Perspektive

75 Jahre seit dem Mord an Leo Trotzki

Am 21. August 1940 erlag Leo Trotzki den Verletzungen, die ihm am Vortag ein Agent der sowjetischen Geheimpolizei GPU zugefügt hatte. Hintergrund des Mords war eine Welle der politischen Reaktion, wie sie die Geschichte noch nie gesehen hatte. In Deutschland, Italien und Spanien herrschte der Faschismus. Ein knappes Jahr zuvor, am 1. September 1939, hatte – wenige Tage nach der Unterzeichnung des Stalin-Hitler-Pakts – mit dem Einmarsch Nazideutschlands in Polen der Zweite Weltkrieg begonnen, der Abermillionen Menschen das Leben kosten sollte. Dieser gewaltsame Ausbruch imperialistischer Bestialität wurde möglich, weil die sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien in den Jahren vor Kriegsbeginn die revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse bewusst sabotiert hatten.

Mit dem Mord an dem größten und letzten überlebenden Führer der Oktoberrevolution von 1917 vollendete das stalinistische Regime die Vernichtung der heroischen Generation von sozialistischen Arbeitern und Intellektuellen, die der bolschewistischen Revolution zum Sieg verholfen, die Sowjetunion als ersten Arbeiterstaat der Geschichte ins Leben gerufen und den Sturz von Kapitalismus und Imperialismus als realistische strategische Aufgabe vor die internationale Arbeiterklasse gestellt hatten.

Zu dem Zeitpunkt, als Trotzki ermordet wurde, waren in der UdSSR bereits Tausende Revolutionäre der bürokratischen Terrorherrschaft Stalins zum Opfer gefallen. Die Schauprozesse in Moskau, in denen 1936 bis 1938 die bedeutendsten Führer der bolschewistischen Partei zu Dutzenden in den Tod geschickt wurden, waren die öffentliche Manifestation einer viel breiter angelegten Terrorwelle. Stalins Mordfeldzug beschränkte sich nicht auf die alten Bolschewiki, die er als unmittelbare politische Bedrohung seiner Herrschaft empfand.

Ziel des stalinistischen Terrors war nicht weniger als die Vernichtung der gesamten sowjetischen Kultur, die auf die Oktoberrevolution zurückging und zutiefst von sozialistischem Internationalismus geprägt war. Schriftsteller, Musiker, Maler, Mathematiker, Biologen, Ökonomen und Ingenieure wurden verfolgt, in Lagern eingesperrt, gefoltert und hingeschlachtet. Mitglieder kommunistischer Parteien aus dem Ausland wurden auf den bloßen Verdacht hin, mit Trotzki zu sympathisieren, in Massen erschossen. Manche Parteien verloren auf diese Weise ihre gesamte Führungsspitze.

All diese ungeheuerlichen Verbrechen des stalinistischen Regimes fanden unter dem Banner des „Kampfs gegen den Trotzkismus“ statt. Die fortwährende Hetzkampagne gegen Trotzki war nicht nur auf Stalins zwanghafte Rachegelüste gegen seinen standhaften politischen Gegner zurückzuführen. Wichtiger war, dass Trotzki – aufgrund der Geschichte, die er verkörperte, und des Programms, für das er kämpfte – die bewusste, sozialistisch-internationalistische Negierung von Stalins bürokratisch-nationalistischem Regime darstellte.

In der heutigen Forschung wird oft behauptet, Trotzki habe keine Gefahr für das stalinistische Regime dargestellt. Solche abschätzigen Urteile werden durch Stalins Privatarchiv widerlegt. Obwohl Trotzki im Exil lebte und über keinerlei Machtmittel verfügte, fühlte sich Stalin von ihm verfolgt. Sein Biograf, General Dmitri Wolkogonow, berichtet, dass Stalin in seinem Arbeitszimmer praktisch alle Werke Trotzkis in einem besonderen Schrank verwahrte und sie mit zahlreichen Unterstreichungen und Kommentaren versehen hatte. Jedes Interview und jede Erklärung Trotzkis gegenüber der westlichen Presse wurde auf der Stelle übersetzt und Stalin vorgelegt. Mit folgenden Worten schildert Wolkogonow die Angst des Diktators vor Trotzki (übersetzt aus der englischen Ausgabe):

