Am 16. Januar hat der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil festgelegt, dass die Auslieferung eines Kriegsdienstverweigerers in den Ukrainekrieg zulässig ist.
Es ging um die Frage, ob die von der ukrainischen Regierung beantragte Auslieferung eines ukrainischen Flüchtlings, der sich auf das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung beruft, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das BGH hat diese Frage bejaht und damit ein eigenes Urteil aus dem Jahr 1977 revidiert. Das universelle Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG), laut dem „niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf“, wird damit außer Kraft gesetzt.
Die Richter begründen ihren Beschluss (4 ARs 11/24) wie folgt:
Verweigert der Verfolgte im Auslieferungsverfahren nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe und ist nicht gewährleistet, dass er nach seiner Auslieferung nicht zum Kriegsdienst im ersuchenden Staat herangezogen wird und im Fall seiner Verweigerung keine Bestrafung zu erwarten hat, begründet dies jedenfalls dann kein Auslieferungshindernis, wenn sein um Auslieferung ersuchendes Heimatland völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird und ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung deshalb nicht gewährleistet.
Einfacher gesagt: Kriegsdienstverweigerer dürfen in Länder ausgeliefert und dort verheizt werden, wenn sich diese im Krieg befinden und die deutsche Regierung den Krieg als „Verteidigungskrieg“ bezeichnet – im konkreten Fall der Ukrainekrieg.
Laut BGH ist der persönliche Schutzbereich des Art. 4 Abs. 3 GG nur auf Menschen beschränkt, die nach deutschem Recht wehrpflichtig sind, wobei die Richter hinzufügen, dass dieses Recht auch innerhalb Deutschlands aufgehoben werden kann. Demnach erlaubt es das Grundgesetz, „den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen“.
Genauso gut könnte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung vollständig aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Die „außerordentliche Lage“, die hier gemeint wird, ist eine Kriegslage, und wenn das Recht auf Kriegsdienstverweigerung selbst in Kriegszeiten außer Kraft gesetzt werden kann, existiert dieses Recht einfach nicht. Das BGH hat hier der herrschenden Klasse eine juristische Begründung geliefert, um künftig das Recht auf Kriegsdienstverweigerung vollständig abzuschaffen.
Die herrschende Klasse versucht offensichtlich, die Arbeiterklasse zuerst zu spalten, um ihr dann ihre demokratischen und sozialen Rechte zu entziehen. Zuerst teilt der BGH die Wehrpflichtigen in zwei Gruppen – solche, die es nicht nach deutschem Recht sind, und solche, die es nach deutschem Recht sind – und entzieht zuerst der einen und dann der anderen Gruppe das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.
Dasselbe Teile-und-Herrsche-Prinzip steht auch hinter der allgegenwärtigen Flüchtlingshetze – die etablierten Parteien und Medien schüren Fremdenfeindlichkeit und nationalistische Ideologie, dann werden zuerst den Flüchtlingen und danach dem Rest der Arbeiterklasse die demokratischen und sozialen Rechte weggenommen.
Es handelt sich nicht um den ersten Angriff auf die Rechte ukrainischer Flüchtlinge. Wie die WSWS im August 2024 berichtet hat, will das Land Hessen geflüchtete Ukrainer nach dem Ablauf ihrer Papiere in den Krieg abschieben.
Was die abgeschobenen und ausgelieferten Ukrainer erwartet, ist nicht nur ein wahrscheinlicher frühzeitiger Tod in einem imperialistischen Krieg, sondern auch Gewalt und Folter.
Neben den gut dokumentierten Fällen, wie Mitarbeiter der Ukrainischen Wehrpflichtbehörde TZK (Territoriales Zentrum für Komplettierung - ukrainisch: Територіальний центр комплектування) junge Männer in der Öffentlichkeit zum Wehrdienst zwingen, gibt es eine verstecktere Form von TZK-Gewalt, die immer brutaler wird. In den Kellern und fensterlosen Räumen, in denen neue Rekruten festgehalten werden, zwingt die TZK sie – durch verbale Bedrohungen und immer häufiger auch durch körperliche Gewalt – „freiwillig“ Formulare zu unterschreiben, mit denen sie auf ihre Rechte verzichten und sich zu allen möglichen Einsätzen im Militärdienst verpflichten.
Offenkundige Folter dient der TZK immer häufiger als Mittel, um den Mobilisierten Angst einzuflößen und sie zur Unterwerfung zu zwingen. Es gab einen Fall, in dem sie eine Gruppe von Rekruten in einem Keller sammelte und einem von ihnen demonstrativ den Arm brach, um die Restlichen so einzuschüchtern, dass sie Formulare unterschrieben und auf ihre Rechte verzichteten.
Damit soll auch sichergestellt werden, dass die Rekruten künftig große Angst davor haben, was ihnen passieren könnte, wenn sie nicht gehorchen. Je verzweifelter die Lage der ukrainischen Armee, desto brutaler werden diese Maßnahmen.
