Belarus: EU fordert Einbindung der Oppositionsparteien ins Regime

Am Mittwoch trafen sich die Regierungschefs des Europäischen Rates per Videoschaltung zu einer außerordentlichen Krisensitzung, um die politische Krise in Belarus zu diskutieren. Nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl am 9. August und der gewaltsamen Unterdrückung von Protesten gegen Präsident Alexander Lukaschenko brachen im ganzen Land Streiks aus. Die Entstehung einer Bewegung der Arbeiterklasse in der ehemaligen Sowjetrepublik hat nicht nur das Lukaschenko-Regime und die von der EU unterstützte Opposition in Belarus erschüttert, sondern auch die EU selbst.

Bei einer Pressekonferenz nach dem Treffen des Europäischen Rates erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen in einer kurzen Rede, die EU sei „beeindruckt vom Mut des belarussischen Volkes“. Weiter erklärte sie, die EU erkenne das Wahlergebnis nicht an und der Europäische Rat habe beschlossen, „drei klare Botschaften“ zu senden.

Sie versprach Gelder in Höhe von 53 Millionen Euro, um die Menschen in Belarus zu unterstützen, die „Grundfreiheiten und Demokratie“ forderten. Weiter sagte von der Leyen medizinische Hilfe für die Corona-Pandemie in Höhe von 50 Millionen Euro zu. Daneben kündigte sie Finanzsanktionen gegen die Verantwortlichen für „Gewalt, Unterdrückung und die Fälschung der Wahlergebnisse“ an sowie Initiativen für einen „friedlichen demokratischen Machtwechsel“. Sie erklärte, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) solle bei der Kontrolle dieses Übergangs helfen: „Wir unterstützen die Aufnahme eines Dialogs zwischen den Behörden und der Opposition.“

Von der Leyen gab sich außerdem große Mühe zu betonen, dass die EU – zumindest im Moment – bezüglich Belarus mit Moskau zusammenarbeiten will. Sie erklärte: „Schließlich richten sich die Demonstrationen in Belarus nicht gegen ein Nachbarland oder eine Nachbarorganisation. … Nur ein inklusiver Dialog kann zu Lösungen führen.“

Eine Klassengraben trennt die EU von den Arbeitern, die gegen das Lukaschenko-Regime, dessen brutale Bereitschaftspolizei und dessen mörderische Politik der „Herdenimmunität“ gegen die Corona-Pandemie kämpfen. Die unerwartete Bedrohung von unten schreckt die EU-Regierungschefs zumindest momentan von einem direkten Versuch ab, einen Regimewechsel wie den von der NATO unterstützten Putsch in der Ukraine 2014 zu versuchen. Damals führte ein von faschistischen Kräften angeführter Angriff auf das von Russland unterstützte Regime in Kiew zu einem Regimewechsel, der Einsetzung eines rechtsextremen Regimes und zum Ausbruch eines Bürgerkriegs in der Ukraine.

Stattdessen versucht die EU, dem belarussischen Regime ein neues öffentliches Gesicht zu geben. Zu diesem Zweck will sie die Oppositionsparteien einbinden, die Lukaschenkos Herausforderin Swetlana Tichanowskaja unterstützt haben.

Wut über Lukaschenkos Regime und die Unterdrückung der Proteste hat die Arbeiter der belarussischen Auto- und Traktorenfabriken, Kalisalzbergwerke, Chemiewerke, Krankenhäuser und der Minsker Verkehrsbetriebe in den Streik getrieben. Am Mittwoch bestätigte das belarussische Gesundheitsministerium den Tod des 43-jährigen Demonstranten Gennadi Schutow, dem während einer Protestveranstaltung gegen das Wahlergebnis von einem Polizisten mit scharfer Munition in den Kopf geschossen wurde. Zwei weitere Opfer der belarussischen Polizei wurden ebenfalls identifiziert: Alexander Wichot (25) und Alexander Taraikowski (34).

Die Erhebung der Arbeiterklasse ist jedoch nur der Anfang. Die EU will die Tatsache ausnutzen, dass ihre Forderungen weitgehend von den vagen demokratischen Parolen und dem Aufruf zum Sturz Lukaschenkos dominiert waren, die von Tichanowskajas Lager geliefert wurden. Unter dem Deckmantel dieser Parolen versucht die EU, Tichanowskajas Opposition als Falle für die Bewegung zu benutzen und sie in die Sackgasse der Unterstützung für rivalisierende Fraktionen des Lukaschenko-Regimes zu führen. Sie kann ohne Weiteres zustimmen, Lukaschenko durch Funktionäre auszutauschen, die der EU aufgeschlossener gegenüberstehen als den außenpolitischen Interessen Russlands.

Was die EU jedoch nicht tolerieren kann, ist Widerstand der Arbeiter gegen Polizeiunterdrückung, Armutslöhne und die verpfuschte Reaktion auf die Pandemie. Sie selbst betreibt die gleiche bankrotte Politik und fürchtet den Widerstand der Arbeiterklasse in Europa, der sich seit 2018 in Massenprotesten wie der französischen Gelbwesten-Bewegung, den Streik der portugiesischen Pflegekräfte, der über die sozialen Medien organisiert wurde, und den landesweiten Lehrerstreik in Polen letztes Jahr geäußert hat. Die EU ist entschlossen, die Arbeiterklasse zu spalten und zu verhindern, dass sich der Widerstand der Arbeiter in Belarus mit den weltweit auflebenden Klassenkämpfen vereint.

