Die radikale Linke in Frankreich

Teil 2 - Die Sammlung der "antikapitalistischen Linken" durch die LCR

Die LCR ließ sich nur widerwillig auf das Wahlbündnis mit LO ein. Auf dem Parteikongress im November 2003 stimmten lediglich 70 Prozent der Delegierten für die entsprechende Resolution. Die restlichen waren der Ansicht, ein exklusives Bündnis mit LO sei zu "sektiererisch". LO hatte darauf bestanden, dass keine anderen politischen Organisationen oder Tendenzen an dem Bündnis beteiligt werden.

Wesentlich mehr Stimmen erhielt auf dem LCR-Kongress eine zweite Resolution mit dem Titel "Die antikapitalistische Linke sammeln". (1) Sie wurde von 82 Prozent der Delegierten unterstützt. Sie ruft zum Aufbau einer breiten Sammlungsbewegung auf, die auch Teile der offiziellen Linken sowie der Antikriegs- und Antiglobalisierungsbewegung umfasst. Daraus soll eine "neue politische Kraft" entstehen, die "breit und pluralistisch, radikal antikapitalistisch und resolut demokratisch" ist. An einer anderen Stelle ist von einer "neuen antikapitalistischen, feministischen und ökologischen politischen Kraft" die Rede, "die gegen jede Art von Unterdrückung kämpft".

Diese Resolution gibt die wirkliche Orientierung der LCR wieder. Das Wahlbündnis mit LO gilt ihr dagegen lediglich als zeitweiliger Schritt, zu dem sie sich aufgrund des raschen Niedergangs der offiziellen Linken und der relativ hohen Wahlergebnisse Arlette Laguillers gezwungen sah - nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, auch die widerstrebende LO oder zumindest Bruchstücke davon in ihr "antikapitalistisches Bündnis" mit einzubeziehen.

Anders als im gemeinsamen Wahlprogramm ist in dieser Resolution auch von einer alternativen Regierung die Rede. Ein Absatz lautet: "Gemeinsam lehnen wir es ab, unsere Kämpfe und Hoffnungen für ein neues Regierungsbündnis mit der sozialliberalen Linken oder für eine Perspektive, die sich der Leitung der kapitalistischen Wirtschaft und Institutionen verschreibt, vergeuden zu lassen. Die Alternative gegen die Rechte, die Nationale Front und [den Unternehmerverband] Medef kann nur eine Regierung sein, die sich auf die Mobilisierung und demokratische Organisation der Bevölkerung stützt, eine Regierung, die ein soziales Dringlichkeitsprogramm verwirklicht." An anderer Stelle ist sogar vom "Ziel einer Regierung der Arbeiter und Arbeiterinnen" die Rede, "die sich auf die Mobilisierung der Bevölkerung stützt, um eine radikale soziale Umwandlung in Angriff zu nehmen, die es möglich macht, die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, und dafür sorgt, dass die Wirtschaft keine Privatangelegenheit mehr ist und zum Eigentum aller wird".

Aber dieser Aufruf zu einer "Regierung der Arbeiter und Arbeiterinnen" entbehrt jeder klaren programmatischen Grundlage. Die LCR hat es in jahrzehntelanger Übung zur Meisterschaft darin gebracht, ihr wirkliches Programm hinter einem Nebel radikaler und revolutionär klingender Phrasen zu verbergen - was in einem Land, in dem die revolutionären Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts fortleben, die stalinistische PCF einst stärkste Partei war und sich selbst die älteste Partei des Bürgertums als Radikale Partei bezeichnet, nicht allzu viel Mühe bereitet.

Ein Blick auf die unterschiedlichen politischen Tendenzen und gesellschaftlichen Gruppen, die die LCR in ihre "Umgruppierung zu einer einzigen Partei" einbeziehen will, macht deutlich, dass die von ihr angestrebte "Regierung der Arbeiter und Arbeiterinnen" nichts mit einer Arbeiterregierung gemein hat, wie sie Marxisten bisher gemeinhin verstanden haben. Es handelt sich nicht um eine Regierung, die unabhängig von der Bourgeoisie ist und sich auf die mobilisierte Arbeiterbevölkerung stützt. Vielmehr will die LCR eine bunt gemischte, sozial und politisch heterogene Sammelbewegung aufbauen, die im bürgerlichen Politikbetrieb den Platz einnimmt, der durch den Niedergang der offiziellen Linken frei geworden ist - und die notfalls bereit wäre, in eine bürgerliche Regierung einzutreten.