Besonders schmerzte Stalin der Gedanke, dass Trotzki nicht nur für sich selbst, sondern für alle seine schweigenden Anhänger und die Oppositionellen innerhalb der UdSSR sprach. Wenn er seine Werke las, sei es die Die stalinsche Schule der Fälschung, den Offenen Brief an die Mitglieder der bolschewistischen Partei oder Der stalinistische Thermidor, konnte der Führer vor Wut kaum an sich halten.

Für Stalin beschränkte sich die von Trotzki ausgehende Gefahr nicht auf die Opposition, die im Verborgenen innerhalb der Sowjetunion lauerte. Als größte Bedrohung der nationalistischen Politik, die der Kreml im Interesse der herrschenden Bürokratie betrieb, empfand Stalin Trotzkis Kampf für die Vierte Internationale, durch den der sozialistische Internationalismus wieder zum Programm der Arbeiterklasse aller Länder werden sollte.

Der Mord an Trotzki im August 1940 war über viele Jahre hinweg vorbereitet worden, indem die internationale trotzkistische Bewegung in Europa und den USA mit Agenten der GPU durchsetzt worden war. Anfangs versuchten die stalinistischen Agenten, die kleinen trotzkistischen Organisationen, die der Internationalen Linken Opposition (Vorläufer der Vierten Internationale) angehörten, durch das Schüren von Fraktionskämpfen und Intrigen zu lähmen.

Zu den ersten und bedeutendsten Agenten zählten die Sobolevicius-Brüder. Unter den Namen Senin und Well richteten sie in der deutschen Sektion der Linken Oppositionen großen Schaden an und behinderten ihre politische Arbeit in den beiden entscheidenden Jahren vor Hitlers Machtübernahme 1933. Nach der politischen Katastrophe in Deutschland waren Senin und Well weiterhin wesentlich an den tödlichen Operationen der GPU gegen die trotzkistische Bewegung in Europa und den USA beteiligt.

Der berüchtigtste aller GPU-Agenten war Mark Zborowski, ein Emigrant aus Polen, der die trotzkistische Bewegung in Frankreich infiltriert hatte. Mit unermüdlicher Unterstützung von Lola Dallin (die sich einmal als sein „siamesischer Zwilling“ bezeichnete) gelang es Zborowski, sich unter dem Parteinamen „Etienne“ das Vertrauen der Führung der Vierten Internationale zu erschleichen. Er wurde zum allgegenwärtigen politischen Assistenten von Leo Sedow, Trotzkis ältestem Sohn, der die Vierte Internationale in Europa leitete. Gestützt auf Informationen von Zborowski-Etienne stahl die GPU im November 1936 einen wertvollen Teil von Trotzkis Archiv, das insgeheim in einem Forschungszentrum in Paris gelagert worden war. Nach dem ersten Moskauer Prozess, in dem Trotzki und Sedow in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden waren, verlangte der Kreml von seinen Agenten dann, Mittel und Wege zu finden, diese Urteile zu vollstrecken.

