235. Zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion befindet sich der Weltkapitalismus in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise. Der Finanzzusammenbruch, der im September 2008 mit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers begann, hat die tiefste Weltrezession seit den 1930er Jahren ausgelöst und zahlreiche Staaten an den Rand des Bankrotts getrieben. Diese Krise wurde lange vorbereitet. Ihre Ursache liegt in den Widersprüchen des kapitalistischen Systems: dem Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Widerspruch zwischen der globalen Wirtschaft und dem Nationalstaatensystem. Sie erinnert in vieler Hinsicht an die Lage vor hundert Jahren, am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Damals mündete die Krise des Weltkapitalismus in eine dreißigjährige Periode heftiger Klassenkämpfe und Kriege, in deren Verlauf die Beziehungen zwischen den Klassen und den imperialistischen Mächten gewaltsam neu geordnet wurden. Auch die jetzige Krise ist der Auftakt zu einer umfassenden Neuordnung der ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen, die nicht weniger heftig verlaufen wird als in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Bleibt die Initiative zur Lösung der Krise in den Händen der Kapitalisten, führt sie zu Massenarmut, Unterdrückung und Krieg. Die einzige Alternative ist die sozialistische Lösung: Machtübernahme durch die Arbeiterklasse, Vergesellschaftung und demokratische Kontrolle von Banken und Industrien sowie wirtschaftliche Planung, die sich an den gesellschaftlichen Bedürfnissen und nicht an den Profitinteressen Einzelner orientiert.
236. Schon die Auflösung der Sowjetunion war eine Reaktion auf die wachsenden Widersprüche des Weltkapitalismus, und sie hat diese Widersprüche weiter verschärft. Solange die Sowjetunion existiert hatte, sahen sich die imperialistischen Mächte genötigt, die sozialen und internationalen Spannungen zu dämpfen. Aus Angst vor einer Ausweitung der Oktoberrevolution machten sie soziale Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, und im Interesse einer gemeinsamen Front gegen die Sowjetunion zügelten sie ihre Interessenskonflikte und ihre militärischen Ambitionen. Seit dem Ende der Sowjetunion ist dies nicht mehr der Fall. Bereits im Januar 1991 griff ein militärisches Bündnis unter Führung der USA den Irak an. Das Internationale Komitee unterstrich damals, dass dieser Krieg keine isolierte Episode sei: „Die noch nicht abgeschlossene, de facto Aufteilung des Irak zeigt den Beginn einer Neuaufteilung der Welt durch die Imperialisten an. Die Kolonien von gestern sollen erneut unterworfen werden.“ Es bezeichnete „das Streben des amerikanischen Imperialismus, seine Vormachtstellung in der Welt zurückzuerlangen“, als „eines der explosivsten Elemente in der Weltpolitik“. Die zunehmende Kriegsbereitschaft des amerikanischen Imperialismus stelle „einen Versuch dar, seinen wirtschaftlichen Verfall aufzuhalten und umzukehren durch den Einsatz militärischer Macht – dem einzigen Bereich, in dem die Vereinigten Staaten nach wie vor die unbestrittene Vormachtstellung innehaben.“ [133]
237. Diese Einschätzung sollte sich in den folgenden Jahren bestätigen. Der US-Imperialismus trat immer aggressiver auf. 1999 bombardierte ein US-geführtes Militärbündnis die Bundesrepublik Jugoslawien und erzwang die Abtrennung des Kosovo. 2001 folgte die Besetzung Afghanistans und 2003 die Eroberung des Irak, die bis heute über eine Million Opfer und mehrere Millionen Flüchtlinge gefordert hat. Auch der Iran und Nordkorea gelten als potentielle Ziele amerikanischer Angriffe. Während die Vorwände für die Kriege wechseln, bleibt ihr Ziel stets dasselbe: Die Unterwerfung und Kontrolle von Regionen, die für die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Großmächte – insbesondere deren Energieversorgung – von strategischer Bedeutung sind. Der amerikanische Imperialismus, dem in Europa, China, Asien und Südamerika starke Rivalen erwachsen sind, spielt dabei die Vorreiterrolle. Doch auch die anderen imperialistischen Mächte beteiligen sich in der einen oder anderen Form an diesen Kriegen, teils um das Feld nicht den USA zu überlassen, teils weil sie ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen.
