Am Donnerstag wurde Alexei Nawalny, Führer der prowestlichen Opposition in Russland, in ein Krankenhaus eingeliefert. Berichten zufolge befand er sich an Bord eines Flugzeugs vom sibirischen Tomsk nach Moskau, als er plötzlich erkrankte. Nach einer Notlandung wurde er in Tomsk in ein Krankenhaus gebracht.
Die behandelnden Ärzte haben bisher keine Diagnose gestellt. Seine Anhänger sowie seine Familie behaupten jedoch, er sei in Tomsk durch eine Tasse Tee vergiftet worden. Bis zum Freitagvormittag befand sich Nawalny in kritischem, aber stabilem Zustand. Er wurde an ein Beatmungsgerät angeschlossen und liegt im Koma. Es ist unklar, ob das Koma durch seinen Gesundheitszustand verursacht oder künstlich herbeigeführt wurde.
Laut russischen Medien sind mehrere Angehörige des Geheimdienstes FSB und der Staatsanwaltschaft vor seinem Zimmer postiert. Seine Sprecherin Kira Jarmysch, die ihn auf seiner Reise begleitete, sagte, er habe an diesem Tag nur eine Tasse Tee am Flughafen getrunken. Sie sei „überzeugt“, dass der Tee vergiftet war.
Nawalnys persönlicher Arzt und seine Familie haben von Anfang an erklärt, sie wollten ihn in ein Krankenhaus im europäischen Ausland verlegen. Der Kreml hat seine Hilfe bei der Verlegung angeboten.
Nur wenige Stunden, nachdem Nawalnys Einweisung ins Krankenhaus bekannt wurde, bot der französische Präsident Emmanuel Macron ihm medizinische Hilfe und politisches Asyl an. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, sie sei „zutiefst erschüttert“ über die Meldung. Laut dem Spiegel ist bereits am Donnerstagabend ein deutsches Flugzeug von Berlin nach Russland gestartet, um Nawalny in ein deutsches Krankenhaus zu bringen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte auf Twitter: „Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Obwohl noch nicht einmal bestätigt wurde, dass es sich tatsächlich um eine Vergiftung handelt, stellte Masha Gessen, eine führende Persönlichkeit der Anti-Putin-Kampagne in den USA, im New Yorker die Frage: „Warum kommt der Mordanschlag auf Nawalny jetzt?“ Sie erklärte, der Täter war entweder ein „übereifriger, selbst ernannter Rächer des Kreml, der ohne ausdrückliche Anweisung gehandelt hat“, oder der Kreml versuche aus Furcht vor den Protesten in Belarus, sich durch die Ermordung des „mutmaßlichen Anführers eines kommenden Aufstandes“ zu schützen.
Nawalny wird zwar von den westlichen Medien als Verteidiger der „Demokratie“ gegen das Putin-Regime dargestellt, in Wirklichkeit ist er jedoch ein rechter Politiker, der enge Beziehungen zu den USA, Teilen der russischen Elite und der extremen Rechten des Landes unterhält. Im Jahr 2010 nahm er am „World Fellowship“-Programm der Universität Yale teil, an dem auch mehrere Schlüsselfiguren der Orangenen Revolution von 2004 in der Ukraine und dem prowestlichen Putsch in Kiew 2014 teilgenommen haben. Er hat mehrfach an Demonstrationen russischer Rechtsextremer teilgenommen.
Nawalny hat zudem nachweislich Beziehungen zu Teilen der Oligarchie, zum Kreml und zum Staatsapparat. In einem Kommentar der Nesawissimaja Gaseta heißt es: „Nawalny ist nicht generell unbequem für den Kreml, sondern nur für einzelne Personen.“ In dem Artikel wird darauf hingewiesen, dass viele seiner Enthüllungen über Korruption, Verbrechen und persönliche Bereicherung von Politikern und Funktionären wie die Akten wirkten, die der russische Geheimdienst über reale und potenzielle Gegner anfertigt. Es ist also möglich, dass sie ihm aus dem Staatsapparat zugespielt wurden.
Nawalnys Krankenhausaufenthalt fällt mit der eskalierenden Krise in Belarus zusammen, wo Proteste und Massenstreiks das Lukaschenko-Regime erschüttern. Die Bewegung hat in der europäischen und russischen Bourgeoisie Beunruhigung ausgelöst, dass die Streiks außer Kontrolle geraten und auf andere Länder übergreifen könnten. Gleichzeitig hat die Krise die geopolitischen Spannungen in einer Region erhöht, die sich zum wichtigsten Aufmarschgebiet der Kriegsvorbereitungen der Nato gegen Russland entwickelt hat.