Während das stalinistische Regime die Verurteilung Trotzkis zu rechtfertigen suchte, indem es ihn als Agenten des Imperialismus beschimpfte, ließen die herrschenden Eliten in den kapitalistischen Ländern keinen Zweifel daran, mit welcher Seite sie es in Stalins Krieg gegen den verfolgten Revolutionär hielten. Der Moskauer Korrespondent der New York Times, Walter Duranty, verbürgte sich in den USA für den juristisch einwandfreien Ablauf der Schauprozesse. In ihrem Bestreben, die Beziehungen zwischen der amerikanischen Kommunistische Partei und der Roosevelt-Regierung zu verbessern, bemühten sich zahllose liberale Intellektuelle unter großem Aufwand, die Ermordung der alten Bolschewiki in Moskau zu rechtfertigen und den absurden Anschuldigungen gegen Trotzki Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Als im August 1936 der erste Prozess begann, lebte Trotzki als Exilant im „demokratischen“ Norwegen. Die sozialdemokratische Regierung dieses Landes hinderte ihn daran, die Lügen der Justiz zu entlarven, weil sie es sich auf keinen Fall mit Stalin verderben wollte. Trotzki und seine Frau, Natalja Sedowa, wurden unter Hausarrest gestellt und durften weder zur Presse noch zu ihren eigenen Anhängern Kontakt aufnehmen. Selbst der Austausch mit seinen engsten politischen Mitarbeitern wurde Trotzki verwehrt. Eine Zeitlang spielte die sozialdemokratische Regierung Norwegens sogar mit dem Gedanken, Trotzki an die Sowjetunion auszuliefern. Schließlich ließ sich die linksnationalistische Regierung unter Lazar Cárdenas in Mexiko mithilfe des großen Malers Diego Rivera davon überzeugen, Trotzki Asyl zu gewähren. Und so gelangte der alternde, aber nach wie vor energiegeladene Revolutionär im Januar 1937 nach Mexiko.

Sofort begann er, einen groß angelegten „Gegenprozess“ vorzubereiten. Auf diese Weise sollten nicht nur Stalins Vorwürfe widerlegt, sondern auch der verbrecherische Charakter des Gerichtsverfahrens entlarvt werden. In einer auf Film aufgezeichneten öffentlichen Erklärung gegen den Prozess erklärte Trotzki:

Stalins Prozess gegen mich beruht auf falschen Geständnissen, die im Interesse der herrschenden Clique mit den Methoden der modernen Inquisition erzwungen wurden. Es gibt in der Geschichte hinsichtlich Absicht und Ausführung keine schlimmeren Verbrechen als die Moskauer Prozesse gegen Sinowjew-Kamenew und Pjatakow-Radek. Diese Prozesse folgen nicht aus dem Kommunismus, nicht aus dem Sozialismus, sondern aus dem Stalinismus, d. h. dem verantwortungslosen Despotismus der Bürokratie über das Volk!

Worin besteht jetzt meine Hauptaufgabe? Darin, die Wahrheit aufzudecken. Zu zeigen und nachzuweisen, dass sich die wirklichen Verbrecher unter dem Mantel der Ankläger verbergen.

Auf Trotzkis Aufruf hin wurde eine internationale Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des berühmten amerikanischen Philosophen John Dewey einberufen. Im April 1937 begaben sich die Kommissionsmitglieder nach Mexiko und befragten Trotzki in öffentlichen Anhörungen zu allen Aspekten seiner politischen Grundsätze, Ideen und Aktivitäten. Elf Tage lang stand er ihnen Rede und Antwort. Anschließend kehrten die Kommissionsmitglieder in die USA zurück und prüften die Aussagen und Beweismittel, um im Dezember 1937 ihr Urteil bekanntzugeben. Sie befanden Trotzki für nicht schuldig und verurteilten die Vorgänge in Moskau als Schauprozesse.

Auf diese Entlarvung der Moskauer Prozesse reagierte das stalinistische Regime mit verstärkten Angriffen auf die Vierte Internationale. Im Juli 1937 wurde der deutsche Trotzkist Erwin Wolf, einer der fähigsten Sekretäre Trotzkis, während politischer Aktivitäten in Spanien entführt. Er wurde gefoltert und ermordet. Im September 1937 wurde Ignaz Reiss, der sich von der GPU losgesagt, gegen Stalin ausgesprochen und seine Unterstützung für die Vierte Internationale erklärt hatte, von der stalinistischen Geheimpolizei in der Schweiz gefasst und ermordet. Die Umstände des Mords an Reiss legten den Verdacht nahe, dass er von einem Agenten verraten worden war, den die GPU ins Zentrum der Vierten Internationale in Paris eingeschleust hatte. Der Hauptverdacht fiel auf Mark Zborowski-Etienne. Mit Hilfe von Lola Dallin, die sich und Zborowski in regelmäßigen Briefen an Natalja Sedowa in Mexiko als selbstlose Genossen und Helfer Leo Sedows darstellte, wurden die Ankläger des GPU-Agenten jedoch in die Defensive gedrängt.