238. Die Bundesrepublik hatte sich nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg ins Nato-Bündnis eingereiht und in der Konfrontation mit der Sowjetunion eine Frontstellung eingenommen. Sie hatte eine gewaltige Wehrpflichtigenarmee von 500.000 Mann aufgestellt und amerikanische Atomwaffen auf ihrem Territorium stationiert. Bis zur Wiedervereinigung beschränkte sich die Bundeswehr allerdings auf defensive Aufgaben im Nato-Raum. Danach wandelte sie sich zu einem der wichtigsten militärischen Akteure auf der Weltbühne. 1999 beteiligte sie sich im Krieg gegen Jugoslawien erstmals an einem Kampfeinsatz. Elf Jahre später befinden sich rund 7.000 deutsche Soldaten im Auslandseinsatz, über die Hälfte davon in Afghanistan. Geschah dies anfangs noch unter dem Vorwand, es handle sich um eine Friedens – und Aufbaumission, bezeichnet die Bundesregierung den Afghanistaneinsatz inzwischen offen als Krieg. Auch innerhalb Europas brechen die alten nationalen Gegensätze wieder auf. Deutschlands Weigerung, der bankrottgefährdeten griechischen Regierung finanziell unter die Arme zu greifen, hat die anderen EU-Mitglieder gegen Berlin aufgebracht und die gemeinsame Währung in Frage gestellt. Die Hoffung auf eine friedliche Einigung Europas von oben erweist sich erneut als Utopie. Europäische „Einheit“ auf kapitalistischer Grundlage bedeutet Vorherrschaft der mächtigsten Finanzinteressen, Abschottung nach außen, Anwachsen nationaler Spannungen und endlose Angriffe auf die Lebensgrundlagen der Arbeiterklasse.
239. Pazifistische Appelle an die Herrschenden oder die Forderung nach Abrüstung können dem Anwachsen von nationalen Spannungen, Krieg und Militarismus nicht Einhalt gebieten. Diese ergeben sich, wie Trotzki schon 1940 über den Zweiten Weltkrieg schrieb, „unerbittlich aus den Widersprüchen der internationalen kapitalistischen Interessen“. „Hauptursache des Krieges, wie aller anderen sozialen Übel – Arbeitslosigkeit, hohe Lebenskosten, Faschismus, koloniale Unterdrückung – (sind) das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der bürgerliche Staat, der darauf beruht.“ [134] Der Kampf gegen Krieg und Militarismus ist untrennbar mit dem Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse verbunden, die sich den Sturz des Kapitalismus zum Ziel setzt. Die dringend erforderliche Einigung Europas ist nur auf sozialistischer Grundlage denkbar, in Form Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa.
240. Die Ereignisse in Griechenland sind der Ausgangpunkt für eine neue Offensive gegen die europäische Arbeiterklasse. Die Regierungen haben Billionen zur Rettung der Banken ausgegeben und gehen nun dazu über, diese gewaltigen Kosten auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Unter dem Druck internationaler Spekulanten und dem Diktat der Brüsseler Kommission hat die sozialdemokratische griechische Regierung ein beispielloses Sparprogramm beschlossen. Auf deutsche Verhältnisse umgerechnet entsprechen allein die für das Jahr 2010 geplanten Haushaltskürzungen einem Volumen von 100 Milliarden Euro, mehr als die 80 Milliarden Euro, die die Bundesregierung aufgrund der Schuldenbremse in sechs Jahren einsparen will. Nie zuvor ist es einer Regierung gelungen, derartige Einschnitte mit demokratischen Mitteln durchzusetzen. Irland, Lettland und Ungarn haben ähnliche Programme beschlossen, im hoch verschuldeten Portugal, Spanien, Italien, Ungarn und Großbritannien stehen sie unmittelbar bevor. Aber auch Deutschland und Frankreich planen drakonische Einschnitte in die öffentlichen Haushalte.
