Am 12. Dezember 2024 verkündete das Dortmunder Landgericht das Urteil im seit einem Jahr andauernden Prozess um den Tod des jungen Flüchtlings Mouhamed Dramé. Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm sprach alle fünf angeklagten Polizisten frei.
Der Richter folgte damit vollständig der Argumentation der angeklagten Polizisten, die angaben, in Notwehr gehandelt zu haben. Den beiden Brüdern Mouhameds, die beim Prozess anwesend waren, sah man die Enttäuschung über den Prozessausgang an. Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed hatte zu Spenden für die Familie des Getöteten aufgerufen, damit sie dem Prozess beiwohnen konnten.
Der Freispruch traf bei zahlreichen Dortmundern, die den Prozess verfolgt und eine Bestrafung der Täter erwartet hatten, auf Empörung und Entsetzen. „Das war Mord“, skandierten sie und formierten sich spontan zu einer Demonstration. Auch am folgenden Tag demonstrierten 1500 bis 2000 Menschen gegen das Urteil. Es reiht sich ein in zahlreiche Freisprüche von Polizisten, die in den vergangenen Jahren Menschen getötet haben, von denen viele wie Dramé psychisch gestört waren oder sich anderweitig in hilflosem Zustand befanden.
Der Fall Dramé stellt sich bei genauer Betrachtung so dar, dass die vom Gericht angenommene Gefährdung der Polizisten, wie oft bei psychisch kranken Tätern, erst durch den Polizeieinsatz entstanden war. Denn der junge Flüchtling hatte nach Zeugenaussagen keinen aggressiven Eindruck gemacht und allenfalls sich selbst gefährdet.
Was war am 8. August 2022 im Innenhof der St.Antonius-Gemeinde in Dortmund (NRW) geschehen?
Der jugendliche Senegalese Mouhamed Dramé war erst vor Kurzem in die katholische Jugendhilfeeinrichtung eingewiesen worden und kaum ansprechbar. Sein Alter hatte er mit 16 Jahren angegeben, er sei Waise und sein Bruder auf der Flucht ertrunken. Er machte diese Angaben vermutlich, um seine Chancen auf Asyl zu verbessern. Vielleicht hatte er auch einfach Sprachprobleme.
Spätere Recherchen ergaben, dass seine Familie lebt und dass er etwas älter war. Nicht sein Bruder, sondern ein Freund, der mit ihm aufgewachsen war, soll bei der Überfahrt von Marokko nach Spanien ertrunken sein. Eine Narbe im Nacken deutete auf eine schwere Verletzung bei der Flucht hin. Seine falschen Angaben wurden in einigen Presseartikeln und Kommentaren verwendet, um ihn als lügenhaften Wirtschaftsflüchtling darzustellen, dem gewissermaßen Recht geschehen sei.
Die Mitarbeiter der Einrichtung erklärten, die Verständigung mit ihm sei schwierig gewesen, da er kein Deutsch sprach, sondern nur seine Muttersprache Wolof, etwas Schulfranzösisch und ein paar Brocken Spanisch. Sie verständigten sich mit ihm per Hand und Fuß, berichtete ein Sozialarbeiter.
Am 8. August 2022 kauerte der offensichtlich traumatisierte und depressive junge Flüchtling apathisch in einer Ecke des Innenhofs der Antoniuskirche. In seiner Hand hatte er ein Küchenmesser mit einer ca. 16 cm langen Klinge, das auf seinen Bauch gerichtet war. Er hatte sein rotes T-Shirt wie einen Turban um den Kopf gebunden, sein Oberkörper war nackt.
Nachdem ihn ein Betreuer vergeblich aufgefordert hatte, das Messer fallen zu lassen, und er auf Ansprache nicht reagierte, rief der Einrichtungsleiter bei der Polizei an und schilderte die Situation. Er war offenbar im Zweifel, ob er nicht lieber einen Psychiater zu Rate ziehen sollte. Er teilte der Polizei mit, dass er nicht wisse, ob er bei ihnen richtig sei. Dies wurde von der Polizei bestätigt.
Im Nachhinein ist völlig klar, dass die Polizei hier fehl am Platz war. In Deutschland gibt es keine Institution mit einer Nummer für psychologische Nothelfer. Das ist Teil der insgesamt miserablen psychiatrischen Versorgung in Deutschland.