Im Januar 1938 erkrankte Sedow plötzlich, scheinbar an einer normalen Blinddarmentzündung. Er wurde in die Clinic Mirabeau gebracht, die Lola Dallin für ihn ausgesucht hatte. Dieses Krankenhaus war als Hort antibolschewistischer russischer Emigranten und GPU-Agenten bekannt. Zborowski informierte die GPU über Sedows Erkrankung und Aufenthaltsort. Im Anschluss an eine Routineoperation schien sich Sedow zunächst gut zu erholen. Doch plötzlich verschlechterte sich sein Zustand, er fiel in ein Delirium und starb unter großen Schmerzen. Die körperlichen Ursachen für Sedows Tod wurden nie genau ermittelt. Die verfügbaren Anhaltspunkte lassen auf eine akute Bauchfellentzündung schließen, die entweder durch bewusstes ärztliches Fehlverhalten oder durch eine Vergiftung ausgelöst wurde. Doch wenn auch die Mittel, mit denen Sedows Tod herbeigeführt wurde, bis heute nicht bekannt sind, besteht doch kein Grund, an den Worten des alten Trotzkisten Georges Vereeken (1896-1978) zu zweifeln, „dass Trotzkis Sohn den Mördern der GPU durch Zborowski ausgehändigt wurde“.

Nach dem Mord an Leo Sedow übermittelten Zborowski und Dallin den trauernden Eltern eine einfühlsame Beileidsbekundung. Dennoch nahm der Verdacht gegen die beiden zu, und Trotzki bemühte sich, eine Untersuchungskommission einzuberufen. Ein Aufruf Trotzkis zur Bildung einer solchen Kommission soll sich im Besitz des Sekretärs der Vierten Internationale, Rudolf Klement, befunden haben, als er im Juli 1938, nur sechs Wochen vor dem geplanten Gründungskongress der Vierten Internationale, plötzlich aus seiner Pariser Wohnung verschwand. Nach einiger Zeit wurde Klements enthauptete Leiche aus der Seine gezogen. Innerhalb von nur einem Jahr waren vier führende Vertreter der Vierten Internationale ermordet worden. Jedesmal konnten die Killerkommandos der GPU auf Informationen von Zborowski-Etienne zurückgreifen. Und nachdem sowohl Sedow als auch Klement tot waren, nahm Zborowski als offizieller russischer Delegierter am Gründungskongress der Vierten Internationale teil.

Während die GPU seine engsten Mitarbeiter und Anhänger umbrachte, trieb sie zugleich die Vorbereitungen auf den Mord an Trotzki selbst voran. Im Bestreben, Informationen über Trotzki zu sammeln und in sein Umfeld einzudringen, gelang es der GPU 1938, eine Agentin in das Hauptquartier der Socialist Workers Party (SWP) in New York einzuschleusen. Es handelte sich um ein junges Mitglied der Kommunistischen Partei namens Sylvia Franklin. Sie war mit einem stalinistischen Agenten namens Zalmond Franklin verheiratet. Louis Budenz – der Herausgeber der stalinistischen Zeitung Daily Worker, der ebenfalls intensiv an antitrotzkistischer Spionage mitwirkte – stellte Franklin einem der höchsten GPU-Beamten in den USA vor, Gregory Rabinowitz (alias „John“), der sie für den Auftrag auswählte. Sie nahm den Parteinamen Sylvia Caldwell an und wurde nach kurzer Zeit die persönliche Sekretärin des nationalen Sekretärs der SWP, James P. Cannon. In dieser Position hatte sie Zugang zu der gesamten Kommunikation zwischen Cannon und Trotzki. Systematisch kopierte sie Unterlagen aus Cannons Büro und händigte sie an die GPU aus.

