Die Proteste in Griechenland gehen weiter, nachdem es Ende Januar sowohl in dem Land selbst als auch weltweit Massendemonstrationen gegeben hatte, auf denen die Teilnehmer Gerechtigkeit für die 57 Todesopfer beim Zugunglück von Tempi 2023 sowie ein Ende der staatlichen Vertuschung forderten.
Letzten Freitag gingen landesweit Tausende von Schülern und Studierenden auf die Straße. Demonstrationen fanden in der Hauptstadt Athen, der zweitgrößten Stadt Thessaloniki sowie in Larissa, Patras, Serres, Volos, Chania und Heraklion statt. (Video zu den Protesten in Athen, siehe unten)
Die Gewerkschaft der Lehrer an weiterführenden Schulen OLME rief zu einer dreistündigen Arbeitsniederlegung auf, zeitgleich mit den Demonstrationen der Schüler und Studierenden.
Den Anlass für die Proteste im Januar bildete die Veröffentlichung von erschütterndem Tonaufnahmen, die darauf hindeuten, dass etwa 30 der 57 Opfer nach dem Zusammenstoß noch eine Zeit lang lebten. Sie sind wahrscheinlich erstickt oder an Verbrennungen gestorben, da es beim Zusammenstoß zu einer gewaltigen Explosion kam und die vordersten Waggons in Brand gerieten. Eine junge Passagierin, die die europäische Notrufnummer 112 anrief, um den Vorfall zu melden, ist in ihren letzten Momenten zu hören, wie sie keucht: „Ich habe keinen Sauerstoff.“ Diese Worte wurden bei den Protesten im Januar zur Hauptlosung.
Drei Tage nach den Protesten vom 26. Januar ging die Regierung der konservativen Nea Dimokratia (ND) zu umfassender Schadensbegrenzung über. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis gab den Abendnachrichten von Alpha TV dazu ein Interview. Anstatt seine Position zu retten, belastete sich Mitsotakis nur noch mehr. Er widersprach seinem früheren Narrativ, alle Behauptungen über eine Vertuschung seien „Verschwörungstheorien“, und erklärte: „Auf der Grundlage dessen, was ich heute weiß, hätte ich niemals das gesagt, was ich damals erklärt habe.“ Damit meinte er seine frühere Behauptung, der Güterzug, der in den Personenzug gerast war, sei nicht mit entzündlichem Material beladen gewesen, das den riesigen Feuerball verursachte, durch den mehr Menschen getötet wurden als durch den ursprünglichen Zusammenstoß.
Laut dem Bericht eines Staatsanwalts an das griechische Parlament wurden unmittelbar nach dem Zusammenstoß etwa 300 Kubikmeter Erdreich sofort entfernt und der Bereich mit Kies aufgefüllt, offenbar um die Tatsache zu verbergen, dass der Güterzug, der mit dem Personenzug zusammengestoßen war, illegales, entflammbares Material geladen hatte, das die Explosion verursachte. Laut einem Bericht an das griechische Parlament sei die Abtragung des Erdreichs erfolgt, „ohne dass eine Behörde ihre Zustimmung gegeben hätte“. Mitsotakis behauptete: „Falls bestimmte Entscheidungen im Ablauf getroffen wurden, um den Boden zu stabilisieren und den Einsatz eines Krans zu ermöglichen, um den Zug anzuheben und zu sehen, was darunter liegt, so weiß ich nichts davon und soll es auch nicht wissen. Allerdings bin ich mir sicher, dass alles in guter Absicht geschah. Und diese Absicht bestand in dem Moment nicht darin, irgendetwas zu vertuschen.“
Seine ohnehin schon fadenscheinigen Behauptungen wurden schon einen Tag später widerlegt, als der Journalist Vassilis Lambropoulos auf Mega Channel Details aus schriftlichen Erklärungen von Polizeibeamten enthüllte, die nach dem Zusammenstoß für die Unglücksstelle zuständig waren: „Polizeibeamte wurden am Abend des 3. März, drei Tage nach dem Unfall zu einer Besprechung an die Unglücksstelle bestellt, wo eine Reihe von Regierungsvertretern Druck auf sie ausübte, obwohl sie erklärten, das Gebiet dürfe nicht mit Kies bedeckt werden, da die Autopsien noch liefen. Die Erlaubnis könne nur von Gerichten erteilt werden. Diese wurden jedoch letzten Endes übergangen.“
Als Regierungsvertreter, die dort anwesend waren, wurden unter anderem Christos Triantopoulos, damals Minister beim Büro des Ministerpräsidenten, und Yiannis Xifafas vom Verkehrsministerium genannt.
