Ekrem Imamoğlu, der Bürgermeister der Großstadtkommune Istanbul und mögliche Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP), wurde am Mittwochmorgen bei einer Polizeirazzia in seinem Haus festgenommen.
Die Polizeistaatsaktion löste in der ganzen Türkei Massenproteste aus. Obwohl der Gouverneur der Provinz Istanbul für vier Tage alle Protestaktionen verboten hatte, demonstrierten zuerst Hunderte von Beschäftigten in Şişli bei Istanbul, danach organisierten Studenten der Universität Istanbul eine Veranstaltung mit Hunderten von Teilnehmern.
Der Polizeichef schickte Verstärkungen zum Istanbuler Sicherheitsdirektorat, wo Imamoğlu festgehalten wird, während vor den Barrikaden große Menschenmengen gegen seine Festnahme protestierten. In vielen Städten, darunter Izmir und Ankara, gingen Tausende auf die Straße.

Imamoğlu wurde unter dem Vorwurf verhaftet, er habe zusammen mit 106 weiteren Personen eine „kriminelle Vereinigung mit Gewinnerzielungsabsicht“ geleitet. Zu seinen Mittätern würden Bürgermeister, Kommunalbeamte, Journalisten und Künstler gehören. Ihm und sieben weiteren Personen, darunter den Bürgermeistern von Şişli und Beylikdüzü sowie städtischen Beamten, wird außerdem „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ vorgeworfen, womit die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gemeint ist.
Die Sozialistische Gleichheitsgruppe (SEG), die türkische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, veröffentlichte auf X eine Stellungnahme, in der sie die polizeistaatliche Unterdrückung demokratischer Grundrechte, einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechts, durch das Erdoğan-Regime verurteilte und die sofortige Freilassung der Festgenommenen forderte.

Die SEG stellte die eskalierende Unterdrückung in der Türkei in einen internationalen Kontext und erklärte weiter:
Die Entwicklungen in der Türkei sind Teil eines weltweiten Prozesses, in dem die herrschenden Klassen von den USA bis Europa vor dem Hintergrund des Völkermords im Gazastreifen, eines drohenden Weltkriegs und sich rasch verschärfender Klassenspannungen autoritäre Regime errichten. Das zutiefst krisengeschüttelte und verrottende System des Weltkapitalismus ist mit Demokratie unvereinbar.
Das viertägige Demonstrationsverbot des Gouverneurs von Istanbul ist Ausdruck der Angst vor dem Widerstand der Arbeiterklasse und der Jugend. Demokratie kann nur durch die unabhängige massenhafte Mobilisierung der Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Programm verteidigt und gesichert werden.
Imamoğlu gab seine Inhaftierung auf X bekannt und erklärte: „Es findet ein Putsch gegen den Willen unserer Nation statt. ... Eine Handvoll Personen versuchen, den Willen unserer Nation zu usurpieren. Sie haben Hunderte von Polizeibeamten vor den Türen der sechzehn Millionen Einwohner Istanbuls stationiert und dabei unsere geschätzte Polizei zum Werkzeug des Bösen gemacht. Wir sind mit einer ungeheuerlichen Tyrannei konfrontiert, aber wir werden nicht nachgeben. Ich vertraue mich der Bevölkerung an. Alle sollen wissen, dass ich fest im Sattel sitzen werde. Ich werde weiterhin gegen die Gesinnung [Erdoğans] kämpfen, die den Prozess durch ihren Apparat instrumentalisiert.“
Am Dienstag entzog die Universität von Istanbul Imamoğlu rechtswidrig seinen Abschluss, den er vor 31 Jahren erworben hatte. Ein Universitätsabschluss ist eine von vielen undemokratischen Voraussetzungen, die Präsidentschaftskandidaten erfüllen müssen. Laut Umfragen würde Imamoğlu eine potenzielle Präsidentschaftswahl gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan gewinnen.
Bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr wurde die CHP stärkste Kraft und erstmals seit 22 Jahren stärker als Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Vor kurzem hatte die CHP als Reaktion auf die Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung eine Kampagne für vorgezogene Neuwahlen begonnen. Für diesen Sonntag war eine interne Vorwahl angesetzt, bei der Imamoğlu der einzige Kandidat gewesen wäre.
Der Oberstaatsanwalt von Istanbul veröffentlichte eine Erklärung, in der er die fingierten Vorwürfe verteidigte, Imamoğlu habe eine „Terrororganisation“ unterstützt: „Imamoğlu und weitere Verdächtige haben durch ihre Zustimmung die Listen der Stadtratsmitglieder bei den Kommunalwahlen bestimmt und das Verbrechen der Unterstützung der terroristischen Organisation PKK/KCK begangen, indem sie wissentlich am ‚Urbanen Konsens‘ teilgenommen haben...“
Die Untersuchung der Polizei richtet sich gegen das legale Wahlbündnis aus der CHP mit der Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) namens „Urbaner Konsens“, das in der Kommunalwahl am 31. März letzten Jahres aktiv war. Die beiden Parteien erhielten landesweit zusammen mehr als zwanzig Millionen Stimmen.
