstem Weg wieder verlassen,“ heißt es im Koalitionsvertrag. „Wer nicht freiwillig ausreist, wird abgeschoben.“

Verbesserungen, die der Vertrag im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich verspricht, stehen alle unter Finanzierungsvorbehalt. Das heißt, sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen.

„Die derzeitige schwierige wirtschaftliche Lage Deutschlands und damit einhergehend die stagnierenden Steuereinnahmen haben zur Folge, dass uns die Aufstellung strukturell ausgeglichener Haushalte vor enorme Herausforderungen stellt,“ heißt es dazu im Koalitionsabkommen. „Wir müssen daher in den kommenden Jahren im Staatshaushalt klare Prioritäten setzen.“

Im Landeshaushalt klafft ein gewaltiges Finanzloch von 4 Milliarden Euro. Finanzminister Hartmut Vorjohann (CDU) musste einen Haushaltsentwurf zurückziehen, der in einigen Bereichen Kürzungen um 50 bis 80 Prozent vorsah, weil sich das bisherige Kabinett nicht darauf einigen konnte.

Hinter der – für deutsche Verhältnisse ungewöhnlichen – Minderheitsregierung in Sachsen verbirgt sich in Wirklichkeit also eine Allparteienkoalition, die von der Linken und dem BSW über die Grünen, die SPD und die CDU bis zur AfD reicht. Die etablierten Parteien rücken enger zusammen und weiter nach rechts, weil sie im Konflikt zur breiten Mehrheit der Bevölkerung stehen, die nicht bereit ist, Krieg, Sozialabbau, sinkende Löhne und Arbeitsplatzverlust hinzunehmen.

Sachsen ist hier keine Ausnahme. Überall auf der Welt reagieren die Herrschenden auf die tiefe Krise des Kapitalismus mit einem scharfen Ruck nach rechts. Das zeigt der Aufstieg von Faschisten wie Donald Trump, Georgia Meloni, Geert Wilders und Javier Milei in höchste Staatsämter.

Sachsen, seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiger Industriestandort, hat sich nie vom Kahlschlag nach der Auflösung der DDR erholt. Nun sind auch die Arbeitsplätze in Gefahr, die seither neu entstanden sind – die VW-Werke in Zwickau, Chemnitz und Dresden, die zahlreichen von ihnen abhängigen Unternehmen, die mit Milliarden subventionierte Chip-Industrie im Raum Dresden, und viele mehr.

Arbeiter müssen sich auf die sozialen Angriffe vorbereiten, indem sie mit der Allparteienkoalition und den mit ihr verbundenen Gewerkschaften brechen und eine neue Partei aufbauen, die für die internationale Einheit der Arbeiterklasse und eine sozialistische Gesellschaft kämpft, in der die gesellschaftlichen Bedürfnisse Vorrang vor den Profitinteressen der Reichen haben – die Sozialistische Gleichheitspartei.

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