Dass Triantopoulos bei der Vertuschung eine führende Rolle gespielt hat, war von Anfang an klar. In einem Interview von März 2023, nur wenige Wochen nach der Katastrophe, erklärte er: „Ich war, wie die Dinge sich ergaben, fünf Tage lang auf Anweisung des Ministerpräsidenten [an der Unglücksstelle], um die Situation zu regeln.“
Im Mai letzten Jahres tauchten Berichte auf, laut denen die Umstände der Katastrophe auf Anweisung der Regierung vertuscht wurden. Angehörige erstatteten daraufhin Anzeige gegen Triantopoulos wegen der Rolle, die er dabei spielte.
Als Reaktion auf die Enthüllungen beantragte die sozialdemokratische Pasok eine parlamentarische Untersuchung zu Triantopoulos' Rolle bei der Vertuschung, woraufhin er aus der Regierung austrat. Die Anklage gegen Triantopoulos war bereits im August letzten Jahres von den Gerichten dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt worden, in Übereinstimmung mit dem griechischen Gesetz über Strafverfahren gegen amtierende Minister. Die Vorgänge wurden damals von der konservativen Tageszeitung Estia aufgedeckt, allerdings wurde nicht viel darüber berichtet. Der damalige Parlamentssprecher Konstantinos Tasoulas von der ND legte dem Parlament die Anklagen jedoch nicht vor. Noch verheerender war, dass er dabei von der pseudolinken Syriza (Koalition der radikalen Linken) unterstützt wurde, deren führende Vertreter umfassend über die Vorwürfe informiert waren.
Dies wurde letzte Woche deutlich, als die stellvertretende Parlamentspräsidentin und Syriza-Abgeordnete Olga Gerovasili erklärte: „Die Vorwürfe wurden von Syrizas Anwälte-Team geprüft.“ Gerovasili sagte weiter: „Wir hielten es für verfrüht, Maßnahmen zu ergreifen, bevor weiteres Material vorliegt.“ Sie bestätigte außerdem, dass die Verfahrensakte dem Parlament nie vorgelegt wurde.
Gerovasili rechtfertigte diesen Verstoß gegen das Protokoll mit der Behauptung: „Die parlamentarischen Regeln sind nicht eindeutig in der Frage, ob derartiges Material bekannt gegeben werden sollte, und dass dies nach eigenem Ermessen geschehen kann.“ Sie schlussfolgerte aus Syrizas Untätigkeit: „Nachdem wir alle Beweise geprüft haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass nur ein geringfügiges Vergehen vorlag.“
Die Vertreterin der Angehörigen der Opfer von Tempi, Maria Karystianou, kritisierte Gerovasili in einem Post auf Twitter/X: „Ihre heutige irreführende Aussage, mit der Sie eine Regierung decken wollen, die sowohl verantwortlich als auch entlarvt ist, gibt Anlass zu ernsten Zweifeln an Ihren eigenen Motiven.“
Die Katastrophe in Tempi ereignete sich zwar in der Amtszeit der ND, doch Syriza ist ebenso daran interessiert, die Ermittlungen einzustellen, weil sie genauso in das Verbrechen verwickelt ist wie alle früheren konservativen und sozialdemokratischen Regierungen, die Griechenlands Eisenbahnsystem zerstört und gefährlich gemacht haben. Das wurde bei den Protesten der Studierenden vor zwei Wochen deutlich – eine der Parolen lautete: „Syriza, Pasok, Nea Dimokratia, dieses Verbrechen hat eine Geschichte!“
Während die offizielle Version der Regierung immer mehr ins Wanken gerät, gehen die Bemühungen, die Vertuschung aufrechtzuerhalten, weiter. Letzte Woche tauchten neue Aufnahmen von Überwachungskameras auf, die der Anwalt der Sicherheitsfirma, die mit der Verwaltung des Videoüberwachungssystems der Eisenbahn beauftragt war, der Justiz übergab.
Die Videos sollen den Güterzug am Abend des Unfalls ohne Tankwagen und ohne sichtbare Ladung in den ersten drei Waggons zeigen. Ihre Veröffentlichung auf dem X-Account des regierungsfreundlichen Journalisten Aris Portosalte war offensichtlich Teil eines inszenierten Versuchs, das offizielle Narrativ zu stützen, die Explosion sei durch Silikonöl aus den Transformatoren des Personenzugs ausgelöst worden.