Die Tendenzen und Gruppen, an die sich der Aufruf der LCR richtet, vertreten mehrheitlich Auffassungen, die mit einer sozialistischen Perspektive nicht zu vereinbaren sind.

Da ist als erstes die Anti- oder Alterglobalisierungsbewegung, die in der Kongressresolution als wichtigster Bestandteil der "antikapitalistischen Linken" angeführt wird. Deren Wortführer wenden sich nicht gegen die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse als solche, sondern nur gegen eine bestimmte Form kapitalistischer Wirtschaftspolitik, den sogenannten "neoliberalen Kapitalismus". Einige verlangen die Rückkehr zu einem national regulierten Kapitalismus im Stile der sechziger Jahre und treten für Handelsschranken und protektionistische Maßnahmen ein - reaktionäre Forderungen, die in ihrer Konsequenz zu Handelskrieg und Krieg führen. Andere glauben, sie könnten die Übel der modernen Gesellschaft mit Hilfe eines einzigen Wundermittels heilen, das das kapitalistische Eigentum intakt lässt - der Tobin-Steuer.

Als zweites wird die Antikriegsbewegung als wichtiger Pfeiler der "antikapitalistischen Linken" genannt. Auch hier finden sich die unterschiedlichsten politischen Tendenzen wieder. Ein Flügel unterstützt die Außenpolitik von Schröder und Chirac (über die sich die LCR bezeichnenderweise ausschweigt). Ein anderer vertritt rein pazifistische Positionen und setzt auf die Überzeugungskraft moralischer Appelle. Marxisten gründen ihre Opposition gegen den Krieg dagegen auf ein Verständnis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Kapitalismus, Imperialismus und Krieg. Für sie fällt der Kampf gegen den Krieg und gegen den Kapitalismus untrennbar zusammen.

Die ökologische und die feministische Bewegung schließlich, die die LCR ebenfalls in die "antikapitalistische Linke" einbeziehen will, haben für sich genommen überhaupt keine antikapitalistische Stoßrichtung - wie das Schicksal der deutschen Grünen anschaulich vor Augen geführt. Diese hatten, als sie vor 25 Jahren unter dem Beifall der deutschen Gesinnungsgenossen der LCR entstanden, die Ökologie und den Feminismus - neben Basisdemokratie und Pazifismus - groß auf ihre Fahne geschrieben und sind heute eine rechte bürgerliche Partei wie jede andere.

Die Resolution der LCR richtet sich auch ausdrücklich "an die kommunistischen, sozialistischen und grünen Wähler/Innen und Mitglieder" sowie "an Strömungen, die aus der traditionellen Linken hervorgegangen sind". Dabei bleibt völlig unklar, auf welcher Grundlage sich diese Mitglieder und Ex-Mitglieder reformistischer Parteien der neuen Sammlungsbewegung anschließen sollen. Dass sie von ihren alten Parteien enttäuscht sind, muss nicht heißen, dass sie auch mit deren reformistischen Konzeptionen gebrochen, die Ursache für ihren Niedergang verstanden und politische Lehren daraus gezogen haben.

Es ist aber erklärtermaßen nicht die Absicht der LCR, einen politischen Klärungsprozess herbeizuführen. Stattdessen will sie diese verschiedenartigen und gegensätzlichen politischen Tendenzen und gesellschaftlichen Strömungen unterschiedslos unter einem Dach vereinen. Dabei wendet sie sich nicht nur an die Mitglieder, sondern auch an die Spitzen dieser Organisationen. So trifft sie sich zu regelmäßigen Gesprächsrunden mit der Führung der Kommunistischen Partei. Sollte sich die PCF dazu entschließen, würde die LCR sie auch als ganze in ihrer "antikapitalistischen Linken" willkommen heißen.

Es ist offensichtlich, dass eine derart formlose und heterogene Organisation, wie sie der LCR vorschwebt, dem ideologischen und politischen Druck nicht gewachsen wäre, der in einer gesellschaftlichen Krise unweigerlich auf jeder politischen Organisation lastet. Wenn schon die LCR auf den Schock vom 21. April 2002 reagiert hat, indem sie mit fliegenden Fahnen ins "republikanische Lager" Chiracs überlief, wie würde sich dann erst eine bunt gemischte Truppe wie die angestrebte "antikapitalistische Linke" in einer ähnlichen oder tieferen Krise verhalten?

