Seit Monaten finden in Serbien Massenproteste gegen die rechte Regierung und gegen Präsident Aleksandar Vučić statt. Waren es zu Beginn noch vorwiegend Proteste von Studenten, beteiligen sich mittlerweile alle Alters- und Berufsgruppen daran. In über 300 Städten demonstrieren seit November nahezu täglich Studenten und Arbeiter.
Am 22. Dezember versammelten sich rund 100.000 Protestierende am Slavija-Platz in der Hauptstadt Belgrad. Es war die größte Demonstration in Serbien seit 20 Jahren.
Seit Dezember sind Studenten von 65 der insgesamt 80 Fakultäten landesweit im Ausstand. Auch Schulen befinden sich im Streik, und bei großen Demonstrationen haben Bauern mit Dutzenden Traktoren die Hauptverkehrsstraßen blockiert.
Die Proteste finden große Unterstützung in der Bevölkerung. Umfragen zufolge unterstützen mehr als 61 Prozent die Demonstrationen gegen Regierung und Präsidenten. Bei Demonstrationen bei eisigen Temperaturen versorgen Anwohner die Teilnehmer mit warmen Getränken und Mahlzeiten. Belgrader Taxifahrer fuhren nach Novi Sad zu einer Kundgebung und übernahmen kostenfrei die Rückfahrt von Studenten.
Auch außerhalb Serbiens kommt es zu Kundgebungen und Protesten von Serben, wie in Wien, Berlin und anderen europäischen Städten. Eine weitere Großkundgebung ist für den 1. März in der südserbischen Stadt Niš geplant.
Auslöser der Proteste war der Tod von 15 Menschen, darunter zwei Kindern, durch den Einsturz eines Bahnhofsvordaches in der nordserbischen Stadt Novi Sad im November. Dem Einsturz war ein Umbau des Bahnhofes vorausgegangen, das baufällige Vordach wurde allerdings nicht erneuert. Generalunternehmer des Umbaus war ein chinesisches Unternehmen, welches betonte, das betroffene Dach sei nicht Teil des Renovierungsprojekts gewesen.
Die berechtigte Vermutung ist, dass hinter der Intransparenz der Bauprojekte Korruption steckt. Kurz nach dem Vorfall trat Bauminister Goran Vesić zurück, der Wochen später zusammen mit weiteren Spitzenbeamten festgenommen wurde. Korruption von Politikern und Behörden ist in Serbien an der Tagesordnung und betrifft beinahe jeden Bereich. Genehmigungen bei Behörden, Krankenbehandlungen und Arbeitsstellen sind ohne gute Beziehungen oder ausreichende Schmiergelder häufig nicht zu bekommen.
Die Proteste gingen rasch über den unmittelbaren Anlass hinaus und drückten die massive Opposition gegen die rechte Regierung und den verhassten Präsidenten Vučić aus.
Vučić ist seit 2017 im Amt und hat einen drastischen Rechtsruck vollzogen. Er kommt aus der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS), deren Mitglied er von 1993 bis 2008 war und für die er zeitweise Ministerposten bekleidete. Die SRS hatte in den 1990er Jahren Nationalisten für den Kroatien- und den Bosnienkrieg rekrutiert und paramilitärische Einheiten gebildet, die für Gräueltaten berüchtigt waren.
Seit dem Bürgerkrieg und dem Nato-Krieg gegen das Land ist die Lage der Bevölkerung prekär. Armut und Arbeitslosigkeit haben in den letzten Jahren unter Vučić weiter zugenommen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf liegt bei 11.352 US-Dollar. Damit liegt das Land auf Platz 10 der ärmsten Länder in Europa. Ärmer sind nur noch Staaten wie Albanien, Armenien, Moldawien, Kosovo oder die Ukraine. Jeder fünfte Serbe ist von Armut betroffen.
Um die Kriterien für den angestrebten EU-Beitritt zu erfüllen, haben die letzten Regierungen die wenigen Reste sozialer Sicherung immer weiter gestutzt. Gleichzeitig wachsen die Vermögen der schmalen Oberschicht des Landes. Auch die Aufrüstung wurde in den vergangenen Jahren weiter forciert.