Ein weiterer wichtiger Schritt in der Verschwörung gegen Trotzki bestand darin, dass Budenz, wieder in Abstimmung mit Rabinowitz, nach allen Regeln der Kunst die Freundschaft zwischen Ruby Weill, einem Mitglied der Kommunistischen Partei, und ihrer alten Bekannten Sylvia Ageloff, die sich der trotzkistischen Bewegung angeschlossen hatte, neu belebte. Im Jahr 1938 reiste Weill gemeinsam mit Ageloff nach Europa und machte sie dort mit Ramon Mercader alias „Frank Jacson“ bekannt – dem späteren Mörder Trotzkis.

Auch in Trotzkis Villa in Coyoacan schleuste die GPU Agenten ein. Viele Jahre später, im Mai 1956, erklärte ein amerikanischer Ex-Agent der GPU namens Thomas L. Black vor einem Untersuchungsausschuss des US-Senats über Sowjetspionage, dass er von Rabinowitz beauftragt worden war, an der Verschwörung gegen Trotzki mitzuwirken. Seine Aussage vor dem Senatsausschuss lautete:

Ich sollte zunächst nach Coyoacan gehen, wo ich in Trotzkis Haushalt weitere Sowjetagenten antreffen würde, und ich fragte ihn, wer sie wären.

Er sagte, das würde ich zu gegebener Zeit schon merken.

Black wurde gefragt, ob er gewusst habe, um welche Art von Auftrag es sich handelte. Er antwortete: „Es ging um den Mord an Trotzki.“

Am Ende musste Black nicht nach Mexiko reisen und sich nicht an diesem Mord beteiligen. Doch in Coyoacan befanden sich bereits Agenten vor Ort, und wie sich später herausstellen sollte, wurde im Frühjahr 1940 mindestens ein weiterer in der SWP aktiver amerikanischer GPU-Agent von New York aus nach Mexiko geschickt, um an den geheimen Mordplänen mitzuwirken.

Die Bestrebungen der Stalinisten, ihn umzubringen und die Vierte Internationale zu zerstören, waren Trotzki bekannt und alles andere als gleichgültig. Im November 1937 verfasste er einen „Offenen Brief an alle Arbeiterorganisationen“:

Niemals zuvor hatte die Arbeiterbewegung in ihren eigenen Reihen einen so hinterhältigen, gefährlichen, mächtigen und skrupellosen Feind wie Stalins Clique und ihre internationalen Agenten. Nachlässigkeit im Kampf gegen diesen Feind ist gleichbedeutend mit Verrat. Nur Windbeutel und Dilettanten, nicht aber ernsthafte Revolutionäre bringen es fertig, sich auf hilflose Ausbrüche von Empörung zu beschränken. Man braucht einen Plan und eine Organisation. Es ist dringend notwendig, spezielle Kommissionen zu bilden, die die Manöver, Intrigen und Verbrechen der Stalinisten beobachten, die Arbeiterorganisationen vor den drohenden Gefahren warnen und die geeignetsten Methoden entwickeln, die Gangster aus Moskau abzuwehren und ihnen Widerstand zu leisten.

Dieser Absatz widerlegt die von der SWP nach dem Mord verbreitete absurde Lüge, dass Trotzki Diskussionen oder gar Gegenmaßnahmen gegen die Bedrohung der Vierten Internationale durch die GPU mit Nachdruck abgelehnt hätte. Die geschichtlichen Dokumente beweisen, dass Trotzki aktiv bemüht war, die Machenschaften der GPU zu entlarven und zu unterbinden. Doch die Agenten, die bereits in die Vierten Internationale eingedrungen waren, hinderten ihn daran.