241. Dabei hat die soziale Ungleichheit schon jetzt ein Ausmaß erreicht, wie seit den 1930er Jahren nicht mehr. 2008 lebte jeder siebte Einwohner Deutschlands, einem der reichsten Länder der Welt, in Armut oder war von Armut bedroht – ein Drittel mehr als zehn Jahre zuvor. Jeder vierte junge Erwachsene im Alter von 19 bis 25 Jahren und jeder zweite Alleinerziehende mit Kleinkindern lebte unterhalb der Armutsschwelle. Anfang 2009 waren 3,5 Millionen arbeitslos. Immer mehr Beschäftigte arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen. Mittlerweile sind nur noch etwas mehr als die Hälfte aller angebotenen Stellen normale, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Der Versuch, den Lebensstandard noch weiter zurückzuschrauben, muss in Deutschland, Europa und weltweit zu einer heftigen Zuspitzung des Klassenkampfs führen.
242. Die Krisenanfälligkeit der Weltwirtschaft, die Verschärfung geo-politischer Spannungen, das Anwachsen des Militarismus, die Unterhöhlung demokratischer Rechte, die Zunahme von Sozialabbau und Arbeitslosigkeit sowie die Entfremdung breiter Schichten der Bevölkerung von den etablierten politischen Organisationen sind untrügliche Anzeichen einer herannahenden revolutionären Krise. Das derzeit noch relativ niedrige Niveau des Klassenkampfs sollte darüber nicht hinwegtäuschen. Die Arbeiterklasse hat derzeit keine Stimme, um ihre Interessen zu artikulieren. Ihre traditionellen politischen Parteien haben sie völlig im Stich gelassen. Soweit sie noch alte politische Etiketten wie „sozialdemokratisch“, „sozialistisch“ oder „kommunistisch“ tragen, haben diese keine inhaltliche Bedeutung mehr. Politisch unterscheiden sie sich kaum noch von den traditionell rechten bürgerlichen Parteien, wie die Verwandlung der britischen Labour-Party, die Agenda 2010 der deutschen SPD und das Sparprogramm der griechischen PASOK beweisen. Unter der Oberfläche wächst der Unmut der Bevölkerung, die nach einem Ausweg sucht. Sie wird aus dem bestehenden Rahmen der offiziellen Politik ausbrechen und dabei in offenen Konflikt mit der SPD, der Linkspartei und den Gewerkschaften geraten.
243. Den Anforderungen der kommenden revolutionären Epoche kann nur eine Partei gerecht werden, die sich auf die Arbeiterklasse stützt, sich von den höchst entwickelten politischen Theorien leiten lässt, die Lehren aus den vergangenen Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse gezogen hat und ihr Programm auf ein wissenschaftliches Verständnis der objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung basiert. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ist die einzige politische Tendenz, die ihre politische Arbeit auf historische Grundsätze stützt und ihre Geschichte der Arbeiterklasse lückenlos präsentieren kann. Die Sozialdemokraten, Stalinisten, pablistischen Strömungen und Gewerkschaften vermeiden es tunlichst, an ihre Vergangenheit zu rühren, die voller Fehlleistungen und Verbrechen ist, oder ihre opportunistischen Manöver durch historische Grundsätze stören zu lassen. Das Internationale Komitee wird die entschlossensten, mutigsten und ehrlichsten Elemente der Arbeiter und der Jugend unter sein Banner gewinnen.
244. Die Partei für Soziale Gleichheit wird sich energisch dafür einsetzen, die Herausbildung neuer und unabhängiger Organisationen der Bevölkerung zu fördern und sie bei der Entwicklung ihres Programms und ihrer Taktik zu unterstützen. Die wachsende soziale Krise wird zahlreiche Kämpfe und Formen des Widerstands in der Bevölkerung hervorbringen. Doch die entscheidende Frage bleibt der Aufbau einer neuen revolutionären Führung. Die Aufgabe, eine internationale sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse zu organisieren, einer neuen Generation von Arbeitern und Jugendlichen die Perspektive und Geschichte des Marxismus zu vermitteln, fällt der Partei für Soziale Gleichheit und ihren Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale zu.
Internationales Komitee der Vierten Internationale, Gegen imperialistischen Krieg und Kolonialismus!, in: Vierte Internationale, Jg.18, Nr.1, S. 8, 15-16
Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution, in: Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, S. 213