Derartige Krisen entwickeln sich gesetzmäßig aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft. Aber ihr Verlauf und ihr Ergebnis ist nicht gesetzmäßig vorherbestimmt. Sämtliche Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass Erfolg oder Misserfolg des Proletariats in einer derartigen Krise von der Vorbereitung, Reife und Standhaftigkeit seiner Führung abhängt. Das Gründungsprogramm der Vierten Internationale, als deren französische Sektion sich die LCR bezeichnet (mit welchem Recht, werden wir noch sehen), beginnt nicht zufällig mit den Worten: "Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet." (2)

Die LCR betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, diese Krise zu lösen. Sonst müsste sie sich um die Klärung der politischen Perspektiven und deren Abgrenzung von reformistischen, zentristischen und kleinbürgerlich-radikalen Tendenzen bemühen. Das lehnt sie explizit als "Sektierertum" ab. Es würde sie zu viele Freundschaften in den Reihen der bürokratischen Apparate, der liberalen Intelligenz und der kleinbürgerlichen Protestbewegung kosten. Eine kühne, klare und kompromisslose Perspektive würde zwar frische und unverbrauchte Kräfte anziehen, die das linke Geschwätz ohne Folgen, die hohlen Proteste ohne Wirkung und die Streiks ohne Ergebnis satt haben und nach einer mutigen, zukunftsweisenden Orientierung suchen. Doch das ist nicht das Ziel der LCR.

Die linke Sammlungsbewegung, die sie anstrebt, wird ein zusätzliches Hindernis auf dem Weg zur sozialistischen Revolution bilden. Käme es zu einem französischen Oktober, würde sie Kerenski unterstützen und nicht Lenin und Trotzki. Die bürgerliche Herrschaft bedient sich in akuten Krisen oft derart diffuser, zentristischer Organisationen, um die Massen zu verwirren, zu lähmen und zu demoralisieren, bis die Reaktion ausreichend erstarkt ist, um zuzuschlagen. Im Frankreich und Spanien der dreißiger Jahre und im Chile Salvador Allendes spielte die Volksfront diese Rolle.

In Frankreich nutzt die herrschende Elite die pseudorevolutionäre Linke seit längerem als Rekrutierungsfeld für ihr politisches Personal. Am bekanntesten dürfte der Fall Lionel Jospins sein, der von 1997 bis 2002 der Regierung der Mehrheitslinken vorstand. Jospin war von Mitte der sechziger bis weit in die achtziger Jahre hinein geheimes Mitglied der Organisation Communiste Internationaliste, der Vorgängerorganisation der PT, und stieg als solches an die Spitze der Sozialistischen Partei auf. (3)

Jospin ist aber kein Einzelfall. Edwy Plenel, in den siebziger Jahren zehn Jahre Mitglied der LCR und heute Chefredakteur der renommierten Tageszeitung Le Monde, schreibt in seinem Buch "Geheimnisse der Jugend": "Ich war nicht der einzige: wir sind sicher einige Zehntausende, die, nachdem wir in den sechziger und siebziger Jahren mehr oder weniger auf der - trotzkistischen oder nicht trotzkistischen - extremen Linken engagiert waren, die kämpferischen Lehren zurückgewiesen haben und unsere damaligen Illusionen zum Teil kritisch betrachten, ohne jedoch eine Treue zu unserer ursprünglichen Wut aufzugeben und ohne unsere Schuld gegenüber dieser Ausbildung zu verschweigen." (4)

Jospin hatte die Regierung übernommen, nachdem die Aufstandsbewegung vom Winter 1995/96 die enorme Fragilität der bürgerlichen Herrschaft offenbart hatte. Fünf Jahre später war Jospins linker Nimbus verbraucht, das bewies seine Niederlage in der Präsidentenwahl. In künftigen Krisen wird die bürgerliche Herrschaft neue Stützen auf der Linken benötigen. Für diese Aufgabe bietet sich die "antikapitalistische Linke" der LCR an.