Ende 1938 sagte sich Alexander Orlow, der eine hohe Stellung in der GPU innegehabt hatte, von der Sowjetunion los. Er kannte die Operationen, mit denen die GPU Mordanschläge gegen die Vierte Internationale vorbereitete, in allen Einzelheiten. Aus bis heute ungeklärten Beweggründen ließ Orlow Trotzki eine geheime Botschaft zukommen, in der er einen gewissen „Mark“ als Agenten der GPU identifizierte. Zwar wusste er den Nachnamen nicht, doch es handelte sich eindeutig um Zborowski-Etienne. Trotzki, der Orlow nicht kannte, versuchte sofort, Verbindung zu dem fremden Verfasser aufzunehmen. Aus nach wie vor unklaren Gründen gelang es ihm nicht.

Mehrere Monate später übermittelte Orlow eine zweite, weitaus genauere Beschreibung des Agenten in Paris. Außerdem warnte er Trotzki in diesem Brief vor einer weiblichen GPU-Agentin, die nach Mexiko kommen werde, um ihn zu vergiften. Kurz darauf, im Sommer 1939, traf Lola Dallin in Mexiko ein. Trotzki konfrontierte sie mit dem Brief. Vor einem Unterausschuss des Senats behauptete Dallin später, sie habe Trotzki davon überzeugt, dass es sich um eine Fälschung der GPU handelte. Sie habe ihm gesagt: „Siehst du, wie sie vorgehen? Sie wollen dich dazu bringen, mit den einzigen Menschen zu brechen, die noch in Frankreich sind, mit den Russen, sagen wir in Frankreich, in Paris.“ Obwohl Dallin die Warnung als unglaubwürdig hinstellte, versuchte Trotzki ein weiteres Mal, Verbindung zu dem anonymen Absender aufzunehmen, doch auch diesmal vergeblich.

Dallin ihrerseits warnte Zborowski nach ihrer Rückkehr nach Paris sofort, dass Trotzki diese Botschaften erhalten hatte. Trotzkis Vorschlag, dass seine Anhänger in Paris Zborowski heimlich folgen sollten, war nach dieser Information nicht mehr praktikabel.

In den frühen Morgenstunden des 24. Mai 1940 verschaffte sich ein mit Maschinengewehren bewaffnetes Überfallkommando unter der Führung eines fanatischen Stalinisten, des Malers David Alfaro Siqueiros, Zugang zu dem Grundstück von Trotzkis Villa in der Avenida Viena. Die Angreifer mussten weder über die Mauern klettern noch das Tor aufsprengen. Sie wurden hereingelassen von Robert Sheldon Harte, einem 25-jährigen Stalinisten aus New York City, der Mitglied der SWP geworden war. Mit der für sie typischen Gleichgültigkeit gegenüber Sicherheitsfragen hatte die SWP-Führung Harte in Trotzkis Wachmannschaft entsandt, obwohl ihr sein persönlicher und politischer Hintergrund durchaus bekannt war.

Auf wundersame Weise überlebten Trotzki und Natalja, indem sie sich vor dem Maschinengewehrfeuer, mit dem die Angreifer ihr Schlafzimmer überzogen, unter dem Bett versteckten. Nun war klar, dass Trotzkis Wachmannschaft nicht im Geringsten für solche Anschläge gewappnet war. Nachdem das Überfallkommando im Glauben, seinen Auftrag erfüllt zu haben, wieder aus der Villa abgezogen war, trat ausgerechnet Trotzki als Erster nach draußen. Er musste seine Wachmänner suchen. Keiner von ihnen hatte von der Waffe Gebrauch gemacht. Die wenigen, die sich zu wehren versuchten, versagten kläglich, weil ihre Maschinengewehre klemmten – offenbar verwendeten sie die falsche Munition.

