Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale

17. Bernsteins Thesen wurden zwar auf Parteikongressen regelmäßig zurückgewiesen, doch in der Praxis gewannen sie zunehmend an Gewicht. Nach der Jahrhundertwende mehrten sich die Fälle, in denen die SPD-Führung oder Teile davon zu wichtigen politischen Fragen rechte Standpunkte einnahmen oder einer klaren Stellungnahme auswichen. In der Partei tat sich eine tiefe Kluft auf, deren Extreme auf der Linken Rosa Luxemburg und auf der Rechten die Gewerkschaftsführer bildeten. Letztere erachteten die revolutionäre Theorie der Partei als Gefahr für ihre organisatorischen Erfolge und mühsam erkämpften sozialen Verbesserungen. Die Schriften Rosa Luxemburgs, die einen systematischen Kampf gegen den wachsenden Opportunismus führte, lesen sich wie eine Chronologie der schleichenden Rechtsentwicklung der Partei.

18. Als die russische Revolution von 1905 die Frage des politischen Massenstreiks aufwarf, lehnten ihn die Gewerkschaftsführer mit den Worten „Generalstreik ist Generalunsinn“ ab und entfachten eine Hetzkampagne gegen Luxemburg, die den Massenstreik befürwortete. Der Kölner Gewerkschaftskongress stand 1905 unter der Devise „Die Gewerkschaften brauchen vor allem Ruhe“, selbst die Diskussion der Massenstreikfrage wurde als gefährliches und sinnloses Spiel mit dem Feuer verdammt. Die Gewerkschaftsführer „fürchteten, ihre taktische Unabhängigkeit von der Partei zu verlieren, fürchteten die Aufzehrung des großen Kriegsschatzes, den sie angesammelt hatten, fürchteten sogar die Vernichtung ihrer Organisation durch die Staatsgewalt bei einer solchen Machtprobe. Im übrigen waren sie überhaupt gegen ‚Experimente’, die ihr sehr kunstvolles System des täglichen Kleinkrieges mit dem Unternehmertum stören konnten.“ [8] Weitere Konflikte entbrannten über die Budgetbewilligung durch sozialdemokratische Abgeordnete in Süddeutschland und die Anpassung der SPD an den deutschen Imperialismus, die sich in der Haltung zur deutschen Kolonialpolitik und der passiven Reaktion der Partei auf die militärische Aufrüstung äußerte.

19. Die Parteiführung um August Bebel und Karl Kautsky rückte mit dem Herannahen des Weltkriegs immer deutlicher von Rosa Luxemburg ab und wich einem Konflikt mit den Gewerkschaftsführern aus. Als dann der Krieg 1914 ausbrach, hatten die opportunistischen Elemente in der Partei die Oberhand. Sie hatten den Krieg – in Trotzkis Worten „der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt“ [9] – nicht vorhergesehen und reagierten, indem sie vor dem deutschen Imperialismus kapitulierten. Nachdem die SPD noch kurz vorher auf internationalen Kongressen die internationale Solidarität beschworen hatte, bekannte sie sich nun zur Vaterlandsvereidigung und verschob den Sozialismus in eine ferne Zukunft. Sie votierte im Reichstag für die Kriegskredite und stellte ihren gesamten Apparat in den Dienst der imperialistischen Kriegspropaganda.

20. Auch alle anderen sozialdemokratischen Parteien—mit Ausnahme der serbischen Partei und der russischen Bolschewiki – bekannten sich zur Vaterlandsverteidigung. Das besiegelte den Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Ihr Übergang ins Lager der herrschenden Klasse war vollständig und unwiderruflich. Als bei Kriegsende revolutionäre Kämpfe aufflammten, verteidigten die sozialdemokratischen Parteien die bürgerliche Ordnung mit allen Mitteln. In Deutschland ließ die SPD auf aufständische Arbeiter schießen. Sie verbündete sich mit der Obersten Heeresleitung, um die Revolution zu unterdrücken und ihre Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Das sozialdemokratische Zentralorgan Vorwärts warb für die Freikorps, die paramilitärischen Mörderbanden, aus denen sich später Hitlers SA rekrutierte. Als die Weimarer Republik später in die Krise geriet, unterstützte die SPD Brünings Notverordnungen, wählte Hindenburg zum Reichspräsidenten und half so, Hitler den Weg an die Macht zu bahnen.