Die EU, die den Großteil ihrer Hilfsgelder für medizinische Hilfsgüter im Kampf gegen die Pandemie vorgesehen hat, ist sich der sozialen Ursachen der Wut der Arbeiter durchaus bewusst. Doch die Summe von 50 Millionen Euro für den Kampf gegen die Pandemie ist verschwindend gering im Vergleich zu den zwei Billionen Euro, die sie für Banken- und Konzernrettungen zu Gunsten der Finanzaristokratie ausgibt. Dieses Missverhältnis zeigt, dass sie nicht ernsthaft die Absicht hat, beim Kampf gegen das Virus zu helfen oder die Bedingungen in Belarus zu verbessern. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, den Polizeistaatsapparat zu erhalten und gleichzeitig ihren eigenen politischen und strategischen Einfluss in Belarus auszuweiten.

Die wichtigste Aufgabe für die Arbeiter in Belarus besteht darin, einen politischen Kampf sowohl gegen das Lukaschenko-Regime als auch gegen die von der EU unterstützte Opposition zu führen.

Lukaschenko ist ein korrupter Machthaber, der aus der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie 1991 und dem ökonomischen Zerfall in Folge der Plünderung von Staatseigentum hervorgegangen ist. Er beherrscht ein brutales, kleptokratisches kapitalistisches Regime, das den poststalinistischen Regierungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, einschließlich dem Regime von Wladimir Putin in Russland ähnelt.

Die Oppositionsparteien repräsentieren jedoch lediglich unterschiedliche Fraktionen des gleichen korrupten politischen Establishments und sind von ihren engen Beziehungen zu den EU-Mächten abhängig. Tichanowskaja war kurz nach der Wahl nach Litauen geflohen und arbeitet dort unter dem Schutz der EU und der NATO. Kurz vor Beginn des Gipfeltreffens des EU-Rats am Mittwoch hatte sie die EU aufgerufen, das Wahlergebnis vom 9. August nicht anzuerkennen, sondern das, wie sie sagte, „Erwachen von Belarus“ zu unterstützen.

Die Opposition stellte außerdem einen „Koordinationsrat“ vor, der größtenteils aus Künstlern, Intellektuellen und rechten Parteien besteht und die Macht von Lukaschenko übernehmen sollte. In dessen Präsidium sitzen Maria Kolesnikowa, die Wahlkampfmanagerin des Bankers Wiktor Babariko; Olga Kowalkowa, Vorsitzende der Belarussischen Christdemokraten; der ehemalige belarussische Kultusminister Pawel Latuschko und die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

Lukaschenko verurteilte die Bildung des Koordinationsrates als Versuch, die Macht zu übernehmen. Bei einem Treffen des belarussischen Sicherheitsrates am Mittwoch kündigte er die Mobilisierung des Militärs an der Westgrenze an; Berichten zufolge hat er gegenüber dem Sicherheitsrat mehrfach erklärt, die Proteste seien „nicht spontan“ und die Lage werde weiter eskalieren. Danach telefonierte er mit Putin.

Das belarussische Verteidigungsministerium hat Attachés aus Deutschland, Großbritannien, Litauen, Polen und der Ukraine eingeladen, um sie vor geplanten Reaktionen auf „Bedrohungen der nationalen Sicherheit von Belarus“ zu warnen.

Offenbar um die zunehmenden militärischen Spannungen zu entschärfen, diskutierte US-Verteidigungsminister Mark Esper mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Schoigu telefonisch über „vertrauensbildende Maßnahmen und Transparenz, um Zwischenfälle bei den militärischen Aktivitäten aller Parteien zu vermeiden.“

Trotz der explosiven Wut über die Unterdrückung der Proteste gegen die Wahl plant Lukaschenko, die Streikenden zu unterdrücken. Am Mittwochabend wurde gemeldet, die Polizei-Spezialeinheit OMON habe eine Razzia im Minsker Traktorenwerk durchgeführt und Streikende vor dem Werk verhaftet. Im Stahlwerk Schlobin und dem Chemiewerk Grodno-Azot gehen die Streiks weiter, die Arbeiter des Kalisalzwerkes Belaruskali sollen jedoch größtenteils wieder an die Arbeit zurückgekehrt sein.

Aus mehreren Betrieben berichten Arbeiter, dass die Arbeitgeber allen, die nicht an die Arbeit zurückkehren, mit Entlassung drohen. Andrej, ein Arbeiter des Belaruskali-Werks, erklärte gegenüber dem Spiegel: „Auch unsere Vorarbeiter wurden bereits einbestellt, ihnen wurde gesagt, sie sollen die Leute beruhigen, sonst würden Maßnahmen ergriffen.“

Der Kampf zwischen dem belarussischen Regime und der Arbeiterklasse beginnt erst. Die offizielle, von der EU unterstützte Opposition ist ein genauso entschlossener Gegner der Arbeiter wie Lukaschenko. Die Arbeiterklasse wird sich die für einen Kampf gegen die Pandemie und die ausufernde Gewalt von Militär und Polizei notwendigen Ressourcen nur sichern können, wenn sie einen direkten Kampf um die Macht im Rahmen des internationalen Kampfs für den Sozialismus führt. Dies erfordert einen politischen Kampf gegen das gesamte kapitalistische Regime, das aus der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion hervorgegangen ist, und eine Hinwendung zur marxistisch-internationalistischen Opposition der trotzkistischen Bewegung gegen den Stalinismus.

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