Vor diesem Hintergrund haben die Proteste einen sozialen Charakter und richten sich gegen das gesamte politische System. Seit der Machtübernahme von Vučić kam es immer wieder zu spontanen Protesten, zuletzt 2023 nach einem Amoklauf an einer Schule in Belgrad.
Neben der Veröffentlichung aller Dokumente über das Unglück in Novi Sad fordern die Protestierenden die Strafverfolgung gewalttätiger Angreifer auf die Studenten sowie die Freilassung aller inhaftierten Demonstranten. Darüber hinaus verlangen sie die Erhöhung des Bildungsbudgets um 20 Prozent.
Vučić hat auf die anhaltenden Proteste reagiert, indem er seinen Ministerpräsidenten Miloš Vučević opferte, den er Ende Januar zum Rücktritt zwang. Vučević führte eine extrem rechte Regierung aus Fortschrittspartei (SNS) und Sozialistischer Partei (SPS), der nationalistischen Partei des ehemaligen Staatschefs Slobodan Milošević. Neuwahlen schloss Vučić dagegen aus, daher brachte das Manöver die Proteste nicht zum Erliegen.
Ebenso wenig hat das brutale Vorgehen gegen die Protestierenden diese bislang eingeschüchtert. Nicht nur die offiziellen Sicherheitskräfte gehen mit großer Härte gegen die Demonstranten vor, sondern auch Mitglieder der SNS, die enge Verbindungen zu faschistischen Gruppierungen pflegen, überfallen Studenten. Teilweise fuhren sie mit Autos in Gruppen von friedlichen Demonstranten.
Unterstützung erhält Vučić dabei aus der Europäischen Union. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die nicht zögert, jeden Protest, der sich in irgendeiner Weise gegen Russland richtet, zu unterstützen, äußerte sich nicht zu den Protesten in Serbien. Gert Jan Koopman, Generaldirektor für Nachbarschaft und Erweiterungsverhandlungen der EU, hatte bei einem Besuch in Belgrad lediglich den „stetigen Fortschritt“ in Richtung EU vermerkt und die Proteste ebenfalls ignoriert.
Grund hierfür sind die Interessen der führenden europäischen Mächte auf dem Balkan. Serbien, ein wichtiger Akteur auf dem Balkan, soll dort für Stabilität sorgen und weiterhin für die Kriegspolitik der EU gegen Russland eingespannt werden. Vučić hat nicht nur den russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 verurteilt, sondern näherte sich zuletzt auch militärisch immer stärker der EU an. Schon 2023 verzichtete Belgrad auf den geplanten Kauf einer neuen Serie russischer Kampfjets zugunsten eines 2,7-Milliarden-Euro-Vertrages über die Lieferung von zwölf französischen Kampfflugzeugen.
Serbische Militärvertreter erklärten darüber hinaus, keine weiteren russischen Waffen über Lizenzproduktionen in Drittländern zu beziehen. Stattdessen hat Serbien mittlerweile über Drittländer Munition im Wert von etwa 800 Millionen Euro an die Ukraine geliefert und unterstützt damit die Kriegspolitik gegen Russland.
Serbien nimmt darüber hinaus eine zentrale Rolle in der Politik der EU ein, Europa gegen Flüchtlinge abzuschotten. Das Land liegt auf der sogenannten Balkanroute und geht mit Gewalt gegen Migranten vor, die versuchen, über die Route nach Europa zu gelangen.
Im letzten Jahr unterzeichnete Belgrad ein Abkommen mit der EU, das die Stationierung der EU-Grenzschutzagentur Frontex entlang der serbischen Grenzen zu Bosnien und Herzegowina sowie zu Nordmazedonien erlaubt.
Außerdem verfügt Serbien über Bodenschätze, die von großem Interesse für die europäische Automobilindustrie sind. Im Juni vergangenen Jahres begleitete Bundeskanzler Olaf Scholz die Unterzeichnung eines „Memorandums über kritische Rohstoffe“ in Belgrad. Das Memorandum sieht die Wiederaufnahme des Lithiumabbaus im Westen Serbiens vor.