Die EU stellte sich am Mittwoch bei einem außerordentlichen Gipfel auf die Seite der Opposition gegen Lukaschenko und forderte seine Regierung auf, mit ihren Gegnern zu verhandeln. Allerdings hat Lukaschenko mehrere Verhandlungsangebote der Opposition abgelehnt. Am Donnerstag leitete er Ermittlungen gegen den Koordinationsrat der Opposition ein, dem er vorwarf, die „Macht an sich reißen“ zu wollen.
Nawalny ist bekannt für seine Unterstützung der Opposition in Belarus. Seine Berichterstattung und Publikationen konzentrierten sich in den letzten Wochen auf die dortigen Entwicklungen. Doch unabhängig davon, was Nawalny letztlich ins Krankenhaus brachte, werden sich die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten und Russland sowie die politische Krise in Russland verschärfen.
Der Kreml hat eine undurchsichtige und vorsichtige Haltung zu den Entwicklungen in Belarus eingenommen und verweigert Lukaschenko seine bedingungslose Unterstützung. Lukaschenkos Regierung hat lange Zeit versucht, eine Balance zwischen westlichen Imperialismus und dem Kreml zu finden, und ist vor Kurzem auf die Nato zugegangen.
Während die Streiks in Belarus eskalieren, haben Merkel und Macron telefonisch mit Präsident Putin über die Lage beraten. Die Denkfabrik Atlantic Council, die eine besonders feindselige Haltung gegenüber Russland einnimmt, veröffentlichte vor Kurzem einen Artikel von Anders Åslund. Dieser fordert die EU auf, ihr Engagement in Belarus zu verstärken und gemeinsam mit Russland als „Vermittler“ aufzutreten, um die Krise unter Kontrolle zu bringen.
Allerdings mehren sich in der russischen herrschenden Klasse die Bedenken, dass die Nato und die EU die Krise in Belarus ausnutzen könnten, um die militärische und politische Schlinge um Russland noch enger zu ziehen.
Nach dem EU-Gipfeltreffen am Mittwoch verurteilte Putins Pressesprecher Dmitri Peskow die Einmischung „ausländischer Mächte“ in die Ereignisse in Belarus. Der Kreml hat zudem die Versuche des Koordinationsrates der Opposition zurückgewiesen, Verhandlungen mit Moskau aufzunehmen.
Die Kommentare in der russischen Presse waren uneinig in ihren Einschätzungen des Koordinationsrats. Russia Today wies darauf hin, dass die Opposition sich offenbar nicht gegen Russland stellen wolle, Gazeta.ru beschrieb hingegen mehrere Mitglieder des Rates als „Russophobe“, die eine „Sezession“ Belarus' von Russland anstreben.
Gleichzeitig hat Lukaschenko sein Vorgehen gegen die Streiks verschärft. Am Dienstag mobilisierte er das Militär an der Westgrenze des Landes zur EU und zur Nato, wo es zu einigen der größten Streiks kam. Lukaschenko hat außerdem die Einsatzkräfte des Innenministeriums angewiesen, „sämtliche Unruhen“ in Minsk und anderen Städten zu unterbinden.
Streikführer und streikende Arbeiter wurden verhaftet, dutzende Menschen werden immer noch vermisst. Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und Vergewaltigungen von Gefangenen. Die Regierung versucht außerdem, die Streikenden auszuhungern, indem sie ihnen ihre mageren Gehälter vorenthält.
Es besteht kaum Zweifel daran, dass der Kreml das brutale Vorgehen des Lukaschenko-Regimes gegen Arbeiter und Jugendliche unterstützt. Die russische Oligarchie, die aus der Zerstörung der Sowjetunion durch die Stalinisten und der Wiedereinführung des Kapitalismus hervorging, ist sich bewusst, dass die Massenstreiks auf Russland übergreifen könnten.
Genau wie in Belarus hat die Corona-Pandemie auch in Russland die sozialen Spannungen auf den Siedepunkt gebracht. Russland liegt mit mehr als 942.000 bestätigten Fällen weltweit an vierter Stelle. Die Krankenhäuser stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Hunderttausende Arbeiter wurden entlassen und erhalten keinen Lohn.
Darüber hinaus ist die russische Oligarchie stark von der belarussischen Fertigungsindustrie abhängig. Mehr als 40 Prozent der Exporte Belarus‘ gehen an Russland, darunter Maschinenanlagen, aber auch zahlreiche landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel. Die Produktion für das russische Verteidigungsministerium wurde durch die Streiks in Belarus stark beeinträchtigt – aus den dortigen Fabriken stammen etwa 15 Prozent der militärischen Anschaffungen. Laut der Nesawissimaja Gaseta erwägt das Verteidigungsministerium Klagen gegen die belarussischen Unternehmen zu erheben, deren Lieferungen sich aufgrund von Streiks verzögern. Auf diese Weise soll die Regierung von Belarus zusätzlich unter Druck gesetzt werden, die Streikbewegung zu unterdrücken.