Praktisch sofort wurden begründete Zweifel an der Rolle von Sheldon Harte laut. Er war zusammen mit dem Überfallkommando aus der Villa verschwunden, und dies nach Berichten von Augenzeugen offenbar aus freien Stücken. In Hartes New Yorker Wohnung fand man ein Stalinporträt. Ein Wörterbuch in seinem Besitz war von Siqueiros signiert. Einige Wochen nach dem Überfall wurde Hartes Leiche gefunden. Er war von Mitgliedern der Siqueiros-Bande hingerichtet worden. Trotzki ließ damals die Anschuldigungen gegen Harte nicht gelten. Doch Hartes merkwürdiges und höchst verdächtiges Verhalten hielt ihn zugleich davon ab, den Toten kategorisch für unschuldig zu erklären. Trotzki schloss nicht aus, dass Harte an dem Anschlag auf sein Leben beteiligt gewesen sein könnte. Aus Unterlagen, die nach der Auflösung der Sowjetunion entdeckt wurden, geht nun unwiderlegbar hervor, dass Harte tatsächlich ein stalinistischer Agent war. Er wurde ermordet, weil Siqueiros nicht sicher war, ob er über die Organisation und Ausführung des Überfalls wirklich Stillschweigen bewahren würde.

In den letzten Wochen seines Lebens konzentrierte Trotzki seine enorme Tatkraft ganz auf die Entlarvung des stalinistischen Mordapparats. In Bezug auf den Anschlag vom 24. Mai verfasste er zwei wesentliche Dokumente: „Stalin trachtet nach meinem Leben“ vom 8. Juni 1940 und „Die Komintern und die GPU“, abgeschlossen am 17. August 1940, nur drei Tage vor seiner Ermordung.

Am 20. August 1940, kurz nach fünf Uhr nachmittags, traf unangemeldet Frank Jacson an der Villa in der Avenida Viena ein. Nach Jacsons letztem Besuch am 17. August hatte sich Trotzki über sein merkwürdiges Verhalten beschwert. Er hatte Zweifel geäußert, ob Jacson wirklich Franzose war, wie er behauptete. Abgesehen von seiner Beziehung mit Sylvia Ageloff waren die Gründe für sein Interesse an der Vierten Internationale völlig unbekannt und nicht nachzuvollziehen.

Unter Missachtung von Trotzkis Bedenken wurde Jacson dennoch Zutritt auf das Grundstück gewährt. Obwohl es ein warmer, sonniger Tag war, trug er einen Regenmantel, unter dem er einen Eispickel, eine automatische Schusswaffe und einen großen Dolch verbarg. Entgegen den elementarsten Sicherheitsvorkehrungen wurde Jacson gestattet, Trotzki allein in sein Arbeitszimmer zu begleiten. Minuten später, als Trotzki einen von Jacson verfassten Artikel durchlas, schlug der Mörder ihn von hinten mit dem Eispickel nieder. Jacson hatte erwartet, dass Trotzki nach dem Schlag auf den Kopf sofort das Bewusstsein verlieren würde. Doch Trotzki stieß einen Schrei aus, stand von seinem Stuhl auf und griff seinen Mörder an. Dann stürzten Wachmänner ins Arbeitszimmer herein und entwaffneten Jacson.

Im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus verlor Trotzki das Bewusstsein. 26 Stunden nach dem Angriff, am 21. August 1940, starb er. Zwei Monate später wäre er 61 Jahre alt geworden.

Der Mord an Trotzki war ein fürchterlicher Schlag für die internationale Arbeiterklasse. Wenn irgendein Mensch als unentbehrlich für die Sache des Sozialismus bezeichnet werden kann, dann Trotzki. Niemand sonst verkörperte eine so umfassende und tiefe politische Erfahrung. Abgesehen von vielleicht Lenin gab es keine andere Gestalt, die in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts eine so monumentale Rolle gespielt hatte. Darüber hinaus ist Trotzki auch 75 Jahre nach seinem Tod noch von herausragender zeitgenössischer Bedeutung. Er ist noch nicht ganz in die Geschichte eingegangen. Er ist ebenso ein Mann der Gegenwart wie der Vergangenheit. Die Schriften Trotzkis, seine theoretischen und politischen Ideen und sein revolutionärer Internationalismus treffen den Kern der Probleme unserer heutigen Welt, und darin liegt ihre Kraft. Aus Trotzkis Stimme sprechen die unvollendeten revolutionären Aufgaben, die das 20. Jahrhundert dem 21. überlassen hat.

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