Die World Socialist Web Site hatte dazu bereits zuvor erklärt: „Die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul konstruiert ein ‚Verbrechen‘, das es nicht gibt, und versucht, ihr Vorgehen damit zu rechtfertigen, dass Funktionäre der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) dieses Wahlbündnis zwischen zwei legalen Parteien gelobt hätten.“
Während die Erdoğan-Regierung versucht, die Oppositionsparteien mit der PKK in Verbindung zu bringen und sie auf diese Weise zu unterdrücken, verhandelt sie gleichzeitig mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Im Rahmen dieser Verhandlungen, die von der DEM vermittelt wurden und von anderen Parteien im Parlament weitgehend unterstützt wurden, hatte Öcalan die PKK vor kurzem aufgefordert, einen Parteitag zu veranstalten, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen.
Imamoğlus Verhaftung ist Teil eines allgemeinen staatlichen Vorgehens gegen gewählte Bürgermeister der DEM und der CHP, Journalisten und Gewerkschaftsführer in den letzten Monaten. Es entlarvt die Behauptungen, die Verhandlungen – die eng mit der Ausweitung des Krieges im Nahen Osten verbunden sind – würden zu „Frieden und Demokratie“ führen, als Heuchelei.
CHP-Parteichef Özgür Özel bezeichnete Imamoğlus Verhaftung als „Putsch“ und erklärte auf X: „Es ist ein Putsch, wenn man mit Gewalt im Namen des Volkes Entscheidungen fällt, dessen Willen missachtet oder behindert. Jetzt ist eine Macht dabei, das Volk daran zu hindern, den nächsten Präsidenten zu wählen. Wir sind mit einem Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten konfrontiert.“
Die DEM nahm folgendermaßen Stellung: „Wie wir wiederholt erklärt haben, stellt dieses Vorgehen einen Staatsstreich dar. Die Türkei erlebt einen ‚gemeinsamen Staatsstreich von Justiz und Exekutive‘, der sich zunehmend gegen jeden politischen und sozialen Widerstand richtet.“
Teile des Finanzkapitals brachten umgehend ihre Unzufriedenheit über die Verhaftungen zum Ausdruck. Der Aktienindex der Istanbuler Börse BIST 100 stürzte zu Beginn des Tages um fast sieben Prozent ab, die türkische Lira sank gegen ausländische Währungen auf den niedrigsten Stand.
Auch die europäischen Verbündeten der CHP, die ihren imperialistischen Krieg gegen Russland in der Ukraine fortsetzen wollen und im Inland massive soziale Angriffe durchführen, reagierten negativ. Der Sprecher des deutschen Außenministeriums Sebastian Fischer beschrieb den Vorfall als „schweren Rückschlag für die Demokratie“, die SPD erklärte ihre Solidarität mit Imamoğlu. Das französische Außenministerium erklärte sich „zutiefst besorgt“ über die Verhaftungen.
Die zunehmende Hinwendung der Erdoğan-Regierung zu autoritärer Herrschaft spiegelt eine sich vertiefende Krise der herrschenden Klasse wider, die ihren Ursprung nicht in Erdoğans Hirn, sondern im globalen kapitalistischen System hat. Erdoğan hat bereits angekündigt, auf die Ausweitung des Krieges im Nahen Osten, zu dem auch der Völkermord im Gazastreifen gehört, und die zunehmende Radikalisierung der Arbeiterklasse mit einer „Stärkung der inneren Front“ zu reagieren.
Imamoğlus Verhaftung stellt ein neues Stadium in der über Jahre aufgebauten Präsidialdiktatur dar.
Die Ereignisse in der Türkei können nicht losgelöst von dem weltweiten Kurswechsel auf Autoritarismus, den eskalierenden imperialistischen Kriegen und der wachsenden sozialen Ungleichheit betrachtet werden. In den USA demontiert der faschistische Präsident Donald Trump, der vier Jahre nach seinem gescheiterten Putschversuch von der Finanzoligarchie wieder eingesetzt wurde, die Verfassung und setzt sich über Gerichtsurteile hinweg.
Die Regierungen der Welt, einschließlich Erdoğans, sind sich bewusst, dass ihre Verbündeten in Washington sie nicht mehr mit Rhetorik über „Menschenrechte“ und „Demokratie“ behelligen werden, sodass sie den Aufbau von Diktaturen fortsetzen können.
Ein erfolgreicher Kampf gegen diesen globalen Angriff, dessen Wurzeln im kapitalistischen System liegen, erfordert die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse, der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die in internationalem Maßstab und auf der Grundlage eines sozialistischen Programms demokratische Rechte konsequent verteidigen kann.