Diese Version wurde nicht nur von dem Bericht widerlegt, den die Familien der Opfer in Auftrag gegeben hatten, sondern auch von einem weiteren Bericht der Technischen Hochschule Athen, die Silikonöl als Ursache der Explosion ebenfalls verworfen hat. Kostas Lakafosis, einer der Experten, die von den Familien beauftragt wurden, erklärte letzte Woche gegenüber dem griechischen Finanzmagazin Naftemporiki: „Der Technischen Hochschule Athen wurden einige sehr spezifische und sehr klare Fragen gestellt, die nichts mit den Videos zu tun haben. Können die Silikonöle zu diesem Resultat geführt haben? Zu diesem riesigen Feuerball mit einem Durchmesser von 80 Metern, der zehn Sekunden anhielt?“
Pavlos Aslanidis, der bei dem Zusammenstoß seinen Sohn Dimitridis verloren hat, erklärte letzte Woche gegenüber AN1 TV zum plötzlichen Auftauchen der Videos: „Sie wollen wahrscheinlich die Aufmerksamkeit von der Explosion und dem Feuer mit 27 Toten ablenken. Es ist eine Ablenkung.“
Stelios Sourlas, der Anwalt der Familien, erklärte letzte Woche in den Nachrichten des Mega Channel: „Ich bestreite direkt die Echtheit der Videos.“ Er forderte, deren Echtheit von der Kriminalpolizei untersuchen zu lassen, und nicht von den Experten, die vom Berufungsrichter Sotiris Baikamis ernannt wurden, diese diese „die gleichen sind, die zu dem Schluss kamen, dass die Explosion auf Silikonöle zurückgehe“. Am Donnerstag bestätigte Baikamis’ Team die Echtheit der Videos.
Recherchen des Meinungsforschungsinstituts Public Issue kamen zu dem Schluss, dass die ersten Tempi-Proteste im Januar 2023 sogar noch größer waren als die Massenproteste gegen die Sparpolitik der Pasok-Regierung 2011, und auch größer als diejenigen gegen die brutalen Rentenkürzungen und Sparmaßnahmen der Syriza-Regierung im Jahr 2016. Eine Grafik von Public Issue zu den Recherchen (siehe unten) kam zu folgendem Schluss: „Ohne die Personen unter 17 Jahren haben sich Schätzungen zufolge im Jahr 2023 nach der Katastrophe 2,5 Millionen Menschen an Aktionen für Tempi beteiligt.“

Griechenland hat etwas mehr als zehn Millionen Einwohner, und in der Zahl von 2,5 Millionen – einem Viertel der Bevölkerung – sind die vielen jungen Menschen nicht enthalten, die gegen die Todesfälle an Bord eines größtenteils mit Studierenden besetzten Zugs protestiert haben. Die spürbare Welle von Wut über das Verbrechen in Tempi und dessen Vertuschung, die nach zwei Jahren weiter gewachsen ist, droht Mitsotakis’ Regierung zu Fall zu bringen. Sie verbindet sich zudem mit der wachsenden Unzufriedenheit über die anhaltenden Sparmaßnahmen, wachsende Ungleichheit und Angriffe auf demokratische Rechte. Die Protestbewegung hat in Griechenlands herrschenden Kreisen für Unruhe gesorgt.
Die bedrohlichste Warnung an die herrschende Klasse kam von Manolis Kottakis, dem Herausgeber der ältesten griechischen Tageszeitung Estia. Am Mittwoch schrieb er: „Was diejenigen, die sich in ihren Büros verschanzt haben, nicht verstehen, ist die Tatsache, dass ein möglicher Freispruch bei der gerichtlichen Überprüfung des Güterzugs zwar bedeutet, dass einige ihrer Strafe entgehen. Die Protestwelle und die Wut der Bürger werden aber so stark ansteigen, dass sie letztlich alle auf der Anklagebank der Öffentlichkeit landen werden. Die tektonischen Platten der Wählerschaft haben bereits leise begonnen, sich zu verschieben. Was noch folgen mag, sollte nicht unterschätzt werden. Je stärker man eine Feder zusammenrollt, um etwas zu vertuschen, desto höher springt sie, wenn sie wieder losgelassen wird. Das ist ein Gesetz.“
Dass sich der Gewerkschaftsbund des privaten Sektors GSEE gezwungen sieht, anlässlich des zweiten Jahrestags der Katastrophe am 28. Februar zu einem 24-stündigen Generalstreik aufzurufen, nachdem der Gewerkschaftsbund des öffentlichen Dienstes ADEDY dies zuvor getan hat, ist ein weiteres Indiz für die Besorgnis. Wann immer die Gewerkschaftsbürokratie zu einem Generalstreik aufruft, ist dies ein Zeichen dafür, dass sie eine Eskalation des Klassenkampfs befürchtet, die sich ihrer Kontrolle entziehen könnte.