Der BGH hat mit seiner Entscheidung einen eigenen Beschluss aus dem Jahr 1977 über den Haufen geworfen, der das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als universelle Grundrecht anerkannte. Darin hatte er die Auslieferung eines jugoslawischen Kriegsdienstverweigerers als unzulässig bewertet.
Damals hatte Jugoslawien die Volksbewegung zur Befreiung Angolas (MPLA) im angolanischen Bürgerkrieg unterstützt, jedoch keine eigenen Truppen hingeschickt. Dennoch entschied der Bundesgerichtshof, dass selbst der bloße Wehrdienst mit der Waffe ohne Einsatz in einem Krieg unter den Schutz des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung fällt.
Dieses Grundrecht gelte „nicht nur für die Personen, die in der Bundesrepublik nach dem Wehrpflichtgesetz wehrpflichtig sind, und erfasst nicht nur die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe in den deutschen Streitkräften,“ argumentierte der BGH damals. „Es ist vielmehr ein in der Verfassung der Bundesrepublik verankertes, auf dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit beruhendes allgemeines Grundrecht, das ohne Einschränkung für jeden gilt, der zum Kriegsdienst mit der Waffe herangezogen werden kann.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Das BGH begründete dies ausführlich und folgerte, dass „eine Beschränkung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auf den der deutschen Wehrpflicht unterliegenden Personenkreis … auch dem wesentlichen Zweck des Art. 4 Abs. 3 GG zuwiderlaufen [würde], der darin besteht, die Gewissensposition gegen den Kriegsdienst mit der Waffe zu schützen und den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, töten zu müssen [...], einem Zwang, der notwendig mit jedem Wehrdienst mit der Waffe verbunden ist, gleichviel in welchem Land er abzuleisten ist.“
Zusammenfassend stellte der BGH damals fest: „Eine Entscheidung, die zur Folge hat, dass jemand gegen sein Gewissen zum Wehrdienst mit der Waffe gezwungen wird, verstößt deshalb unabhängig davon, ob dieser Dienst im Inland oder im Ausland abgeleistet werden soll und ob der Betroffene nach deutschem Recht wehrpflichtig ist oder nicht, stets gegen Art. 4 Abs. 3 GG.“
Nun begründet der BGH seine Revision des Urteils von 1977 damit, dass der damalige Beschluss „nicht den Auslieferungsverkehr nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen, sondern eine Auslieferung nach dem deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrag“ betraf. Es handle sich um einen anderen Auslieferungsvertrag, daher sei alles in Ordnung!
Eine bürokratischere Begründung könnte man kaum entwickeln. Keines der Argumente zur universellen Gültigkeit des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung von 1977 vorgebracht hatte, wird hier erwähnt, geschweige denn widerlegt.
Diese Revision des Grundgesetzes muss als Teil der Rückkehr des aggressiven deutschen Imperialismus verstanden werden. Der Angriff auf das Recht auf Kriegsdienstverweigerung passt perfekt in die allgegenwärtige politische Propaganda, Europa müsse alles für die „Verteidigung“ gegen äußere Feinde geben, zu diesem Zweck müssten auch grundlegende demokratische und soziale Rechte abgeschafft werden.
Die lauter werdenden Forderungen nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht, die astronomische Erhöhungen des Wehretats und der damit verbundene Sozialkahlschlag folgen alle derselben Logik – um Krieg nach außen zu führen, muss ein Krieg nach innen geführt werden, ein Krieg gegen alle soziale und demokratische Errungenschaften der Arbeiterklasse.
Nach den ungeheuerlichen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs musste die herrschende Klasse Deutschlands einige soziale und demokratische Zugeständnisse machen, um den Zorn der Massen zu beruhigen. Das in der Verfassung verankerte universelle Recht auf Kriegsdienstverweigerung war ein solches Zugeständnis.
Aber die Widersprüche des Kapitalismus spitzen sich wieder zu und führen erneut zum Krieg. Das gilt nicht nur für den schon stattfindenden Krieg gegen Russland in der Ukraine, sondern auch für die Spannungen zwischen den USA und dem Rest der Nato, die sich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen entwickeln können. Am Vorabend eines drohenden Dritten Weltkriegs, in der Todeskrise des Kapitalismus, ist auch die Verfassung das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben steht.
Die Arbeiterklasse ist die einzige Kraft in der Gesellschaft, die diesem Kriegswahnsinn ein Ende setzen kann. Dafür muss sie eine Massenbewegung gegen Krieg, Diktatur, Flüchtlingshetze und das gesamte kapitalistische System aufbauen. Für diese Perspektive kämpfen die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und ihre Jugendorganisation, die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE). Wir rufen alle Leser auf: Nehmt den Kampf gegen Krieg auf! Tretet der SGP und den IYSSE bei!