Der tragische Tod von vier Mitgliedern der Familie Böcek – darunter zwei Kinder –, die aus Deutschland stammten und während ihres Urlaubs in einem Hotel im Istanbuler Stadtteil Fatih ums Leben kamen, hat die tödlichen Folgen des unregulierten und profitgetriebenen Tourismusgeschäfts in der Türkei sowie die systematische Vernachlässigung des öffentlichen Gesundheitsschutzes durch den Staat offen gelegt.
Am Morgen des 12. November fuhren die Böceks mit einem Taxi ins Krankenhaus, da sie unter Übelkeit litten. Nach einer Untersuchung und Behandlung kehrte die Familie in ihr Hotel zurück. Doch als es ihnen im Verlauf der Nacht ein weiteres Mal schlechter ging, wurden sie mit einem Krankenwagen erneut ins Krankenhaus gebracht. Kurze Zeit später starben die Kinder Kadir Muhammet (6) und Masal (3). Ihre Mutter, Çiğdem Böcek, starb am 14. November auf der Intensivstation, der Vater, Servet Böcek, am 17. November nach mehrtägiger Behandlung.
Zunächst wurden die Todesfälle auf Lebensmittelvergiftung zurückgeführt. Doch im Verlauf der Untersuchung stellte sich heraus, dass sie durch eine Schädlingsbekämpfung des Hotels gegen Bettwanzen verursacht wurden. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu hieß es im gerichtsmedizinischen Bericht, dass in Handtüchern, Gesichtsmasken und Proben von verschiedenen Bereichen im Hotelzimmer der Familie „Phosphingas“ nachgewiesen wurde. Es wird angenommen, dass das Phosphingas durch das Lüftungssystem des Badezimmers eingedrungen ist. Zwei weitere Touristen, die im gleichen Hotel wohnten, wurden mit ähnlichen Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert.
Ein Angestellter des Hotels, der Inhaber des Schädlingsbekämpfungsunternehmens und sein Sohn, sowie ein Angestellter des Schädlingsbekämpfers, wurden verhaftet. Der Inhaber des Hotels wurde unter Hausarrest gestellt, dem Rezeptionisten wurde die Ausreise aus dem Land untersagt. Das Hotel wurde vorübergehend evakuiert. Durch diese Maßnahmen wird das Problem jedoch ausschließlich als Folge individueller Fehler behandelt, während neuen Katastrophen Tür und Tor geöffnet werden.
Der Tod der Familie Böcek ist die Folge jahrelanger mangelnder Kontrollen, des unkontrollierten Einsatzes von Chemikalien und der „Profite vor Leben“-Politik in der Türkei.
Eine der tragischen Konsequenzen dieser Politik war der Brand im Grand Kartal Hotel im Kartalkaya-Ski-Center in Bolu in diesem Jahr. Am 21. Januar führte eine Kette fahrlässigen Verhaltens zu einem Feuer, bei dem 78 Menschen getötet und 137 verwundet wurden. Der Prozess endete letzten Monat mit lebenslangen Freiheitsstrafen für die Inhaber und Manager des Unternehmens, allerdings wurden keine Regierungsbeamten zur Verantwortung gezogen.
Der Tod der Familie Böcek, die deutsche Staatsbürger waren, fand in der Türkei und der internationalen Presse breite Beachtung. Medien in Deutschland über das Vereinigte Königreich bis in die USA berichteten von dem Vorfall.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtete, dass ein hochgiftiges, in Hotels streng verbotenes Insektizid in verdächtiger Weise eingesetzt worden sei. Weiter hieß es, die türkischen Behörden stünden wegen ähnlicher Todesfälle unter Druck. Die Deutsche Welle (DW) wies darauf hin, dass nach den Todesfällen die Sicherheitsstandards in der Türkei infrage gestellt würden. Behörden hätten bestätigt, dass die Familienmitglieder höchstwahrscheinlich gestorben seien, weil giftiges Gas in das Hotelzimmer eingedrungen sei. Der Spiegel schrieb, in Deutschland und der Türkei werde die Frage aufgeworfen: Hätten diese Todesfälle verhindert werden können?
