1. Die Perspektive einer Partei wird in hohem Maße durch ihre Haltung zu historischen Fragen bestimmt. Das ist nirgends so augenfällig wie in Deutschland. Hier erlitt die Arbeiterbewegung triumphale Erfolge und Niederlagen von welthistorischem Ausmaß, die den Charakter des gesamten 20. Jahrhunderts prägten. In Deutschland entstand der Marxismus, hier entwickelte sich die SPD zur ersten marxistischen Massenpartei, und hier verschuldeten Opportunismus (die Kapitulation der SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs) und Stalinismus (das Versagen der KPD bei Hitlers Machtübernahme) verheerende Katastrophen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hinterließen die Spaltung des Landes und der Verfälschung des Marxismus durch das DDR-Regime ein Erbe der politischen Konfusion.
2. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“, schrieb Marx 1852. [1] Alpträume werden durch unverarbeitete traumatische Erlebnisse ausgelöst. Um sie zu überwinden, müssen diese Erlebnisse bewusst aufgearbeitet werden. Das gilt sinngemäß auch für die Politik. Ohne bewusste Aufarbeitung der Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts kann man sich im einundzwanzigsten nicht zurechtfinden. Die Partei für Soziale Gleichheit stützt ihr Programm und ihre Perspektive auf ein Verständnis der historischen Erfahrungen der internationalen sozialistischen Bewegung. Sie stützt sich dabei auf das Erbe der Vierten Internationale und deren Kämpfe gegen den Stalinismus, den Reformismus und den pablistischen Revisionismus. Diese Erfahrungen darzulegen, ist die Aufgabe dieses Dokuments.
3. Die tiefste Finanz – und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren wirft heute alle ungelösten Fragen der Vergangenheit wieder auf. Das kapitalistische Weltsystem krankt an denselben unlösbaren Widersprüchen, die zwei Weltkriege, zahlreiche regionale militärische Konflikte, den Faschismus und andere brutale Diktaturen hervorgebracht haben – an der Unvereinbarkeit von Weltwirtschaft und Nationalstaat und dem Gegensatz von Privateigentum und gesellschaftlicher Produktion. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise auf kapitalistischer Grundlage. Wie im vorigen Jahrhundert stellt sie die Menschheit vor die Alternative: Sozialismus oder Barbarei.
4. Im Mittelpunkt der Krise steht der Niedergang der USA, deren wirtschaftliche Macht 1945 – nach zwei Weltkriegen und hundert Millionen Kriegstoten – als Fundament für einen neuen kapitalistischen Aufschwung diente. Die USA kompensieren den Verlust ihrer wirtschaftlichen Hegemonie seit langem, indem sie ihre militärische Übermacht einsetzen und den Finanzsektor auf Kosten der Industrieproduktion ausdehnen. Das ist der Hintergrund der gegenwärtigen Krise, aus der es keinen friedlichen Ausweg gibt. Die herrschende Klasse der USA ist ebenso wenig bereit, freiwillig auf ihre Macht und ihren Reichtum zu verzichten, wie jede andere herrschende Klasse in der Geschichte. Ihr Bemühen, die Kosten der Krise auf die Abeiterklasse und ihre internationalen Rivalen abzuwälzen, und die Reaktion ihrer Rivalen in Europa und Asien, rufen heftige Klassenkämpfe und internationale Konflikte hervor.
5. Die globale Entwicklung der Produktivkräfte hat nicht nur die Krise des Kapitalismus vertieft, sie hat auch die gesellschaftliche Macht der Arbeiterklasse gestärkt und die objektiven Voraussetzungen für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen. Bahnbrechende Fortschritte der Informations – und Kommunikationstechnologie haben zu einer nie da gewesenen Integration der Weltwirtschaft geführt, die Arbeiterklasse kontinentübergreifend verbunden und zahlenmäßig gestärkt. Nie zuvor lebte ein derart hoher Prozentsatz der Menschheit in Städten und war direkt in den globalen Produktionsprozess eingebunden. Länder wie China, die vor hundert Jahren noch vorwiegend ländlich geprägt waren, zählen heute zu den wichtigsten Industrieregionen der Welt. Die PSG stellt sich die Aufgabe, die Arbeiterklasse politisch und theoretisch auf die kommenden Klassenkämpfe vorzubereiten und sie mit einem sozialistischen Programm zu bewaffnen, das auf die Lehren vergangener Kämpfe aufbaut. Als Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ist sie die deutsche Sektion der 1938 von Leo Trotzki gegründeten Weltpartei der sozialistischen Revolution.
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. 8, S. 115