Die Polizei rückte mit zwölf Beamten und Beamtinnen an, die zunächst vergeblich versuchten, Kontakt mit Mouhamed aufzunehmen. Es war offensichtlich, dass er psychisch gestört war. Noch am Vortag seines Todes war er auf eigenen Wunsch wegen Suizidgefahr in eine psychiatrische Klinik gebracht worden, war jedoch wieder entlassen worden, nachdem er beteuert hatte, dass er auf keinen Fall Suizid begehen wolle. Auch diese Entlassung war angesichts der Verständigungsprobleme mit ihm möglicherweise fahrlässig.
Oberstaatsanwalt Carsten Dombert bewertete im Prozess die Lage als „eine statische Situation“. Er erkannte darin keine konkrete Gefahr. „Es wäre Zeit genug gewesen, Hilfe zu holen“, meinte er. Richter Kelm sah das anders. Er bezeichnete das als „völlig daneben“ – „Das wäre zu spät gekommen“ – und folgte den Argumenten der Polizei.
Der Dienstgruppenleiter der angerückten Einsatzgruppe hatte, ohne Dramé vorher aufzufordern, das Messer fallen zu lassen, den massiven Einsatz von Pfefferspray angeordnet, um den Jugendlichen zu entwaffnen. Vor Gericht verteidigte er sich so: „Hätte ich warten sollen, bis er (Dramé) sich das Messer in den Bauch rammt, und dann stehen da zwölf Polizisten rum und machen nichts?“ Aber für eine derartige Reaktion Dramés gab es keinerlei Anzeichen, er hatte sich 20 bis 30 Minuten lang nicht gerührt.
So erging der Befehl: „Vorrücken und einpfeffern.“ Eine Beamtin sprühte sechs Sekunden lang Reizgas auf Dramé. Doch dieser ließ das Messer nicht fallen. Der Befehl wurde wiederholt und die anderen Beamten wurden aufgefordert, schlagartig vorzurücken und „das volle Programm“ an Pfefferspray einzusetzen.
Es ist bekannt, dass ein derartiger Reizgaseinsatz oft nicht zur gewünschten Reaktion führt, sondern beim Betroffenen einen Schockzustand oder einen Krampf auslöst, so dass er zu einem rationalen Verhalten nicht mehr fähig ist. Dramé hob nach dem Reizgaseinsatz nur den Kopf und richtete sich auf. Nun wurden zwei Taser eingesetzt, die Dramé aber nicht stoppen konnten, obwohl die Taser ihn, wie es in der Anklageschrift heißt, in Penis und Unterbauch trafen.
Die Polizei behauptet, Mouhamed sei daraufhin mit dem Messer auf sie zu gerannt. Augenzeugen zweifeln das an. Er habe sich langsam in die einzig mögliche Fluchtrichtung bewegt. Da die Polizisten sich rechts von ihm, seinem einzigen Ausweg, aufgebaut hatten und es keinen anderen Weg aus seiner Nische heraus gab, sei er mit dem Messer in der Hand langsam auf die Beamten zugegangen. Nur Sekunden danach feuerte ein als Sicherungsschütze eingeteilter Polizist mit einer Maschinenpistole auf Mouhamed Dramé. Er wurde von fünf Schüssen niedergestreckt und starb kurz darauf im Krankenhaus.
Es wird offenbar nicht hinterfragt, weshalb bei solchen Einsätzen eine derartige Kriegswaffe zur Anwendung kommt, außer dass die Polizei immer mehr für den Bürgerkrieg ausgerüstet und ausgebildet wird.
Wie üblich, ging das Gericht bei der Beweisaufnahme in erster Linie von den Ermittlungsberichten der Polizei aus. Zusätzlich verfügte sie über die Tonaufnahmen des gesamten Funk- und Telefonverkehrs, die aber ebenfalls vor allem die Polizeiansicht vermittelten. Die Bodycams der Polizei waren insgesamt ausgeschaltet, was allerdings vorgeschrieben ist, wenn bei Einsätzen psychisch Kranke involviert sind.
Die Staatsanwaltschaft legte am 16. Dezember Berufung gegen das Urteil ein. Sie hatte für den Dienstgruppenführer, der den Einsatz von Pfefferspray und Tasern befohlen hatte, eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten wegen fahrlässiger Tötung gefordert und sein Verhalten „als Verleitung einer untergebenen Person zur gefährlichen Körperverletzung im Amt“ gewertet.