21. Dieser historische Verrat, dessen Folgen den weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollte, hatte objektive Ursachen in den historischen Bedingungen der vorangegangenen Epoche. Der Aufstieg der SPD hatte sich vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden Phase der kapitalistischen Expansion vollzogen. Theoretisch marschierte sie zwar unter dem Banner des Marxismus, doch ihre Praxis war ganz auf die täglichen Bedürfnisse der Arbeiter und die Entwicklung der eigenen Kräfte ausgerichtet – die Erhöhung der Mitgliederzahl, die Füllung der Kassen und die Entwicklung der Presse. Obwohl der Revisionismus im theoretischen Streit unterlag, lebte er in der Partei fort und nährte sich von ihrer Praxis und Psychologie. „Die kritische Widerlegung des Revisionismus als einer Theorie bedeutete durchaus nicht seine taktische und psychologische Überwindung“, schrieb Trotzki. „Die Parlamentarier, Gewerkschaftler und Genossenschaftler fuhren fort zu leben und zu wirken in der Atmosphäre allseitigen Possibilismus, praktischer Spezialisierung und nationaler Beschränktheit.“ [10]

22. Die Katastrophe von 1914 war aber nicht unausweichlich. Die objektive Lage vor dem Weltkrieg förderte nicht nur den Opportunismus, sondern befruchtete auch die Entstehung revolutionärer Strömungen in der Zweiten Internationale und in der Arbeiterklasse als Ganzes. Revolutionäre Marxisten wie Lenin, Trotzki und Luxemburg verstanden die Widersprüche des Imperialismus weit besser und tiefer als Opportunisten wie Bernstein, die sich von den oberflächlichen Eindrücken des wirtschaftlichen Aufschwungs und gewerkschaftlicher Erfolge blenden ließen. Im systematischen Kampf gegen den Opportunismus bereiteten sie die Arbeiterklasse auf die kommenden Erschütterungen vor. Niemand begriff dies besser als Lenin, der den Opportunismus auf theoretischer, politischer und organisatorischer Ebene unnachgiebig bekämpfte und bereits 1903 mit den russischen Opportunisten, den Menschewiki, brach. Lenin entwickelte den Marxismus in einer ständigen Auseinandersetzung mit dem politischen und ideologischen Druck bürgerlicher und kleinbürgerlicher Tendenzen. Er betrachtete den Konflikt zwischen rivalisierenden Strömungen nicht als subjektiv motivierten Kampf um Einfluss über die Arbeiterklasse, sondern als objektiven Ausdruck realer Veränderungen in den Klassenbeziehungen – sowohl zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, als auch zwischen verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse. Das bereitete die Bolschewiki auf den Krieg und die folgenden revolutionären Erschütterungen vor.

23. Die Bolschewiki traten nicht nur den Vaterlandsverteidigern entgegen, sondern auch den Pazifisten, die sich auf die Losung nach Frieden beschränkten. Lenin trat dafür ein, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, d.h. er verband den Kampf gegen den Krieg mit der Vorbereitung der sozialistischen Revolution. 1917 wurde diese Perspektive in Russland bestätigt. Die Februarrevolution brachte die Menschewiki und Sozialrevolutionäre an die Macht. Sie setzten den Krieg im Interesse der russischen Bourgeoisie und ihrer imperialistischen Verbündeten fort und gerieten in scharfen Konflikt mit den Friedensbestrebungen der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die sich den Bolschewiki zuwandten. Diese organisierten im Oktober einen Aufstand, der die Provisorische Regierung stürzte und die Macht in die Hände der Sowjets legte. Die Sowjetregierung stellte die Kriegsteilnahme sofort ein und veröffentlichte die Geheimverträge über die imperialistischen Kriegsziele.