CNN International erklärte, der Vorfall deute auf den „illegalen Einsatz verbotener und extrem gefährlicher Pestizide“ hin. Die New York Times schrieb, die Todesfälle „werfen beunruhigende Fragen zur Durchsetzung von Sicherheitsstandards in der Türkei auf“. Weiter hieß es, die deutschen Behörden hätten eine gründliche Untersuchung gefordert.
BBC Turkish berichtete, der gerichtsmedizinische Bericht habe bestätigt, dass die Familie durch eine chemische Substanz vergiftet worden sei. Reuters meldete, der Vorfall habe zu Forderungen nach „strengerer Regulierung und unabhängiger Kontrolle“ im schnell wachsenden Hotelgewerbe der Türkei geführt. Laut einem Bericht der Weltorganisation für Tourismus der Vereinten Nationen hat die Türkei im Jahr 2024 mit 56,7 Millionen Besuchern Italien überholt und landete auf Platz vier der meistbesuchten Länder der Welt. Istanbul belegt den ersten Platz unter den am häufigsten besuchten Städten.
Dass es in den letzten Wochen immer wieder zu Todesfällen durch Vergiftung gekommen ist, zeigt die weite Verbreitung und die tiefen Ursachen des Problems. In Kayseri wurden 80 Menschen bei einer Schulveranstaltung mit Verdacht auf Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert. Dasselbe geschah in der gleichen Stadt 28 Schülern, die während einer Hilfsgüterverteilung Döner gegessen hatten, in Rize 94 Personen, die bei einer religiösen Zeremonie gegessen hatten, in Bursa elf Arbeitern, die Hühnchen und Reis aßen und in Samsun fünf Schülern, die Hamburger gegessen hatten. Im Marmarameer starb ein Mitglied der Besatzung eines Tankers bei chemischen Reinigungsarbeiten, zwei weitere erlitten Vergiftungen. In einem Abschiebelager in Gaziantep wurden weitere 56 Menschen vergiftet.
Laut Einschätzung von Experten ging der Tod der Familie Böcek nicht allein auf individuelle Fehler zurück, sondern ergab sich aus dem strukturellen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems, das die öffentliche Gesundheit jahrelang ignoriert hat. Dr. Nasır Nesanır, der Leiter der Abteilung für öffentliche Gesundheit des türkischen Ärzteverbands, erklärt, dass der gemeinsame Faktor bei den Vergiftungsfällen, die in verschiedenen Städten nacheinander vorkommen, ein unreguliertes kapitalistisches Marktsystem sei. Er erklärte, Vergiftungen durch Nahrung, Wasser und Chemikalien seien nicht unabhängig voneinander. Sie alle seien das Ergebnis einer Struktur, die „marktgerecht gemacht und deren öffentliche Leistungsfähigkeit systematisch geschwächt wurde“.
Der Abbau von öffentlichen Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen, der Verzicht auf grundlegende Kontrolle und der weit verbreitete Einsatz billiger und unregulierter Chemikalien führen zu vermeidbaren Todesfällen. Institutionen mit Kontrollbefugnis wurden durch jahrelange Etatkürzungen handlungsunfähig gemacht. Gleichzeitig gewinnen nicht lizenzierte Schädlingsbekämpfungsunternehmen durch Werbung in den sozialen Netzwerken einen immer größeren Anteil auf dem „freien Markt“.
Dr. Afşin İpekci, ein Spezialist für Notfallmedizin von der Universität Istanbul, erklärte, dass billige Chemikalien und deren leichte Verfügbarkeit zu einem weit verbreiteten, unüberlegten Gebrauch geführt haben. Das grundlegende Problem sei jedoch nicht fehlendes Wissen, sondern die Tatsache, dass das System unkontrollierte Nutzung fördert. Laut İpekci ist bereits die Tatsache ein Sicherheitsrisiko, dass Personen, die nicht fachkundig sind in Bezug auf die Risiken, Wirkungen und Anwendungsbedingungen dieser Chemikalien, dennoch Zugang dazu haben.
İpekci erklärte: „Dass es billig und wirksam ist, heißt nicht, dass es harmlos ist.“ Er betonte, die Gelegenheit für ein frühzeitiges Eingreifen sei verpasst worden, weil notwendige Informationen nicht weitergegeben wurden. Diese Einschätzungen bestätigen, dass die Katastrophe, die die Familie Böcek traf, das Ergebnis eines Profitsystems ist, das menschliches Leben und Gesundheit missachtet.