Abschied von der "Diktatur des Proletariats"

Nicht zufällig hat der Kongress vom letzten November beschlossen, den Begriff "Diktatur des Proletariats" aus den Statuten der LCR zu streichen. Natürlich ist keine marxistische Organisation verpflichtet, diese Formulierung, die wie viele andere marxistische Begriffe aufgrund des jahrzehntelangen Missbrauchs durch den Stalinismus zahlreichen Missverständnissen ausgesetzt ist, in ihren Statuten zu führen oder wie eine Monstranz vor sich her zu tragen. Er beinhaltet aber eine grundlegende politische Frage, an deren Klärung kein Weg vorbei führt - das Verhältnis gegenüber dem bürgerlichen Staat.

Lenin hatte am Vorabend der Oktoberrevolution das marxistische Verständnis des Staats einer gründlichen Überprüfung unterzogen und dabei die Bedeutung des marxistischen Begriffs "Diktatur des Proletariats" herausgearbeitet. (5)

Der Begriff "Diktatur" anerkennt zuerst einmal ganz einfach die Tatsache, dass jeder Staat - ob demokratisch oder autoritär - ein Instrument der Klassenherrschaft ist. "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassen herrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen ‚Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft", schreibt Lenin. Die Aufgabe der sozialistischen Revolution besteht demnach in der Ersetzung des bürgerlichen Staats ("Diktatur der Bourgeoisie") durch einen Arbeiterstaat ("Diktatur des Proletariats").

Lenin macht deutlich, dass die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat nicht von innen heraus erobern und ihren Apparat - Armee, Polizei und staatliche Bürokratie - übernehmen kann. Marx und Engels hatten bereits aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 den Schluss gezogen, dass "die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann". Der alte Staatsapparat, der "durch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch und durch von verknöcherten Gewohnheiten und Konservatismus durchsetzt ist" (Lenin), ändert seinen Klassencharakter nicht, wenn sozialistische Minister an seine Spitze treten. Er muss zerbrochen und durch einen neuen ersetzt werden. In dieser Frage besteht nach Lenins Auffassung der wichtigste Unterschied zwischen Marxismus und allen Spielarten des Opportunismus. Sie bildet den Kern der Anerkennung der "Diktatur des Proletariats".

Dabei lassen Lenins Schrift und die von ihm angeführten Aussagen von Marx und Engels keinen Zweifel aufkommen, dass jede Form der "Diktatur des Proletariats" ungleich demokratischer sein wird als irgend ein bürgerlicher Staat und mit dem Übergang zum Sozialismus ganz absterben wird. "Unter dem Kapitalismus ist die Demokratie durch die ganzen Verhältnisse der Lohnsklaverei, der Not und des Elends der Massen eingeengt, eingeschnürt, gestutzt, verstümmelt", schreibt er, und: "Im Sozialismus wird unvermeidlich vieles von der ‚primitiven' Demokratie wieder aufleben, denn zum erstenmal in der Geschichte der zivilisierten Gesellschaften wird sich die Masse der Bevölkerung zur selbständigen Teilnahme nicht nur an Abstimmungen an Wahlen, sondern auch an der laufenden Verwaltungsarbeit erheben. Im Sozialismus werden alle der Reihe nach regieren und sich schnell daran gewöhnen, dass keiner regiert." Lenins Auffassung der "Diktatur des Proletariats" lässt sich also nicht zur Rechtfertigung jenes despotischen, bürokratischen Molochs heranziehen, zu der sich der Sowjetstaat unter Stalins Herrschaft entwickeln sollte.

Die Kommunistische Partei Frankreichs führte den Begriff "Diktatur des Proletariats" bis 1976 in ihrem Programm, obwohl sie sich in der Praxis schon lange davon verabschiedet hatte und den bürgerlichen Staat loyal unterstützte. Als sie sich schließlich von dem Begriff trennte, erregte das beträchtliches Aufsehen. Es galt als politisches Signal für ihre Bereitschaft, in eine bürgerliche Linksregierung einzutreten - was sie fünf Jahre später dann auch tatsächlich tat.