24. Der Sieg der Oktoberrevolution kennzeichnete einen historischen Wendepunkt. Erstmals ergriff in Russland die Arbeiterklasse unter marxistischer Führung die Macht und behauptete sie. Ungeachtet ihrer späteren Degeneration bewies die Oktoberrevolution, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, die kapitalistische Ordnung zu stürzen und das Fundament für eine höhere, fortschrittlichere Gesellschaft zu legen. Sie wurde zum Ansporn für revolutionäre Erhebungen auf der ganzen Welt. Der barbarische Charakter des Kriegs, die Empörung über den Verrat der Sozialdemokratie und die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs radikalisierten breite Schichten von Arbeitern. Sie orientierten sich an den revolutionären Marxisten, die sich von Anfang an gegen den Krieg gestellt hatten. Im März 1919 fand in Moskau der Gründungskongress der Dritten oder Kommunistischen Internationale statt. Sie erklärte kategorisch, dass für zentristische und opportunistische Elemente kein Platz in ihren Reihen sei, und entwickelte das Programm, die Strategie und die Taktik der sozialistischen Weltrevolution als praktische Aufgabe der internationalen Arbeiterklasse.

25. Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution markierten den Beginn einer neuen historischen Epoche, der Epoche der Todeskrise des Kapitalismus und der sozialistischen Weltrevolution. Die folgenden drei Jahrzehnte waren durch eine ununterbrochene Folge erbitterter Klassenkämpfe und militärischer Auseinandersetzungen geprägt. Dies erforderteeine andere Art von Partei, als sie die Zweite Internationale aufgebaut hatte. Es war nicht mehr möglich, sich theoretisch zu einem Maximalprogramm, zum Internationalismus und zur Revolution zu bekennen, während die Tagespraxis in organisatorischer Routine verharrte und auf ein Minimalprogramm, auf Reformen im nationalen Rahmen beschränkt blieb. Die neuen Parteien mussten in der Lage sein, schnell auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, ihre Taktik der revolutionären Strategie unterzuordnen, diszipliniert zu handeln und einen unversöhnlichen Kampf gegen den Opportunismus zu führen.

26. Trotzki fasste später den Unterschied zwischen den Parteien der Zweiten und der Dritten Internationale mit den Worten zusammen: „In einer Zeit des wachsenden Kapitalismus konnte selbst die beste Parteileitung nicht mehr tun, als die Ausformung der Arbeiterpartei beschleunigen. Umgekehrt konnten Fehler der Führung diesen Prozess nur verzögern. Die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution reiften nur langsam heran, und die Arbeit der Partei behielt einen vorbereitenden Charakter. Jetzt dagegen legt jede neue scharfe Wendung der politischen Situation nach links die Entscheidung in die Hände der revolutionären Partei. Verpasst sie die kritische Situation, so schlägt diese in ihr Gegenteil um. Unter diesen Bedingungen bekommt die Rolle der Parteiführung eine ausschlaggebende Bedeutung. ... Die Rolle des subjektiven Faktors kann in einer Periode der langsamen organischen Entwicklung eine durchaus untergeordnete bleiben. ... Sobald aber die objektiven Voraussetzungen herangereift sind, wird der Schlüssel zu dem ganzen historischen Prozess in die Hände des subjektiven Faktors, d.h. der Partei gelegt. Der Opportunismus, der bewusst oder unbewusst im Geiste der Vergangenheit lebt, neigt immer dazu, die Rolle des subjektiven Faktors, d.h. die Bedeutung der Partei und der revolutionären Führung zu unterschätzen. ... Eine solche Einstellung, die überhaupt falsch ist, wirkt sich in dieser Epoche direkt vernichtend aus.“ [11]


[8]

Paul Frölich, Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Berlin 1990, S. 171-172

[9]

Leo Trotzki, Der Krieg und die Internationale, in: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 378

[10]

ebd., S. 439, 441

[11]

Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 95-97