Sie hatte festgestellt, dass eine Flucht von Dramé aus seiner Nische faktisch nicht möglich war. Eine konkrete Gefährdung von unbeteiligten Dritten bestand also nicht. Für die anderen vier Angeklagten hatte sie Freispruch gefordert, weil sie den Anweisungen ihres Vorgesetzten gefolgt waren. Was den Todesschützen angehe, so habe er in Putativnotwehr gehandelt, d.h. er sei irrtümlich von akuter Lebensgefahr für sich und seine Kolleginnen und Kollegen ausgegangen.
Die Verteidiger der fünf angeklagten Polizisten hatten auf Freispruch für alle Beteiligten plädiert.
Die Anwältin Lisa Grüter, die Dramés Familie als Nebenklägerin vertritt, kündigte an, ebenfalls in Revision zu gehen und das gesamte Urteil überprüfen zu lassen. Sie geht auch davon aus, dass es sich bei dem Einsatz und seinen Folgen um strukturellen Rassismus gehandelt haben könnte, was von allen Polizisten vehement bestritten wird.
Bei genauer Betrachtung hatte die Polizei ihre vermeintliche Notwehrlage erst durch ihre eigene Gewaltanwendung provoziert. Wie Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung feststellte:
Seit Jahren werden in Deutschland Polizisten zu Einsätzen geschickt, zu denen man eigentlich keine Polizisten schicken sollte. Wenn es gilt, in psychischen Ausnahmesituationen zu deeskalieren oder zu schlichten (und das ist in deutschen Großstädten tagtäglich der Kern von sehr vielen Krisen, zu denen die Polizei gerufen wird), dann ist das Erscheinen von schwer bewaffneten, uniformierten Beamten oft der Beginn neuer Probleme.
Seit 2010 sind mindestens 133 Menschen in Deutschland von Polizisten erschossen worden. Davon könnten mindestens 63 psychisch krank oder suizidal gewesen sein oder sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben. Der Dortmunder Prozess war einer von ganz wenigen, bei denen es überhaupt zu einer Anklage gegen Polizeibeamte kam, die an einem Einsatz mit tödlichem Ausgang für das Opfer beteiligt waren. Im Durchschnitt landen nur 22 Prozent aller Verfahren gegen Polizeibeamte vor Gericht.
Der emeritierte Bochumer Professor Thomas Feltes erklärte gegenüber ntv zum Dortmunder Prozess: „Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass in einem Verfahren gegen fünf Polizeibeamte Anklage wegen eines Tötungsdeliktes erhoben wird.“
Ein Blick auf die absoluten Zahlen zeigt, dass es 2022 laut dem Statistischen Bundesamt 5043 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten gab. Vor dem Amtsgericht endeten nur 96 dieser Fälle. Nur etwa zwei Prozent aller Anzeigen gegen Polizisten kommen in Deutschland zur Anklage. Laut einer Studie des Frankfurter Kriminologen Tobias Singelnstein werden mehr als 90 Prozent aller Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf unrechtmäßige Polizeigewalt wieder eingestellt. Insofern stellt das Verfahren, das in Dortmund geführt wurde, eine Besonderheit dar.
Wie das Dortmunder Urteil zeigt, setzen der Staat und seine Gewaltorgane, einschließlich der Gerichte, zunehmend nicht auf Deeskalation, sondern auf Konfrontation und den Einsatz von Gewaltmaßnahmen und -mitteln. So erklärte ein internes Papier aus dem NRW-Innenministerium schon Ende der 2010er Jahre, die Polizei müsse „an Robustheit deutlich zulegen“ und „durchsetzungsstark und damit gewaltfähig“ werden.
Allenthalben, besonders nach dem Attentat in Solingen und dem tödlichen Angriff auf einen Polizisten in Mannheim, wird nach Law and Order und einer noch restriktiveren Abschiebungspolitik gerufen. In jüngster Zeit wurde mit deutlich rassistischen Untertönen eine heftige Messer-Debatte geführt und die diesbezügliche Gesetzeslage verschärft.
Alle Parteien, von der regierenden SPD und den Grünen über FDP und CDU/CSU bis zur Linken und der Wagenknecht-Partei, übernehmen die Politik der rechtsextremen AfD und rufen nach massiver polizeilicher Aufrüstung. Gerichte gehen rigoros gegen Demonstranten oder Klimaaktivisten vor, die als Mitglieder krimineller Vereinigungen behandelt und entsprechend hart verurteilt werden.
Letztendliches Ziel dieser Politik ist die Arbeiterklasse, die angesichts der massiven Angriffe auf ihre Arbeitsplätze, ihre Rechte, Lebens- und Arbeitsbedingungen vor großen Kämpfen steht.