Die LCR hat sich große Mühe gegeben, alle Parallelen zwischen ihrem heutigen Verhalten und dem damaligen Vorgehen der PCF zu bestreiten. Die Parteizeitung Rouge versicherte ihren Lesern in der Ausgabe vom 11. Dezember, bei der Streichung der "Diktatur des Proletariats" handle sich lediglich um die "Aufgabe einer Formel, während der Inhalt beibehalten wird.... Unsere Organisation setzt sich für die sozialistische Revolution ein, für die Macht der Arbeiter und Arbeiterinnen." Es wäre auch falsch, heißt es weiter, "diese Neuformulierung mit wirklichen oder angeblichen Fehlern Lenins und seiner Genossen zu begründen". (6)

Ungeachtet dieses Dementis findet innerhalb der LCR gegenwärtig eine intensive Diskussion über das Verhältnis zum bürgerlichen Staat statt. Dabei wird nicht nur gegen angebliche Fehler Lenins zu Felde gezogen, sondern auch eine offene Unterstützung für die französische Republik erwogen.

Bereits im November war in Rouge ein Artikel von François Ollivier, einem führenden internationalen Vertreter der LCR, erschienen, der den Begriff "Diktatur des Proletariats" heftig attackiert und mit einer ausdrücklichen Kritik an Lenin und Trotzki verbindet.

"Man muss auch auf die Irrtümer der russischen Revolutionäre zurückkommen", schreibt Ollivier. "Im Namen der revolutionären Diktatur des Proletariats, verstanden als Ausnahmeregime unter Ausnahmebedingungen, haben Lenin, Trotzki und viele andere bolschewistische Führer Maßnahmen ergriffen, die nach und nach die Demokratie im Rahmen der neuen revolutionären Institutionen erstickt haben. Man hat geholfen bei der Ablösung der Sowjetdemokratie durch die Macht der Partei auf Kosten der Substanz der Räte und Komitees, bei der Weigerung eine neue verfassungebende Versammlung einzuberufen, dann beim Verbot der Strömungen innerhalb der bolschewistischen Partei selbst. Die Ausübung der Diktatur des Proletariats in Russland, auch zwischen 1918 und 1924, hat zur Verschmelzung von Staat und Partei geführt und zur schrittweisen Unterdrückung aller demokratischen Freiheiten. Diese dramatische historische Erfahrung hat die Benutzung eines solchen Begriffs hinfällig gemacht." (7)

Olliviers Argumentation ist lediglich eine neue Variation des alten Themas, wonach die Degeneration der Sowjetunion die unausweichliche Folge der Machteroberung durch die Bolschewiki im Oktober 1917 war, die Verantwortung für die Entartung des Sowjetregimes also weniger bei Stalin, als bei Lenin und Trotzki zu suchen sei. Um das Gesicht zu wahren, datiert er die "Irrtümer der russischen Revolutionäre" zwar auf 1918 und die folgenden Jahre. Aber wenn sich diese "Irrtümer" aus der "Ausübung der Diktatur des Proletariats" ergaben, dann war der größte "Irrtum" die Errichtung dieser Diktatur im Oktober 1917. Olliviers Schlussfolgerungen laufen auf die Zurückweisung des gesamten marxistischen Erbes hinaus, einschließlich Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Dieser hatte seit 1906 darauf bestanden, dass die demokratischen Aufgaben der russischen Revolution nur mittels der Diktatur des Proletariats gelöst werden können.

Ein anderes Mitglied der LCR-Führung, Christian Picquet, tritt dafür ein, die Unterstützung für die französische Republik und ihre Werte zur zentralen strategischen Achse des Programms der LCR machen. Das ist die Kernaussage seines Buches "Republik im Sturm. Essai für eine Linke der Linken", das er im vergangenen Jahr veröffentlichte. (8) Picquet verallgemeinert damit das Verhalten der LCR während der Präsidentenwahl 2002, als sie sich der "republikanischen Front" Chiracs anschloss.

Picquet begründet seinen Vorstoß damit, dass links gesinnte Leute in Frankreich ein eigenartiges Verhältnis zur Republik hätten. Während man anderswo in Europa angesichts der drohenden rechtsextremen Gefahr gegen Hass und Rassismus sowie für Demokratie und Menschenrechte demonstriere, würden diese Werte in Frankreich aus historischen Gründen im Ideal der Republik zusammengefasst. In den unruhigen Tagen zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentenwahl sei man im Namen der Republik auf die Straße gegangen.

Es folgt ein völlig entstellter Abriss der französischen Geschichte: "Das Phantom [der Republik] hat die Züge des Gespensts angenommen, dass die besitzenden Klassen seit nunmehr zweihundert Jahren jagt. Jedes Mal wenn sie sich von der Konterrevolution bedroht sah, wenn die Reaktion oder der Obskurantismus sich anschickten, ihre ursprünglichen Errungenschaften zurückzunehmen, sah man, wie sich unzählbare Massen erhoben. Von 1789 bis 1796, von 1830 bis 1848, von der Kommune zur Dreyfus-Affäre, von der Volksfront zur Résistance, von der Befreiung zur Ablehnung des Staatsstreichs von Algier, von der Verteidigung der öffentlichen Schulen, die im Laufe der Fünften Republik mehrmals in Frage gestellt wurden, zum Kampf gegen die Nationale Front, von der unaufhörlichen Verbundenheit mit der ‚Sécu' [Sozialversicherung] zur Weigerung, den Öffentlichen Dienst zerschlagen zu lassen, war allen großen Volksbewegungen gemeinsam, dass sie verschiedene Varianten der ‚republikanischen Sammlung' darstellten."

In seinem republikanischen Begeisterungstaumel übersieht der Autor, dass die französische Republik, von der Ersten bis zur Fünften, stets ein Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie war und bleibt. Die Illusionen der Massen in die Republik, die er so enthusiastisch schildert, wurden von den Sozialdemokraten und den Stalinisten gezielt geschürt um zu verhindern, dass die revolutionären Erhebungen die bürgerliche Herrschaft bedrohten. Eben darin bestand die Bedeutung der Volksfront, die zur Ursache einer verheerenden Niederlage wurde.

Selbst Rouge sah sich bemüßigt, auf einige unbestreitbare historische Tatsachen hinzuweisen. Eine Kritik an Picquets Buch macht darauf aufmerksam, dass sich die Republik auch als "schreckliche Falle für die Arbeiterbewegung erweisen" könne. Sie sei der "Boden für alle Formen der heilige Allianz der herrschenden Klassen mit der reformistischen Arbeiterbewegung" gewesen. In ihrem Namen seien die Kolonialexpeditionen gegen die Völker Nordafrikas, Schwarzafrikas und Indonesiens geführt und eine Politik der Unterdrückung und Zwangsassimilation gerechtfertigt worden. "Von den ersten Erfahrungen mit dem ‚Ministerialismus' (dem Eintritt eines sozialistischen Ministers, Millerand, in eine bürgerliche Regierung) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Volksfront, die die vorwärtstreibende Kraft des Generalstreik ins Bündnis mit der radikalen Partei kanalisierte, bis zum Wiederaufbau des bürgerlichen Staats 1944-45 (unter dem Hirtenstab De Gaulles, mit der Entwaffnung der Résistance) hat der Bezug auf die Republik, identifiziert mit den Institutionen des demokratischen bürgerlichen Staats, die soziale Bewegung stets entwaffnet." (9)

Allein die Tatsache, dass in der LCR offen über eine Unterstützung des bürgerlichen Staats diskutiert wird, zeigt, dass sie in dieser Hinsicht keine Hemmschwellen mehr kennt. In diesem Zusammenhang betrachtet ist ihr Abschied von der "Diktatur des Proletariats", wie einst bei der PCF, ein eindeutiges Signal ihrer Bereitschaft, bürgerliche Regierungspartei zu werden.

Fortsetzung

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Anmerkungen

1) "Rassembler la gauche anticapitaliste" (http://www.lcr-rouge.org/appelanticap.pdf)

2) Leo Trotzki, "Das Übergangsprogramm", Essen 1997, S. 83

3) Siehe dazu: Lionel Jospin und der Trotzkismus, 23. Juni 2001 (http://www.wsws.org/de/2001/jun2001/josp-j23.shtml); OCI-Führer Lambert bestätigt Beziehungen zu Lionel Jospin, 9. November 2001 (http://www.wsws.org/de/2001/nov2001/josp-n09.shtml)

4) Edwy Plenel, Secrets de jeunesse, Èditions Stock 2001, p. 21-22

5) W.I. Lenin, "Staat und Revolution", August 1917

6) "Le pouvoir des travailleuses et travailleurs", Rouge 2043 11/12/2003

7) "Et la dictature du prolétariat ? », Rouge 2040 20/11/2003

8) Christian Picquet, "La République dans la tourmente. Essai pour une gauche à gauche », Syllepse 2003

9) Pierre-François Grond und François Sabado, "Révolution et République », Rouge 2051 12/02/2004

Siehe auch:
Teil 1 - Das Wahlbündnis von LO und LCR
(6. April 2004)
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